Regierungssitz La Paz Im Mai sollte sich entscheiden, wer hier ans Ruder kommt (Foto: Jonas Klünemann)
Er hatte letztendlich Glück. Das Projektil, das in seinem Kopf steckte, konnte mit einem einfachen Eingriff entfernt werden. Es hatte sich lediglich unter die Kopfhaut geschoben und wie durch ein Wunder weder Schädeldecke, noch Gehirn ernsthaft verletzt. Glück hatte Pablo auch, weil er den Eingriff durch Spenden bezahlt bekam. Seit dem Massaker in Senkata am 19. November sammeln Aktivist*innen Spenden, organisieren Solidaritätsveranstaltungen und kümmern sich um die Hinterbliebenen der gut zwei Dutzend Toten und um die rund 100 Verletzten. Unter den Opfern sind auch viele, die an diesem Tag einfach an der Raffinerie in Senkata in El Alto vorbeigingen. „Mein Cousin kam gerade von der Arbeit“, meint etwa Joel, „er wurde angeschossen und musste sich auf eigene Kosten ärztlich versorgen lassen, nachher kam die Polizei und drohte ihm mit Konsequenzen, sollte er über die Vorfälle reden.“
Die De-facto-Regierung behauptet bis heute, die Sicherheitskräfte hätten bei ihrer Operation in Senkata keinen Schuss abgefeuert. Dabei gibt es längst eine Vielzahl von Hinweisen, dass Militärs geschossen haben. Auch in der Stadt Sacaba waren Mitte November bei einer Demonstration von Kokabauern nahe der Stadt Cochabamba fünf Protestierende getötet worden, zahlreiche Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Trotz der zahlreichen Indizien verweigert sich die Regierung, die Vorfälle unabhängig aufklären zu lassen. Das Abgeordnetenhaus, in dem die Bewegung zum Sozialismus die Mehrheit hat, wollte die zuständigen Minister Arturo Murillo (Polizei) und Fernando López (Militär) zu den Vorfällen in Senkata und Sacaba befragen, die Minister sind bisher nicht erschienen, mit der Begründung, die MAS habe dort die Mehrheit.
Es ist nicht nur dieses Verhalten der Minister, das Zweifel aufkommen lässt, dass es der De-facto-Regierung von Jeanine Añez um die Wiederherstellung der Demokratie geht. Inzwischen gibt es auch mehrere hundert Verhaftungen, vor allem von MAS-Funktionär*innen. Der Vorwurf lautet fast immer: Korruption, Aufruhr oder Verschwendung öffentlicher Gelder. Viele, die sich nicht ins Ausland absetzen konnten, befinden sich in Untersuchungshaft. In Bolivien ist das gleichbedeutend mit unbefristeter Haft. Laut der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch sind über 16.000 Gefangene auf rund 5.000 Haftplätze im Land verteilt. Viele der Gefangenen sitzen Jahre in Untersuchungshaft, ohne dass sie einen Prozess bekommen. Das war auch unter der MAS-Regierung von Evo Morales so. Die Anordnung von Untersuchungshaft ist ein probates Mittel, um politische Gegner*innen auszuschalten.
Ein Sieg der MAS in der ersten Runde ist möglich
Die Umfrageergebnisse lösten bei den Gegner*innen der MAS Bestürzung aus. Luis Camacho, der Anführer der Bürgerplattform von Santa Cruz und wesentlich mitverantwortlich für den Sturz von Morales, bot nach der Veröffentlichung der Umfragen Jeanine Añez an, auf seine eigene Kandidatur zu verzichten und sich mit ihr zusammen zu schließen, damit die „Tyrannei“ nicht wiederkehre. Añez, die im November 2019 noch verkündete: „Ich habe nicht den Wunsch bei den nächsten Wahlen zu kandidieren, diese Regierung ist eine Übergangsregierung“, hatte im Januar ihre Kandidatur erklärt. Den Gegner*innen der MAS ist es zwar gelungen, Morales im November zu stürzen, die Stabilisierung der eigenen Macht danach bleibt jedoch prekär. Das liegt auch daran, dass die Rechte zum ländlichen und indigenen Teil der Bevölkerung fast keinen Zugang hat, beziehungsweise diese nicht als vollwertige Bürger*innen wahrnimmt. Das sei ein Wähler*innenpotenzial, das exklusiv der MAS vorbehalten sei, so der Soziologe Fernando Mayorga: „Die MAS ist die einzige Partei, die in den vergangenen 20 Jahren 60 Prozent der Wählerstimmen, mindestens jedoch 40 Prozent, erhalten hat.“ Lediglich eine Koalition der drei größten Oppositionsbündnisse, von Añez, Mesa und Camacho könnte den Sieg der MAS verhindern. Zwar reden die Kandidat*innen alle davon, das Land einen zu wollen, allerdings gilt es eher als unwahrscheinlich, dass es vor dem Wahltermin zu einem echten Bündnis der drei kommt.
