KLIMA DER ANGST

Foto: Jonas Klünemann

In der Kirche des Heiligen Franz von Assisi, im Stadtteil Senkata von El Alto, liegen auf den Bänken mehrere Leichen, eingewickelt in Decken. Darauf liegen Zettel mit den Namen und den Geburtsdaten der Toten. Dazwischen sitzen Angehörige, manche mit einem stieren Blick, andere weinen leise. In einer Ecke, neben dem einfachen Altar der Kirche, ist eine Pritsche aufgestellt, darauf ein Leichnam mit zwei Einschüssen, einem in der oberen linken Brust und einem im Gesicht. Vier Forensiker untersuchen die Leiche. Es ist Mittwoch, der 20. November, ein Tag nach dem Massaker im Stadtteil Senkata von El Alto. „Nicht alle haben ihre Toten in die Kirche gebracht“, meint Carlos, dessen Bruder am Vortag erschossen wurde, „sie trauen den Forensikern nicht. Wir haben beschlossen, uns nicht zu verstecken.“

Die De-facto-Regierung hat in kürzester Zeit ein Klima der Angst geschaffen, das dazu geführt hat, dass viele Menschen eingeschüchtert sind. In der öffentlichen Debatte, die auch die meisten großen Medien in Bolivien mittragen, wurden die Bewohner*innen El Altos pauschal als „MAS-Horden“ und „Terroristen“ abgestempelt. MAS steht für „Bewegung zum Sozialismus“, die Partei des ins Exil nach Mexiko getriebenen Präsidenten Evo Morales, der inzwischen nach Argentinien weitergezogen ist und dort Asyl beantragt hat, kurz nachdem der Mitte-Links-Peronist Alberto Fernández in Buenos Aires die Amtsgeschäfte übernommen hat. Kaum ein*e Journalist*in aus La Paz hat sich die Mühe gemacht, vor Ort zu recherchieren und zu berichten. Einfacher war es, die Verlautbarungen der De-facto-Regierung zu übernehmen. Der Verteidigungsminister Fernando López behauptete noch am selben Tag, die Operation sei friedlich verlaufen, es sei kein einziger Schuss abgefeuert worden. Das wiederholte auch Jeanine Áñez in der ersten Dezemberwoche in einem Interview: „So weit ich weiß, ist alles friedlich verlaufen!“

Laut den Anwohner*innen hat das Militär die tödlichen Schüsse abgegeben, so auch die Auffassung des Sicherheitsexperten Samuel Montaño, er hat Fotos von den Tatorten in Sacaba/Cochabamba und Senkata/El Alto ausgewertet. Es gibt mindestens zwei Fälle, so der Experte, bei dem Soldat*innen geschossen haben.

Von der De-facto-Regierung wird behauptet, es wäre darum gegangen, einen terroristischen Anschlag zu verhindern. In der regierungsnahen Tageszeitung Página Siete hieß es, Anhänger*innen von Evo Morales wollten ein Treibstofflager in Brand setzen. Andere Quellen ließen verlauten, dass Dynamit im Spiel gewesen sei. Bisher gibt es aber keine stichhaltigen Beweise dafür, dass es um mehr ging, als eine Blockade des Treibstofflagers. Augenzeug*innen vor Ort berichten, dass niemand mit Dynamit hantiert hat, „nicht einmal Knallfrösche hatten wir, als Polizei und Militär auf uns schossen“, meint eine Anwohnerin.

Wie die Anwohnerin wollen die meisten anonym bleiben. Es wird von Polizeibesuchen berichtet, wo den Betroffen nahegelegt wird, besser keine Aussagen zu machen, auch anonyme Drohanrufe gibt es. Das bestätigen auch Mitglieder der permanenten Menschenrechtsversammlung. „Es ist sehr schwer, im Moment als Menschen­rechts­verteidiger zu arbeiten. Das Misstrauen der Leute ist sehr groß, außerdem erhalten wir Drohungen von der Regierung“, sagte ein Mitarbeiter gegenüber den LN.

Daher bleibt bisher auch im Dunkeln, wie viele Menschen beim Massaker in Senkata umgekommen sind. Es wird berichtet, dass es neben den zehn offiziellen Toten sechs weitere gibt, bei denen die Familien sich geweigert haben, sie offiziell anzugeben. Zudem gibt es Berichte über mindestens zehn gewaltsam verschwundene Personen, von denen man nicht weiß, ob sie tot sind oder was mit ihnen passiert ist. Darunter soll, nach Zeug*innenberichten, auch ein zwölfjähriges Mädchen sein, das zwei Einschusslöcher aufwies und von Polizist*innen weggeschafft wurde.
Für die bolivianische Öffentlichkeit spielen diese „Details“ kaum eine Rolle. Die Version eines „terroristischen Anschlags“ und eines „friedlichen Polizei- und Militäreinsatzes“ stehen im Vordergrund.

45 Verletzte sind von Hilfsorganisationen in El Alto registriert worden, es wird jedoch von bis zu 100 Verletzten ausgegangen. „Von den Registrierten haben alle Schussverletzungen“, erklärt Danuta Orea, die sich mit um die Verletzten kümmert. „In vielen Krankenhäusern der Stadt wurden die Verletzten wie Terroristen behandelt. In der Holländischen Klinik ist keiner der Verletzten in den normalen Krankenzimmern untergebracht worden, sondern alle wurden im Hof abgestellt.“

Die De-facto-Regierung setzt die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung fordern, unter Druck. Als der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte die Ereignisse untersuchen wollte, wurde von Anhänger*innen der Regierung der Eingang zum dessen Tagungsort blockiert, Zeug*innen sollten an der Aussage gehindert werden. Lokale Menschenrechtsorganisationen wie die permanente Versammlung der Menschenrechte Boliviens oder Aktivist*innen wie die Ombudsfrau für Menschenrechte Nadja Cruz erhalten ebenfalls Drohungen. Als eine Delegation aus Argentinien unter der Leitung von Juan Grabois Ende November das Land besuchte, warnte Innenminister Arturo Murillo, man werde es nicht zulassen, dass „Ausländer aufrührerisch im Land tätig werden“ und man werde die Delegation „sehr genau beobachten“.

