FREIHANDEL VERSCHÄRFT WALDZERSTÖRUNG

Bedroht aber ungeschützt Die EU-Gesetzesinitiative zum Schutz der Wälder gilt nicht für Savannen wie im Cerrado (Foto: Living Gaia e.V.)

Handelsliberalisierung, wie die Europäische Union sie in ihren Handelsabkommen vorantreibt, ist eine der wesentlichen Ursachen der weltweiten Entwaldung und des Verlustes von Biodiversität. Etwa 21 bis 37 Prozent der weltweiten Entwaldung sind auf den globalen Handel zurückzuführen, wie 2018 in einem Artikel der Nature Geoscience festgehalten wurde. Das Aussterben bedrohter Arten ist in Ländern des Globalen Südens zu 35 bis 60 Prozent der Exportproduktion geschuldet. Dieser Zusammenhang zwischen Handel, Entwaldung und Artensterben ist bei Befürworter*innen des sogenannten Freihandels auch durchaus bekannt. So stellte die Welthandelsorganisation (WTO) bereits 2010 in einer Zusammenfassung des damaligen Wissensstandes fest, dass steigende lokale Preise für Agrarprodukte der wesentliche Treiber von Entwaldung sind.

Handelsabkommen, die die EU mit Ländern des globalen Südens abschließt, bieten diesen in der Regel im Austausch für Marktöffnungen die Möglichkeit, ihre Agrarexporte in die EU zu steigern. Das lokale Angebot nimmt dadurch ab, was die lokalen Preise in die Höhe treibt, was wiederum ein Anreiz für die Ausweitung der Produktion ist. In der Folge werden mehr Wälder in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt. Für diesen Mechanismus ist das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay ein gutes Beispiel. Fast 20 Jahre verhandelt, wurde Mitte 2019 ein umfassendes Assoziationsabkommen zur größten Freihandelszone der Welt zwischen der EU und dem Mercosur bekanntgegeben. Das Abkommen ist noch nicht in Kraft getreten, da es noch vom Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss. Es wird von vielen Seiten in der Politik kritisiert, ebenso von Lobbygruppen wie von einem breiten Bündnis von Nichtregierungsorganisationen. Es sieht vor, dass die EU ihren Agrarsektor für den Mercosur zu 82 Prozent sofort öffnet, sprich ihre Zölle dort auf Null senkt. Einige kritische Produkte erhalten erhöhte Importkontingente mit niedrigeren Zöllen. So sollen die Quoten für Rindfleisch um 99.000 Tonnen, auf Bioethanol sogar um 650.000 Tonnen erhöht werden.

Die Bilder des brennenden Amazonas-Regenwaldes gingen um die Welt

Sowohl das für Bioethanol verwendete Zuckerrohr als auch die Rindfleischproduktion sind wesentliche Treiber von Entwaldung und Landvertreibung im Mercosur. Die erhöhten Exportquoten werden die Produktion steigern und zu weiteren Expansionen des Landwirtschaftssektors führen, was den Druck auf indigene Gemeinschaften und Wälder erhöhen wird. Eine von der französischen Regierung eingesetzte Kommission zum EU-Mercosur-Vertrag geht davon aus, dass allein die Erhöhung der Rindfleischquoten zusätzliche 3,6 Millionen Hektar Weideflächen erforderlich machen würde und das Tempo der Entwaldung um 25 Prozent beschleunigen könnte.

In Europa würden vom EU-Mercosur-Abkommen vor allem industrielle Sektoren profitieren, etwa die chemische Industrie. Pestizide gehören, wie Flugzeuge, Autos und Autoteile, Öle und Medizinprodukte zu den wichtigsten Produkten, die die EU in den Mercosur exportiert. Der Handel mit Pestiziden zwischen den beiden Regionen ist bereits jetzt hoch problematisch: Während viele Pestizide in der EU wegen ihrer Gefahr für Mensch und Umwelt überhaupt nicht zugelassen sind, profitieren Konzerne in Europa von der Möglichkeit, diese problemlos in den Mercosur zu exportieren.