Die Aufrufe zur Einheit können zudem den Bruch mit der indigenen Bevölkerung nicht kitten. Das zeigt sich im Verhalten der Regierung zu den Massakern in Senkata und Sacaba, bei dem es keine Versuche gibt, das Geschehene unabhängig untersuchen zu lassen. Diese Politik spielt der MAS und Evo Morales in die Hände, die sich vor den Unruhen durchaus auch in ihren Hochburgen wie El Alto vielen kritischen Stimmen gegenüber sahen.
„Evo Morales war ein Symbol indigener Bürgerlichkeit.“
Selbst der neoliberale Herausforderer von Evo Morales bei den Wahlen im Oktober 2019, Carlos Mesa, hat sich in den Augen vieler Wähler*innen diskreditiert. In einem Radiointerview wurde er von Maria Galindo, einer bekannten Feministin, ins Kreuzverhör genommen. Im Laufe des Interview kam heraus, dass es im Moment des Rücktritts von Evo Morales ein Treffen von ihm mit Luis Fernando Camacho und Vertreter*innen der brasilianischen Botschaft gab, auf dem man beschloss, die Senatorin Añez ins Präsidentenamt zu hieven. Galindo, die im Oktober noch von einem „legitimen Aufstand gegen das Regime Morales“ gesprochen hatte, sieht den Umsturz nun auch als Putsch. Als Añez ihre Kandidatur für die kommenden Wahlen ankündigte, meinte selbst Carlos Mesa, jetzt hätten diejenigen, die von einem Putsch sprachen, die „Bestätigung“ erhalten.
Die Konflikte könnten nach den Wahlen wieder aufflammen
Im Januar bezeichnete es Evo Morales in einem Interview mit Radio Coca Kawsachun als einen Fehler, während seiner Amtszeit keine „Milizen wie in Venezuela” aufgebaut zu haben, um den Prozess des Wandels zu verteidigen. Zwar distanzierte er sich später von dieser Aussage, aber es bleibt insgesamt unklar, wie die MAS mit der Spaltung im Land umgehen will, sollte sie die Wahlen gewinnen und den nächsten Präsidenten stellen. Da sich beide Seiten nicht anerkennen, ist davon auszugehen, dass die Konflikte nach den Wahlen wieder aufflammen. Das Bürgerkomitee von Santa Cruz hatte Mitte Februar bereits mit Blockaden gedroht, sollte Evo Morales als Kandidat für den Senat zu den Wahlen zugelassen werden. Morales, der sich im Exil in Argentinien befindet, wurde nicht zugelassen. Er habe keinen ständigen Wohnsitz in Bolivien, begründete der Präsident des Obersten Wahlgerichts diese Entscheidung. Sollte Luis Arce von der MAS tatsächlich gewinnen, ist davon auszugehen, dass es im östlichen Tiefland zu Protesten kommen wird, wie zu Beginn der Amtszeit von Evo Morales in den Jahren 2007/2008. Auf der anderen Seite ist es unwahrscheinlich, dass die MAS, beziehungsweise der große Teil der indigenen Bewegungen, Landarbeiter*innengewerkschaften und anderen Basisorganisationen eine Präsidentin Añez oder einen Präsidenten Mesa anerkennen würden. Añez hat zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem, da sie sich von der Übergangspräsidentin in eine Kandidatin verwandelt hat, die den gesamten Regierungsapparat für ihren Wahlkampf nutzen kann. Carlos Mesa dagegen gilt als schwach und opportunistisch.
Ob es eine wirklich unabhängige Aufklärung der Vorfälle in Senkata und Sacaba geben wird, ist daher ungewiss. Pablo, der Glück hatte, weil das Projektil nicht ins Gehirn eindrang, ist immer noch arbeitsunfähig. Für seine Tochter, die Mitte Februar geboren wurde, fehlt es am Notwendigsten, an Kleidung und Windeln. Das kann er nicht kaufen, da er kein Einkommen hat. Wie Pablo geht es vielen der Betroffenen in Senkata. Neben dem Verlust von Familienangehörigen und den Verletzungen, mussten sie auch die Beerdigungskosten oder ärztliche Behandlungen begleichen und sich mit Einnahmeausfällen aufgrund von Arbeitsunfähigkeit auseinandersetzen.