Dass die Regierung mehr Interesse an Verschleierung denn an Aufklärung hat, zeigt auch das Angebot, dass sie den Familien der Toten gemacht hat. Jede Familie soll rund 6.500 Euro Entschädigung erhalten, wenn sie darauf verzichtet, den Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. Dies soll im Rahmen der „Befriedung des Landes“ geschehen. Im Rahmen der Befriedung wurde auch das Militär in die Kasernen zurückgeschickt und auch ein Dekret, das für die Soldaten*innen Straffreiheit vorsah, wieder zurückgenommen. Eine Maßnahme, die auf internationalen Druck zustande kam und der Tatsache, dass während der zehntägigen Blockade in El Alto der Regierungssitz bereits mit Engpässen bei Lebensmitteln und Benzin zu kämpfen hatte.

Kritische Stimmen in der Presse werden bedroht und angefeindet

Die De-facto-Regierung fährt eine Doppelstrategie: Während sie aufgrund des Drucks teilweise auf die Gegner*innen zugeht, versucht sie auf der anderen Seite, so weit es geht, Fakten zu schaffen und lässt viele politische Gegner*innen verfolgen. Neben mindestens 34 Toten und 700 Verletzten sind unzählige Mitglieder der MAS, Mitglieder der Wahlbehörde und andere Funktionär*innen verhaftet worden. Auch in wirtschaftlichen Fragen werden Fakten geschaffen. So verabschiedete die Regionalregierung Ende November im Departamento Beni ein neues Agrargesetz, das in Zukunft fast die Hälfte der Fläche des Departamentos als Agrarfläche ausweist – die indigene Bevölkerung wurde dazu nicht konsultiert.

Kritische Stimmen in der Presse werden massiv bedroht und angefeindet. Der bekannte Karikaturist Al-Azar hat aufgrund von massiven Drohungen gegen seine Familie aufgehört, in der Tageszeitung La Razón zu veröffentlichen. Hinter den Drohungen stecken immer häufiger paramilitärisch organisierte Gruppen, die den zivilgesellschaftlichen Bürgerkomitees des Landes nahe stehen, wie die Resistencia Juvenil Cochala aus Cochabamba.
Teile der neuen Machthaber*innen und ihre Unterstützer*innen versuchen, zu verhindern, dass die MAS bei Neuwahlen antritt. Sie müssen befürchten, dass die Partei von Morales bei einem erneuten Urnengang als Siegerin hervorgeht. Der Politologe Fernando Mayorga sieht in der MAS die einzige Kraft, die im ganzen Land eine Basis hat, während die übrigen Akteur*innen, wie zum Beispiel der neoliberale Präsidentschaftskandidat Carlos Mesa, nur im Departamento La Paz eine wirkliche Basis hat.

Die Stimmen, die sich für den Entzug der Zulassung der MAS als politische Partei aussprechen, sehen sich durch den Abschlussbericht der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bestätigt und sprechen von einem „gigantischen Wahlbetrug“. Von „Wahlbetrug“ berichtet das Abschlussdokument zwar nicht, weist jedoch auf schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen im Oktober hin. So gab es eine nicht vorhergesehene Änderung bei der elektronischen Erfassung der Stimmen, bei dem ein Server zugeschaltet wurde, der vorher nicht im System vorgesehen war. Das wertet die OAS als „vorsätzliche Manipulation“. Auch bei den Stichproben der Niederschriften der Wahlergebnisse in den einzelnen Wahllokalen gibt es bei etwa fünf Prozent der Niederschriften Unregelmäßigkeiten. Zudem stellt der Abschlussbericht fest, dass eine Überprüfung des Wahlergebnisses unmöglich ist, da ein Teil der Wahlunterlagen von Gegner*innen der MAS verbrannt wurden. Im Zuge der Unruhen nach den Wahlen gingen in den Departamentos Potosí und Chuquisaca 100 Prozent der Wahlunterlagen, in Santa Cruz immerhin 75 Prozent verloren. Am Montag nach der Wahl steckten Gegner*innen von Morales die lokalen Wahlbehörden in mehreren Departamentos in Brand.
Unter den Bürgerkomitees nehmen die Spannungen inzwischen zu. Luis Fernando Camacho, bisher Vorsitzender des Bürgerkomitees in Santa Cruz, hat sich im Alleingang zum Präsidentschaftskandidaten erklärt und damit Marco Pumari, den Vorsitzenden des Komitees in Potosí, vor den Kopf gestoßen. Eigentlich wollten beide als Duo gemeinsam kandidieren. Neben Camacho haben auch Ex-Präsident Carlos Mesa, der am 20. Oktober gegen Evo Morales angetreten war, und der evangelikale Prediger Chi Hyun Chung bereits ihren Hut in den Ring geworfen. Die MAS will voraussichtlich noch dieses Jahr klären, mit welchen Kandidat*innen sie bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr antreten wird, die voraussichtlich im März stattfinden sollen. Festgelegt hat sich die MAS schon auf ihren Wahlkampfleiter: Evo Morales.