Wegfallende Zölle auf Industrieprodukte würden den Wettbewerb weiter zugunsten europäischer Industriekonzerne verschieben und der Industrie im Mercosur stark zusetzen. Alleine in Argentinien würden einer Studie der Metropolitana Universität Buenos Aires zufolge 186.000 Arbeitsplätze im Industriesektor verloren gehen. Die Länder des Mercosurs wären dann noch abhängiger von Agrar- und Rohstoffexporten – zwei Sektoren, die in engem Zusammenhang mit massiven Umwelt-, Klima- und Menschenrechtsproblemen stehen.

Als einer der wesentlichen Importeure von Agrarprodukten aus dem Mercosur trägt die EU bereits heute eine enorme Verantwortung für die Entwaldung im Amazonasbecken, in den Trockenwaldregionen und Savannen des Gran Chaco in Argentinien und Paraguay oder des Cerrado im Nordosten Brasiliens sowie Feuchtgebieten wie dem brasilianischen Pantanal. Das Abkommen würde diese Zerstörung weiter befeuern.

Entsprechend groß war die Kritik seitens der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit im Sommer 2019, als die Bilder des brennenden Amazonas-Regenwaldes um die Welt gingen, während praktisch zeitgleich der Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens verkündet wurde. Bald stimmten einige EU-Mitgliedsstaaten in die Kritik ein und sprachen sich teils entschieden gegen das Abkommen aus, darunter Frankreich, Irland, Österreich, das wallonische Parlament in Belgien und die Niederlande. Hinzu kam das Europäische Parlament, das sich im Oktober 2020 in einem Bericht über die Handelspolitik der EU gegen die Ratifizierung des Abkommens in seiner jetzigen Form ausgesprochen hat. Auch im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung von SPD, Grünen und FDP ist jetzt zu lesen, dass das Abkommen vor seiner Ratifizierung noch nachgebessert werden müsse.

Als potenzielle Lösung für die Probleme des Handelsvertrags wurde früh die Idee von entwaldungsfreien Lieferketten ins Spiel gebracht. „Das wäre ein wichtiger Quantensprung“, sagte etwa der damalige Entwicklungsminister Gerd Müller bereits im Juni 2020 im Deutschlandfunk. Auch EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis verwies immer wieder auf eine kommende entsprechende EU-Gesetzesinitiative.

Die Gesetzesinitiative der Europäischen Kommission zu entwaldungsfreien Produkten, die jetzt am 17. November veröffentlicht wurde, geht weit über einen einzelnen Handelsvertrag hinaus. Die Generaldirektion Umwelt der Kommission, die den Vorschlag federführend vorangebracht hat, möchte damit den Einfluss Europas auf die globale Entwaldung minimieren. Dazu soll die Regulierung Unternehmen in die Pflicht nehmen, sicherzustellen, dass importierte Produkte nicht von Flächen stammen, die nach dem 31.12.2021 gerodet wurden.

Je höher die Entwaldungsrate eines Landes ist, desto ausführlicher sind die Sorgfaltspflichten, die Unternehmen wahrnehmen müssen. Erfüllen sie diese nicht, drohen ihnen Strafen. Dies wurde vielfach positiv aufgenommen, schließlich wurde Unternehmen zuvor jahrzehntelang dabei vertraut, entwaldungsfreie Lieferketten freiwillig sicherzustellen. Dagegen ist eine unternehmerische Verpflichtung ein Fortschritt.

Immer mehr Wälder werden in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt

Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen geht der Vorschlag jedoch nicht weit genug: Sie bezweifeln, dass das Gesetz in seiner jetzigen Fassung überhaupt zu einer Verminderung der globalen Entwaldung und Landvertreibung beitragen kann. Auch ob die Gesetzgebung die zusätzliche Entwaldung durch das EU-Mercosur- Abkommen verhindern könnte, scheint fraglich. Denn der Vorschlag umfasst zunächst nicht alle Ökosysteme, die von der Ausbreitung des Agrarsektors im Mercosur betroffen sind. Stattdessen wird unter Artikel 2 des Gesetzesvorschlags der zu schützende Wald zu eng definiert als: „0,5 Hektar Land oder mehr, auf dem mindestens fünf Meter hohe Bäume stehen, mit einem Laubdach von mehr als zehn Prozent“. Viele artenreiche und klimarelevante Regionen, die von Entwaldung betroffen sind, fallen nicht unter diese Definition. In jedem Fall gehören weite Teile des Gran Chaco oder des Cerrado nicht dazu. Dabei findet aktuell die stärkste Ausbreitung des Zuckerrohranbaus im Cerrado statt und der Sojaanbau frisst sich immer tiefer in den Gran Chaco. Auch Feuchtgebiete, wie der brasilianische Pantanal, sind ausgenommen. In der Folge würde also eine Verlagerung des Entwaldungsproblems drohen. Anstatt die Entwaldung wirklich aufzuhalten, würde das Gesetz dazu führen, dass statt des Amazonas nun Savannen und Feuchtgebieten für Exporte nach Europa zugesetzt würde.