EVO MORALES IM ABWÄRTSTREND

Konfrontation Protest in La Paz im Oktober (Foto: Paulo Fabre via wikimedia, CC BY-SA 4.0)

„Ich habe dreimal Evo Morales gewählt“, erklärte mir eine Bekannte kurz nach der Wahl in einem mondänen Café im reichen Süden von La Paz und seufzte, „dieses Mal ging es wirklich nicht mehr, aber Carlos Mesa konnte man eigentlich auch nicht wählen.“ Das Statement bringt das ganze Dilemma derjenigen zum Ausdruck, die in der Präsidentschaftswahl gerne Kandidat*innen gesehen hätten, die sich mit Vorschlägen, wie sie das Land gestalten wollten, einbringen. Stattdessen wurde seit Anfang des Jahres in Bolivien vor allem darüber gestritten, wer ein legitimer Kandidat für die Wahlen sei.
Evo Morales lastet ganz klar der Makel an, dass er in einem Referendum 2016 kein Mandat für eine weitere Wiederwahl erhalten hatte. Eine knappe Mehrheit stimmte damals gegen eine Verfassungsänderung. Damit blieb die Amtszeit eines Präsidenten oder einer Präsidentin auf zwei direkt aufeinanderfolgende Wahlperioden beschränkt. Das Verfassungsgericht hebelte diese Regelung Ende 2018 für Evo Morales aus und ebnete so den Weg zur erneuten Kandidatur.
Das umstrittene Wahlergebnis liegt im Rahmen des Erwartbaren. Evo Morales verlor massiv an Stimmen, blieb dennoch mit Abstand Wahlsieger, der zweitplatzierte rechtskonservative Carlos Mesa schnitt etwas stärker ab als erwartet. Auf dem dritten Platz landete als Überraschungskandidat Chi Hyun Chung, der durch sein strikt konservatives, antifeministisches und homophobes Familienbild den Kandidat der Cruzeños, (der Tieflandbewohner*innen um Santa Cruz) Oscar Ortíz, auf den vierten Platz verwies.
Da es bei der Auszählung der Stimmen am Wahlabend des 20. Oktober zu Unstimmigkeiten kam – zunächst lag Carlos Mesa nur sieben Punkte hinter Evo Morales, am nächsten Tag waren es mehr als zehn Prozentpunkte – akzeptierte die Opposition das Ergebnis nicht. Bereits vor den Wahlen hatte die Opposition eine reguläre Durchführung der Wahlen angezweifelt und verkündet, es würde ein Wahlbetrug organisiert. Am Montag nach den Wahlen kam es im Süden des Landes, in Potosí, Sucre und Tarija zu heftigen Ausschreitungen. Es wurden Straßenbarrikaden errichtet und Büros der Wahlbehörde in Brand gesetzt.

In Santa Cruz rief die Opposition zu einer unbefristeten Blockade auf


In Santa Cruz rief die Opposition zu einer unbefristeten Blockade auf. Seitdem ist die Wirtschaftsmetropole des Landes paralysiert. Auch im Süden des Landes gibt es Blockaden und Proteste. In anderen Regionen, wie dem Regierungssitz La Paz, gibt es zwar Proteste, diese haben bisher jedoch nicht die gleiche Kraft entfaltet. Hier kommt es bisher nur teilweise zu Störungen des öffentlichen Lebens, vor allem wegen Demonstrationen nahe des Regierungspalastes. In El Alto, der zweitgrößten Stadt, die indigen geprägt ist, verläuft das Leben weitgehend normal. Im Panorama der Proteste spiegelt sich die Spaltung des Landes wider, die sich bereits in den Wahlergebnissen zeigten.
„Man kann den Verschleiß von Evo Morales und seine Entfernung von der Bevölkerung nicht mehr leugnen“, meint der Journalist Julio Prado und ergänzt: „Er kam an die Macht, weil er einmal Teil der einfachen Leute war. Aber in den vergangenen fünf Jahren hat er keinen Kontakt mehr zu den Leuten.“ In der Tat haben sich Regierung und Präsident in der vergangenen Regierungsperiode weiter von einer Regierung mit Beteiligung der sozialen und indigenen Bewegungen entfernt und immer mehr mit traditionellen Methoden des Machterhalts regiert. Es handelt sich hier um eine Rückkehr der paternalistischen Republik, in der klientelistische Strukturen und Loyalitätsverhältnisse eine wichtigere Rolle spielen als themenorientierte Politik. Unter diesen Bedingungen ist eine Polarisierung entstanden, die, so der Wirtschaftswissenschaftler Huáscar Salazar, „die Kämpfe wie den Widerstand gegen den Extraktivismus tendenziell unsichtbar macht.“
Das Regierungshandeln basiert schon seit längerer Zeit auf der Vertiefung eines extraktivistischen Wirtschaftsmodells auf der Basis der Ausbeutung von Rohstoffen. Forderungen wie die Autonomie indigener Gebiete, der Schutz von Mutter Erde, einer alternativen wirtschaftlichen Entwicklung oder der Bildungsreform, wurden weitgehend ins Reich der Sonntagsreden verwiesen. Für Gabriel Villalba, ein junger Anwalt aus La Paz und MAS-Anhänger, ist diese Politik notwendig: „Es ist blauäugig, zu glauben, dass ein alternatives Wirtschaftsmodell ohne eine wirtschaftliche Entwicklung möglich ist. Zuerst müssen wir die Wirtschaft mit der Ausbeutung der Ressourcen entwickeln, und dann können wir über Alternativen nachdenken. Wir haben in den vergangenen Jahren große Erfolge erzielt.“

Experten*innen der OAS zählen die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus


Die MAS, Partei von Evo Morales, setzte im Wahlkampf von Anfang an darauf, dass die gute Wirtschaftslage ausreichen würde, um die Wähler*innen zu überzeugen, dass es gut sei, weitere fünf Jahre mit der MAS zu leben.
Seit Anfang November ist klar: Es ist alles andere als sicher, ob Morales auch die nächsten fünf Jahre an der Macht bleibt. Im Moment zählen Expert*innen der OAS die Stimmen aufgrund der Wahlbetrugsvorwürfe erneut aus. Das Ergebnis wird in den kommenden Tagen erwartet. Die Opposition hat jedoch bereits angekündigt, dass sie das Ergebnis nur dann anerkennt, wenn die OAS einen Wahlbetrug feststellt und die Wahl annulliert. Zudem werden seit einigen Tagen die Stimmen immer lauter, die einen sofortigen Rücktritt von Evo Morales fordern. Das zeigt, dass in der Opposition immer mehr radikale Kräfte die Oberhand gewinnen. Inzwischen hat Fernando Camacho, Vorsitzender des Bürgerkomitees von Santa Cruz, den Präsidentschaftskandidaten Carlos Mesa als Oppositionsführer in der öffentlichen Erscheinung abgelöst. Der frühere Vorsitzende der Jugendvereinigung Santa Cruz (Unión Juvenil Cruceñista), einer paramilitärisch organisierten ultrarechten Gruppe, die zu Beginn der Regierung von Morales mit rassistischen Aktionen gegen Indigene auf sich aufmerksam machte, redet bei den Versammlungen gerne mit der Bibel in der Hand. Er hat inzwischen offen zum Sturz der Regierung aufgerufen und gebärdet sich in Anlehnung an Venezuelas Oppositionsführer als bolivianischer Guaidó. Im Gegensatz zu Mesa kann Camacho jedoch noch weniger im Hochland punkten, damit hat sich die Spaltung auch regional verfestigt.
Die MAS schart derweil ihre Anhänger*innen um sich. Das sind vor allem die sozialen Organisationen, die seit Jahren im Bündnis mit der Regierung stehen, wie die Frauenorganisation Bartolina Sisa, die nationale Koordination für den Wandel (CONALCAM) oder den Gewerkschaftsverband COB. Das Problem dabei: Die Politik der vergangenen Jahre und die Strategie der Spaltung hat die Loyalitätsverhältnisse innerhalb der Gewerkschaft zur MAS ausgehöhlt. Ein Resultat ist, dass der Gewerkschaftsverband COB in seiner Position gespalten ist. Während die nationale Führung hinter Morales steht, haben sich einige regionale Verbände der Opposition angeschlossen. Auch innerhalb der indigenen Bevölkerung genießt die Regierung lange nicht mehr den Rückhalt.
Die Opposition hat ein größeres Interesse an einer Verschärfung des Konflikts auf der Straße, denn nur so kann sie den Druck auf Morales aufrecht erhalten. Immer wieder kommt es zu heftigen Zusammenstößen zwischen Regierungsanhänger*innen und Oppositionellen. Am 6. November starb in Cochabamba ein Demonstrant, der dritte Tote im bisherigen Konflikt. In diesen Tagen ist der ultrarechte Fernando Camacho erneut nach La Paz gereist. Dort hat er mit den oppositionellen Cocaleros (Bewegung der Cocabäuerinnen und -bauern) eine Verbrüderung inszeniert.

Die Opposition hat ein Interesse an einer Verschärfung des Konflikts auf der Straße


Es scheint so, als ob er schnell eine Entscheidung sucht und den Druck jetzt am Regierungssitz konzentrieren will. „Bis 11. November wird Evo Morales zurücktreten“, hat er angekündigt und ergänzt, „ich bleibe in La Paz, bis die Regierung abgedankt hat.“ Ob die Strategie der Spannung aufgeht, ist jedoch ungewiss. Bisher sind die Truppen, die er in La Paz aufbieten kann, begrenzt. Die Studierenden der Universität UMSA in La Paz haben wenig Kampferfahrung und die Organisation der Kokabäuerinnen und -bauern, ADEPCOCA, mit der er sich verbündet hat, ist durch interne Auseinandersetzungen geschwächt. Die Mittel- und Oberschicht aus den Stadtvierteln Zona Sur und Sopocachi organisieren Blockaden, die aber oft nur von neun bis fünf und mit Mittagspause stattfinden.

Die verschiedenen Fraktionen der Opposition sind sich nur in der Ablehnung von Evo Morales einig

Zudem gibt es einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung, die zwar Morales nicht mehr wollen, Camacho aber noch weniger. Viele wollen Camacho nicht folgen, vor allem in La Paz nicht und im indigenen El Alto noch weniger. Die Radikalisierung der Opposition zeigt ihre Schwäche. Denn die verschiedenen Fraktionen einigen sich in der Ablehnung von Evo Morales, ansonsten sind sie aber zersplittert.
Allmählich beginnt sich die Position stärker zu artikulieren, die sich auf keine der beiden Seiten stellt. Maria Galindo, bekannte Feministin in Bolivien, machte bereits vor der Wahl deutlich, dass sie keinen der „Streithähne“ für wählbar hält. Dafür wurde sie von den Evo-Gegner*innen heftig ausgebuht. Fernando Camacho hält sie für einen Faschisten, der weder Frauen, noch die Rechte der Indigenen respektiert. Es sind vor allem Frauen, die in den vergangenen Wochen Versammlungen im ganzen Land organisierten, um alternative Positionen zu bestimmen. Shezenia Hannover, Aktivistin aus El Alto: „In der jetzigen Situation ist es wichtig, die Zivilgesellschaft zu stärken, damit wir die soziale Kontrolle zurück gewinnen und bestimmen können, wer regiert.“ Im Moment scheint es jedoch unmöglich, mit einer themenorientierten Position durchzudringen. Der Journalist Julio Prado sieht hier erst eine Möglichkeit in ein bis zwei Jahren: „Sollte Morales im Amt bleiben, dann bestünde die Möglichkeit, dass sich die Gesellschaft reorganisiert und in zwei Jahren ein Abwahlverfahren organisiert, das wäre laut Verfassung möglich.“

 

ZWISCHEN PUTSCH UND DIALOG

Wimmelbild: Wer ist Präsident? Juan Guaidó jedenfalls ist der zweite von links (Foto: OEA-OAS (CC BY-NC-ND 2.0)