Darüber hinaus enthält der Vorschlag bisher keinerlei internationale Menschenrechtsstandards zum Schutz indigener Gemeinschaften vor Landvertreibung. Der Entwurf sieht lediglich vor, dass die Achtung nationaler Gesetzgebungen verpflichtend ist. Gefährlich ist das insbesondere angesichts des fortwährenden Abbaus nationaler Gesetze in Brasilien. Landrechte und Entwaldung sind eng miteinander verbunden und die Zerstörung des Waldes geht im Mercosur wie auch in anderen Regionen oft mit der Verletzung von Landrechten einher. Ein wirklich wirksamer Schritt gegen Entwaldung wäre deshalb, Landrechte nach internationalen Menschenrechtsstandards zu schützen, statt sich auf teils bewusst abgeschwächte nationale Gesetzgebungen zu verlassen.

Wird ein Gesetzesvorschlag wie der der Europäischen Kommission als Lösung für die Entwaldungsprobleme von Handelsabkommen diskutiert, treten die strukturellen Probleme dieser Abkommen in den Hintergrund. So sind etwa die höhere Abhängigkeit von Rohstoff- und Agrarexporten kein versehentlicher Nebeneffekt, sondern ein gewünschtes Resultat vom Freihandel: Das größte Wachstumspotenzial haben Länder des Globalen Südens demnach im Agrar- und Rohstoffbereich – und sollen das auch ausschöpfen. Mehr Wachstum im Agrarsektor wird allerdings auch der Entwaldung Vorschub leisten. Deshalb droht auch hier eine Verlagerung der Entwaldung, anstatt diese wirklich zu stoppen. Selbst wenn nach 2021 entwaldete Flächen nicht mehr für den Export nach Europa genutzt würden, so könnten diese immer noch den heimischen Bedarf oder andere Exportmärkte bedienen.

Die EU-Gesetzesinitiative für entwaldungsfreie Produkte ist sicherlich zu begrüßen. Wenn das Gesetz Entwaldung allerdings nicht nur verlagern, sondern wirklich minimieren soll, dann muss nachgebessert werden. Möglichkeit dazu bestünde etwa, wenn der Entwurf im ersten Quartal 2022 im EU-Parlament diskutiert wird. Einige Mitglieder des Parlaments haben bereits signalisiert, dass sie dies ebenfalls für notwendig halten. Die strukturellen Probleme von Freihandelsabkommen wird ein solches Gesetz allerdings nicht beheben können.

// ES BRENNT

Überall in den Medien sind derzeit die brennenden Wälder des Amazonasgebietes zu sehen. Es ist nicht auszuhalten, dass hier ein ökologischer Schatz und eine wichtige Lebensgrundlage des Planeten vernichtet werden. Indessen hat Brasiliens rechtsradikaler Präsident Jair Bolsonaro den Regenwald von Anfang an nur als zu kommerzialisierende Ressource oder als Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung betrachtet. Seine Politik und sein Diskurs haben zur Brandrodung ermuntert.

Was ist der Bundesregierung bisher dazu eingefallen? Gemeinsam mit den G7-Staaten hat Deutschland 20 Millionen Euro Hilfe für Löschflugzeuge angeboten. Nur wenige Wochen vorher hatte die Bundesregierung wegen der vielen Rodungen noch 35 Millionen Euro Hilfsgelder für Brasilien gestrichen. Hilfsgelder hin – Hilfsgelder her. Eine durchdachte Strategie sieht anders aus.