Der 23. Januar ist für Venezuela ein geschichtsträchtiges Datum. An diesem Tag im Jahr 1958 stürzte ein Massenaufstand die Militärdiktatur unter Marcos Pérez Jiménez. Die rechte Opposition würde das Datum nun gerne für ihre ganz eigenen Zwecke vereinnahmen: Als den Tag, an dem sie nach 20 Jahren Chavismus wieder die Macht übernommen hat. Bisher gilt dies jedoch nur theoretisch. Praktisch sind die Dinge komplizierter. Noch Ende Dezember schien der venezolanische Präsident Nicolás Maduro angesichts einer intern zerstrittenen Opposition relativ fest im Sattel zu sitzen. Doch am 23. Januar mobilisierten die Regierungsgegner*innen erstmals seit anderthalb Jahren wieder erfolgreich auf die Straße.
Der Mann, der die Opposition binnen weniger Wochen in Hoffnung versetzt hat, ist Parlamentspräsident Juan Guaidó. Bis vor kurzem war der 35-jährige Ingenieur auch in Venezuela kaum jemandem ein Begriff. Mittlerweile halten ihn viele jedoch für den neuen Staatspräsidenten, weil er sich in Caracas selbst vereidigt hat. „Am heutigen 23. Januar schwöre ich, als ausführender Präsident formell die Kompetenzen der Nationalen Exekutive zu übernehmen, um die Usurpation zu beenden“, rief Guaidó auf der oppositionellen Großdemonstration tausenden jubelnden Anhängern im wohlhabenden Osten der Hauptstadt zu.

Guaidó hat auch im Ausland Unterstützer. Kurz nach seiner Proklamation teilte US-Präsident Donald Trump per Twitter mit, Guaidó offiziell als Interimspräsidenten anzuerkennen. US-Vizepräsident Mike Pence hatte den Anhänger*innen der Opposition im Vorfeld der Demonstration bereits die Unterstützung der USA gegen den als „Diktator“ bezeichneten Maduro zugesichert. Rasch erhielt Guaidó die Anerkennung weiterer lateinamerikanischer Länder, darunter Venezuelas rechts regierte Nachbarstaaten Brasilien und Kolumbien sowie unter anderem Argentinien, Chile, Ecuador, Peru und Paraguay. Auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erkannte in Person ihres Generalsekretärs Luís Almagro Guaidó umgehend an. Die Europäische Union vollzog diesen formellen Schritt zwar bisher nicht, stärkt dem selbst ernannten Interimspräsidenten aber den Rücken und fordert Neuwahlen. Bundesaußenminister Heiko Maas etwa positionierte sich gegenüber der Deutschen Welle eindeutig: „Wir sind nicht neutral in dieser Frage, wir stehen auf der Seite von Guaidó“. Für die Regierungen Kubas, Nicaraguas, El Salvadors, Mexikos, der Türkei, Irans, Russlands und Chinas heißt der legitime venezolanische Präsident hingegen weiterhin Nicolás Maduro.

Heiko Maas ist auf der Seite von Guaidó

Bei seiner Selbstvereidigung bezog sich Guaidó neben den Artikeln 333 und 350, die das Recht auf Widerstand gegen verfassungswidrige Handlungen und undemokratische Regime festschreiben, auf Artikel 233 der Verfassung. Dieser behandelt die dauerhafte Abwesenheit des Staatspräsidenten in Fällen wie Tod, Krankheit oder Abberufung durch ein Referendum. Auf den vorliegenden Fall lässt sich der Artikel somit nur mit viel Fantasie anwenden.

(Foto: David Hernández (CC BY-SA 2.0))

Auf der zeitgleich stattfindenden Demonstration von Regierungsanhänger*innen im Westen von Caracas, gab sich Diosdado Cabello, Vorsitzender der regierungstreuen Verfassunggebenden Versammlung (ANC) kämpferisch: „Wer Präsident sein will, soll uns in (dem Präsidentenpalast, Anm. d. Red.) Miraflores suchen, denn dort wird die Bevölkerung Nicolás Maduro verteidigen.“ Daraufhin zogen die Chavisten vor den Präsidentenpalast. „Hier ergibt sich niemand“, rief Präsident Maduro seinen Anhänger*innen vom „Balkon des Volkes“ aus zu. Der US-Regierung warf er vor, eine „Marionettenregierung“ installieren zu wollen und brach die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab. Den in Caracas ansässigen US-Diplomaten gab er 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen.

Guaidó reagierte umgehend und bat darum, sich den Anweisungen zu widersetzen. Die US-Regierung zog in den folgenden Tagen zwar einen Teil des Botschaftspersonals ab, kündigte jedoch an, sich dem Ultimatum, nicht beugen zu wollen. Die Maduro-Regierung rückte daraufhin von ihrem 72-Stunden-Ultimatum ab. Stattdessen solle nun über – wie es hieß – Interessenvertretungen in den jeweiligen Hauptstädten verhandelt werden, teilte das Außenministerium in Caracas mit. Sollte es darüber jedoch binnen 30 Tagen keine Einigung geben, müssten die verbliebenen US-amerikanischen Diplomaten das Land verlassen.

Mit der Installierung eines Parallelpräsidenten eskaliert der Konflikt zwischen der Regierung Maduro und der rechten Opposition auf gefährliche Weise. Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Machtkampfes, der seit dem oppositionellen Wahlsieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 mit harten Bandagen geführt wird. Die Opposition setzte von da an alles auf einen Sturz Maduros und schürte bei ihren Anhänger*innen unrealistische Erwartungen auf einen zeitnahen Machtwechsel.

Die Regierung hingegen griff bei der Ernennung von Verfassungsrichter*innen und der Festlegung von Wahlterminen tief in die juristische Trickkiste, um sich an der Macht zu halten. Maduros Wahl im Mai vergangenen Jahres betrachten Opposition und zahlreiche Staaten als illegitim, unter anderem weil potenzielle Kandidat*innen nicht antreten durften. Die meisten Parteien hatte damals zum Boykott aufgerufen. Bei einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 46 Prozent blieben die drei Gegenkandidaten dann auch chancenlos. Glaubhafte Hinweise auf Wahlbetrug gab es zwar nicht, die Umstände spielten jedoch eindeutig Maduro in die Hände. Die umstrittene Verfassunggebende Versammlung, die seit Mitte 2017 praktisch die Funktionen des Parlamentes übernahm, hatte den Wahltermin in einer Schwächephase der Opposition von Dezember auf Mai vorgezogen.

Nach Maduros erneuter Amtseinführung am 10. Januar kochte der Konflikt erneut hoch und die zuvor notorisch zerstrittene Opposition versammelte sich hinter Guaidó. Der frühere Studierendenaktivist sitzt seit 2011 als Hinterbänkler in der Nationalversammlung und wurde am 5. Januar allein aus Mangel an Alternativen zum Präsidenten der juristisch kalt gestellten Nationalversammlung gewählt. Laut Absprache der vier größten Oppositionsparteien steht das Amt dieses Jahr der rechten Partei Voluntad Popular zu. Weil deren erste Garde um Leopoldo López, Freddy Guevara und Carlos Vecchio entweder unter Hausarrest steht oder sich im Exil befindet, kam Guaidó zum Zug. Bereits auf einer öffentlichen Versammlung in Caracas am 11. Januar deutete er an, als Interimspräsident bereit zu stehen, sofern er die Unterstützung der Bevölkerung, des Militärs und der internationalen Gemeinschaft hätte. Eine kurzzeitige Festnahme Guaidós durch die Geheimdienstpolizei Sebin am 13. Januar verschaffte diesem zusätzlichen Rückenwind. Die Regierung Maduro gab anschließend kein gutes Bild ab, als sie erklärte, die Agenten seien angeblich auf eigene Faust tätig geworden. Dass Guaidó bisher kaum jemand kannte, scheint dabei eine seiner größten Stärken zu sein. Denn er wirkt jung und frisch, obwohl er politisch überhaupt nichts Neues zu bieten hat. Jenseits der radikalen Ablehnung des Chavismus und einer Rückkehr der alten Eliten an die Erdöltöpfe, verfügen weder Guaidó noch der Rest der rechten Opposition über ein überzeugendes Programm.

Schulterschluss zwischen Opposition und USA könnte Maduro helfen

Der Schulterschluss zwischen Opposition und US-Regierung könnte Maduro helfen, die eigenen Reihen zu schließen. Viele Chavisten sind von der Regierung zwar enttäuscht, würden jedoch keinesfalls tatenlos einen rechten Putsch mit US-Unterstützung akzeptieren. Bei dem kurzzeitigen Staatsstreich gegen Hugo Chávez im April 2002 hatte der Druck der Bevölkerung dazu geführt, dass der überwiegende Teil der Soldaten den Putschisten die Gefolgschaft verweigerte.

Sicher ist, dass Guaidó für eine tatsächliche Machtübernahme auf die Unterstützung des Militärs angewiesen ist. In den vergangenen Wochen hatte er die Streitkräfte wiederholt dazu aufgerufen, „die verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherzustellen und ihnen für diesen Fall eine Amnestie zugesichert, die er mittlerweile auch Maduro selbst im Falle eines Rücktritts in Aussicht stellte. Außer einer kurzzeitigen Erhebung einiger Nationalgardisten am frühen Morgen des 21. Januars verhallten die Aufrufe bisher jedoch ungehört. Verteidigungsminister Vladimir Padrino López stellte sich seit dem 23. Januar mehrmals demonstrativ hinter die Regierung Maduro.

Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass sich die Militärführung auf Guaidós Seite schlägt. Denn sie profitiert von einer engen politischen und wirtschaftlichen Verflechtung mit der Regierung. Doch es ist unklar, wie es in den unteren Rängen aussieht und welche Auswirkungen weitere Proteste oder eine Eskalation der Gewalt haben könnten. Seit der kurzzeitigen Erhebung der Nationalgardisten kam es täglich zu lokalen Anti-Maduro-Protesten in verschiedenen Städten. Davon betroffen waren in Caracas auch Stadtteile, die bisher als sichere Bank für die Chavisten galten. Dabei sollen nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen landesweit bereits 29 Menschen ums Leben gekommen und hunderte festgenommen worden sein. Dennoch blieb der befürchtete große Gewaltausbruch bisher aus und Guaidó befindet sich nach wie vor auf freiem Fuß.

Unabhängig vom Ausgang des Machtkampfes verfügt keines der beiden großen politischen Lager über wirkliche Lösungen, um die politische und wirtschaftliche Krise zu überwinden. Insbesondere der Bevölkerung in den Armenvierteln, die sich kulturell überwiegend dem Chavismus zugehörig fühlt, hat die Opposition wenig anzubieten. Die Regierung Maduro hingegen zeigt in den barrios durch Lebensmittelkisten und unregelmäßige Bonuszahlungen nach wie vor Präsenz. Doch ihre seit Mitte vergangenen Jahres umgesetzten Wirtschaftsreformen hatten kaum einen Effekt, jede Erhöhung des Mindestlohnes wird umgehend von der Hyperinflation aufgefressen.

Klar ist, dass eine Überwindung der tiefgreifenden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht durch ein Beharren auf einzelne Verfassungsartikel beigelegt werden kann, die beide Seiten für ihre Zwecke instrumentalisieren. Eine Lösung kann nur im Dialog erreicht werden. Dafür müssten beide Seiten jedoch zu ernsthaften Kompromissen bereit sein. Als Vermittler boten sich bereits die Regierungen Mexikos und Uruguays an. Während sich Maduro offen für Gespräche zeigte, erteilte Guaidó dem „falschen Dialog“ eine Absage. Stattdessen kündigte er weitere Proteste an.