Wir rufen uns in Erinnerung: 2007 schlug die Regierung von Ecuador den Industrieländern vor, das Erdölfeld ITT unter dem Regenwaldnationalpark Yasuní nicht anzurühren, die biologische Vielfalt also zu erhalten und die indigene Bevölkerung dort zu schützen. Im Gegenzug sollte der globale Norden eine Entschädigung für die so entgangenen Einnahmen zahlen – ganz nach Marktlogik. Doch nur ein Bruchteil der Kompensationszahlungen der Industrieländer wurde Ecuador zugesagt und auch die Bundesregierung zog am Ende ihre anfängliche Unterstützung zurück. 2013 wurde die Yasuní-ITT-Initiative vom ecuadorianischen Präsidenten Rafael Correa für gescheitert erklärt. Die Appelle der indigenen Bevölkerung zur Erhaltung ihres Lebensraums waren damals offenbar nicht so wirkungsvoll wie jetzt die Bilder des brennenden Urwalds.

Unter den Politiker*innen der deutschen Regierungsparteien versucht sich in den letzten Wochen an vorderster Front Markus Söder mit Vorschlägen zum Klimaschutz zu profilieren. Eine überraschende Entwicklung, denn zu seinen ersten Amtshandlungen als Ministerpräsident von Bayern gehörte es letztes Jahr, die Schaffung eines neuen Nationalparks zu stoppen, der ein Waldgebiet unter Schutz hätte stellen können. Aber wenn es um den Schutz der Wälder vor der eigenen Haustür geht, knicken deutsche Politiker*innen gerne selbst vor der Industrielobby ein – siehe Hambacher Forst. Sie machen damit genau das, was sie – zu Recht – Bolsonaro vorwerfen. Hierzulande wurde die Natur bereits praktisch vollständig der wirtschaftlichen Entwicklung geopfert. Nun exportiert Deutschland den Schutz der Urwälder bequem an den Äquator, während man von dort Fleisch und Soja von den bereits brandgerodeten Flächen importiert.

Diese Scheinheiligkeit, dieser Opportunismus, tun weh. Das gilt auch für andere Länder des globalen Nordens. Frankreich und Irland haben immerhin angekündigt, das EU-Mercosur-Abkommen aus Protest vorerst nicht zu ratifizieren. Ein Druckmittel, das anscheinend wirkt: Die brasilianische Agrarlobby, eine der wichtigsten Stützen von Bolsonaro, sorgt sich nun lautstark um ihre Exporteinnahmen und übt Druck auf den Präsidenten aus. Bolsonaro hat umgehend mit kosmetischen Maßnahmen reagiert: er schickte Militär und Flugzeuge zum Löschen und verbot die Brandrodung für zwei Monate. Da Bolsonaro offenbar nur auf den Druck seiner eigenen Unterstützer*innengruppen eingeht, müsste auch die Bundesregierung genau hier ansetzen, anstatt auf ein zahnloses Nachhaltigkeitskapitel im EU-Mercosur-Abkommen zu setzen.

Statt Scheinheiligkeit braucht es Nachhaltigkeit. Das gilt für den Umweltschutz ebenso wie für das Eintreten für Menschenrechte. Beides darf den wirtschaftlichen Interessen nicht geopfert werden. Und um beides steht es in Brasilien im Moment schlecht.