 

FREIE BAHN FÜR KORRUPTION

Kann Luiz Antonio Guimarães Marrey das Ruder noch herumreißen? Der ehemalige Generalstaatsanwalt von São Paulo steht an der Spitze der internationalen Mission zur Bekämpfung der Straflosigkeit und Korruption in Honduras. Doch der Kampf gegen die Korruption scheint schon verloren, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. Im Februar dieses Jahres war der Peruaner Juan Jiménez Mayor, Guimarães Marreys Vorgänger, als Chef der MACCIH zurückgetreten. Seitdem ist unklar, ob die Mission im Land überhaupt noch eine Zukunft hat. Jiménez Mayor hatte den Posten nach anhaltenden Differenzen mit seinem Vorgesetzten, dem Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten, hingeschmissen. Zuletzt hatte dieser die Arbeit der MACCIH sogar öffentlich kritisiert: In einem Brief an den honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández hatte Almagro das erfolglose Agieren der MACCIH in den vergangenen zwei Jahren beklagt.

Im Parlament wurde ein Korruptionsnetzwerk aufgedeckt.

Dabei hatte es im Dezember 2017 noch ganz danach ausgesehen, dass die MACCIH, deren Untersuchungen bis dahin in der Tat nicht von großen Ermittlungserfolgen geprägt waren, nun endlich den Kampf gegen die Korruption im Land aufnehmen würde. Gemeinsam mit der honduranischen Staatsanwaltschaft hatte die Mission Ende vergangenen Jahres die Existenz eines Korruptionsnetzwerks im honduranischen Parlament aufgedeckt, dem die Veruntreuung öffentlicher Mittel vorgeworfen wurde. Weitere Ermittlungen gegen zahlreiche Abgeordnete waren angekündigt.

Doch die Reaktion der Parlamentarier*innen ließ nicht lange auf sich warten: Umgehend verabschiedeten sie im Kongress ein Gesetz, das sämtliche Untersuchungen zur Verwendung öffentlicher Gelder zukünftig dem Obersten Rechnungshof unterstellt. Ein Einspruch gegen das Gesetz wurde vom Verfassungsgericht abgewiesen, die gemeinsamen Ermittlungen von MACCIH und honduranischer Staatsanwaltschaft in dem spektakulären Korruptionsfall fanden so ein schnelles Ende.

„Dieses Gesetz hat gezeigt, dass die Institutionen im Land nicht dafür gemacht sind, überprüft zu werden“, sagt die honduranische Journalistin Jennifer Ávila. „Das ist traurig, weil auch wir als Journalisten eine gewisse Hoffnung in die MACCIH gesetzt haben, denn es ist sehr schwer, in einem Land wie Honduras zu recherchieren.“ Die Schaffung der MACCIH Anfang 2016 war ein Zugeständnis der Regierung an die honduranische Bevölkerung gewesen, die vor drei Jahren über Monate hinweg demonstriert hatte. Auslöser der Proteste waren verschiedene Korruptionsfälle, unter anderem die Veruntreuung von Millionensummen in der honduranischen Sozialversicherung IHSS. Die Demonstrant*innen hatten die Schaffung einer Behörde nach dem Vorbild der CICIG in Guatemala gefordert – einer internationalen und unabhängigen Kommission mit UN-Mandat, die seit 2015 durch Korruptionsermittlungen gegen den guatemaltekischen Ex-Präsidenten Otto Pérez Molina Schlagzeilen gemacht hat. Doch statt einer CICIG mit UN-Mandat reichte es in Honduras nur für eine MACCIH mit Mandat der OAS – auch deshalb hatten die Honduraner*innen von Anfang an Bedenken, ob die Mission tatsächlich Erfolg haben würde. „Sie ist nicht mehr als ein Schmerzmittel, das die akuten Symptome lindert, aber die Krankheit heilt sie nicht“, sagt Journalistin Ávila.
Dabei war es durchaus zu erwarten, dass die korrupte Machtelite des Landes den Untersuchungen durch die MACCIH nicht tatenlos zusehen würde – und sich nun ähnlich wie im Nachbarland Guatemala mit neuen Gesetzen dem Zugriff der Untersuchungsbehörden zu entziehen versucht. Seit einigen Wochen wird außerdem das Gerücht gestreut, die Mission würde honduranische Staatsanwälte für Ermittlungen gegen Regierungsbeamte mit Bonuszahlungen belohnen – offenbar ein weiterer Versuch, die Arbeit der Mission in Misskredit zu bringen. Jiménez Mayor dementierte die Vorwürfe.
Überraschend ist jedoch, dass selbst der OAS-Generalsekretär ein doppeltes Spiel zu spielen scheint und dem Ex-Chef von MACCIH, Jiménez Mayor, jegliche Unterstützung versagt hat. „Ich glaube, dass Almagro die Interessen einiger Länder vertritt, die nicht wollen, dass mit der Arbeit der Mission ein erfolgreicher Präzedenzfall geschaffen wird“, meint Joaquín Mejía, Anwalt und Mitarbeiter des ERIC, eines Think-Tanks des Jesuitenordens in Honduras. „Das sind Länder wie Mexiko mit schwachen Institutionen und einem hohen Grad an Korruption und Straflosigkeit.“ In einem Interview mit dem US-amerikanischen Fernsehsender CNN berichten auch zwei frühere Mitglieder der MACCIH, dass es zwischen Almagro und dem honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández geheime Absprachen gegeben habe.

Auch nach dem Antritt von Luiz Antonio Guimarães Marrey als MACCIH-Chef gibt es wenig Hoffnung, dass die Mission tatsächlich erfolgreich arbeiten kann, solange sie von der OAS torpediert wird und die USA den honduranischen Präsidenten Juan Orlando Hernández unterstützen. Dieser hatte sich entgegen der Verfassung des Landes im November erneut zum Präsidenten wählen lassen, die Wahl wurde zudem von schweren Betrugsvorwürfen und Repressionen gegen die Zivilbevölkerung begleitet. „Es ist im Interesse der USA, einen leicht kontrollierbaren Präsidenten in Honduras zu haben“, meint Anwalt Mejía. „Hernández spielt diese Rolle sehr gut, und deshalb wird Washington ihn weiter unterstützen, auch wenn er autoritär und diktatorisch agiert.“

Auch drei Jahre nach den Massendemonstrationen im Land, die zur Schaffung der MACCIH führten, hat sich in Sachen Korruption wenig getan in Honduras. “Die Menschen sind damals spontan auf die Straße gegangen, um ihrem Unmut und Ärger über die Korruption Ausdruck zu verleihen“, sagt die Journalistin Ávila. „Ich denke, dass diese Bewegung jetzt langsam erwachsen wird, denn die Menschen sind heute viel politisierter und nicht mehr so indifferent.“ Das haben auch die Massenproteste nach den Präsidentschaftswahlen im vergangenen November gezeigt, bei denen zehntausende Demonstranten den Rücktritt von Präsident Hernández verlangten.

Mittlerweile sind die Demonstrant*innen zwar wieder von den Straßen verschwunden. Doch das hat vor allem mit der Angst der Bevölkerung vor Übergriffen durch die Polizei oder das Militär zu tun – seit den Wahlen im November sind mehr als 30 Menschen bei Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften ums Leben gekommen. Joaquín Mejía hat die Hoffnung trotzdem noch nicht aufgegeben: „Ich glaube, wir haben mit den Massenprotesten nach der Präsidentschaftswahl einen Schritt in die richtige Richtung gemacht, und irgendwann werden wir die Früchte unserer Arbeit ernten“, meint der Anwalt. „Es wird noch lange dauern und ein entbehrungsreicher Kampf sein, aber am Ende wird die Demokratisierung von Honduras stehen.“

GEGENWIND FÜR LULA

„Wer denkt, mich mit diesem Urteil aus dem Rennen zu werfen, muss wissen, dass ich noch immer im Rennen bin.“ Kämpferisch gab sich Brasiliens Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, auf einer Medienkonferenz in São Paulo. Er wertet die Ermittlungen gegen ihn als Versuch, seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zu verhindern. Die Ermittlungen hätten in Brasilien quasi einen „Ausnahmezustand“ ausgelöst, in dem „Grundrechte in den Mülleimer geworfen“ würden. Tags zuvor war Lula am 12. Juli wegen Korruption zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt worden.

Lula wird passive Bestechung und Geldwäsche vorgeworfen.

Lula wird passive Bestechung und Geldwäsche vorgeworfen. Laut Staatsanwaltschaft soll der Baukonzern OAS den einst sehr populären Staatschef mit umgerechnet rund einer Million Euro geschmiert haben, um als Gegenleistung lukrative Aufträge des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras zu ergattern. OAS soll Lula und seiner Familie ein Strandapartment auf der Insel Guarujá im Bundesstaat São Paulo überlassen und eine aufwendige Renovierung finanziert haben. Den Anklagepunkt, dass OAS auch die Aufbewahrung von Präsidentengeschenken aus Lulas Amtszeit (2003–2010) finanziert habe, ließ Richter Sérgio Moro mangels Beweisen fallen.
Zwei Mitangeklagte OAS-Manager wurden am 12. Juli ebenfalls zu Haftstrafen verurteilt, vier weitere freigesprochen. Lula, der sich in drei weiteren Korruptionsprozessen verantworten muss, bestreitet, jemals Eigentümer der Immobilie gewesen zu sein.

Lulas Arbeiterpartei PT sprach von einem „Angriff auf die Demokratie und die Verfassung“. Richter Moro sei voreingenommen und stehe im Dienst der Massenmedien, die seit Langem gegen Lula hetzen würden. „Das Urteil basiert ausschließlich auf abgekarteten Kronzeugenaussagen geständiger Krimineller, die nur die Version der Staatsanwälte bestätigten“, erklärte die PT.

Die Beweislage ist dürftig. Dokumente über Lulas Eigentümerschaft wurden nicht vorgelegt. Die Verteidigung moniert zudem das Zustandekommen der Aussage der mitverurteilten früheren OAS-Managers Léo Pinheiro. Dieser änderte offenbar seine Aussage und kam erst dann in den Genuss der Kronzeugenregelung, als er nach einer ersten Verurteilung Lula beschuldigte. Die Verteidigung kündigte Berufung an. Lula führt in Umfragen mit großem Abstand vor all seinen potenziellen Mitstreiter*innen um die Präsidentschaft 2018.

Die riesige Korruptionsaffäre um Petrobras und inzwischen auch andere Großunternehmen hat Brasilien in eine tiefe politische Krise gestürzt. Viele ranghohe Politiker*innen der abtrünnigen Koalitionspartner, die Mitte 2016 Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff in einem höchst umstrittenen Amtsenthebungsverfahren aus dem Amt jagten, und dann mit Übergangspräsident Michel Temer die Macht übernahmen, sind inzwischen selbst schwerer Korruptionsverbrechen beschuldigt. Einige sitzen bereits hinter Gittern. Temer selbst wird vom Obersten Gerichtshof der Prozess gemacht. Allerdings hat sich der Justizausschuss des brasilianischen Parlaments am 14. Juli mit einer Mehrheit von 40 zu 25 Stimmen gegen eine Anklage ausgesprochen. Die endgültige Entscheidung über eine mögliche Anklage wird nun vom Kongress am 2. August getroffen. Die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit ist eher nicht in Sicht. Und ein wichtiges Ziel hat die neue konservative Regierungskoalition ohnehin erreicht: Am Vortag des Urteils gegen Lula segnete der Kongress eine Arbeitsrechtsreform ab, die viele Errungenschaften der vergangenen 30 Jahre zurücknimmt.

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