MORALES’ DOPPELMORAL

Illustration: Joan Farías Luan

Eine Fläche etwa so groß wie Schleswig-Holstein ist den Flammen bereits zum Opfer gefallen. Besonders hart trifft es die Savannenregion Chiquitanía im östlichen Departament Santa Cruz. Das wichtige Ökosystem verbindet die beiden größten Biome Südamerikas, den Amazonas und den Gran Chaco. Von der Koordination der indigenen Organisationen des Amazonasbeckens (COICA) wurden Morales und Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro nun gleichermaßen zu unerwünschten Personen erklärt. „Die indigenen Völker machen die Regierungen der Präsidenten Jair Bolsonaro und Evo Morales verantwortlich für den physischen, ökologischen und kulturellen Genozid, der aktuell im Amazonas passiert”, heißt es in einer Erklärung.
Seit seinem Amtsantritt 2006 präsentiert sich Morales, national und international, als Verteidiger der Pachamama (Mutter Erde). „Meine Großeltern, meine Eltern und meine Gemeinschaft haben mich gelehrt, dass das Land unsere Mutter ist, es ist unser Zuhause, das respektiert und geschützt werden muss“, sagte Morales im April 2016 vor der UN-Versammlung. An solchen Worten wird er nun, da ein großer Teil Boliviens in Flammen steht, gemessen. Zu seinem Nachteil, denn seine Politik der vergangenen Jahre hat die aktuelle Katastrophe begünstigt.
Bereits 2015 erließ Morales Regierung das Gesetz 741, das die Rodung von bis zu 20 Hektar großen Grundstücken „zur Entwicklung von Land- und Viehwirtschaft im Einklang mit Mutter Erde“ erlaubt. Tatsächlich ist die Vorlage von nachhaltigen Bewirtschaftungsplänen für eine solche Genehmigung jedoch keine Praxis. Was der Ent­waldung zumindest bisher stellenweise Einhalt gebot, war eine Verordnung von 2001, aus der Zeit vor Morales Präsidentschaft. Diese verlangte zumindest für die Entwaldung in Santa Cruz, wo die Brände momentan besonders verheerend sind, Sondergenehmigungen, und stellte Brandrodung in Forst- und Schutzgebieten unter Strafe.
Im Juli dieses Jahres jedoch änderte Morales diese Verordnung mit dem Dekret 3.973. Dieses erlaubt seitdem „kontrollierte“ Brandrodungen zur Gewinnung landwirtschaftlicher Flächen auch in Santa Cruz und dem angrenzenden Amazonas-Departement Beni. Die Regierung begründete dies mit Bevölkerungswachstum und einer erhöhten internen wie externen Nachfrage nach Nahrungsmitteln. Auf einer Pressekonferenz sagte Morales, Kontrollen seien wichtig, dass es sich aber um kleine Familien handele, die sonst nicht zu essen hätten. „Wovon sollen sie leben? Es geht um einen halben Hektar für Mais, um die Situation des Kleinerzeugers, um einen Hektar Reis zum Überleben. Es sind jetzt andere Zeiten, wir müssen die Normen anpassen“, so Morales.
Umweltorganisationen haben da jedoch ihre Zweifel. Für sie hängen die Brände mit der Entscheidung der Regierung zusammen, die Grenzen für die industrielle Landwirtschaft und Viehzucht zu erweitern. „Die ganze Verwüstung ist das Ergebnis einer irrationalen Wirtschaftspolitik, die auf den Ausbau von Monokulturen und die Ausweitung der Viehzucht abzielt“, heißt es in einer Stellungnahme der Nationalen Koordination für die Verteidigung Indigener und Bäuerlicher Territorien (Contiocap). Das Dekret galt vielen offenbar als grünes Licht für die chaqueos, dem Verbrennen von Wäldern, der billigsten Methode der Entwaldung. Mutmaßlich wurden die Feuer, wie auch in Brasilien, durch Brandstifter aus der Landwirtschaft ausgelöst, um Weideflächen für die exportorientierte Fleischproduktion zu schaffen.
Bisher war Bolivien nicht gerade als Exportland bekannt, aber das soll sich bald ändern. Ende August, als die Flammen in Santa Cruz am höchsten schlugen, feierte Evo Morales im selben Departmento offiziell den Export der ersten Tonnen bolivianischen Rindfleischs für den chinesischen Markt. Erst im April hatte China seinen Markt für bolivianische Fleischimporte geöffnet. Der Präsident des bolivianischen Fleischproduzentenverbands Congabol, Oscar Ciro Pereyra, sagte, das Ziel bestehe darin, bis 2030 eine Produktion von 200.000 Tonnen Fleisch zu erreichen, was einem Umsatz von 900 Millionen Dollar entspricht und Bolivien zu einem der 15 Länder mit den größten Fleischexporten machen würde.
Und auch das Ausmaß der Flächen, die durch Morales Gesetze zur Rodung freigegeben wurden, spricht eine deutliche Sprache. Der Gouverneur von Beni, Alex Ferrier, zeigte sich nach der Unterzeichnung des Dekrets 3.973 erfreut, da dadurch „bis zu neun Millionen Hektar landwirt­schaftliche Nutzfläche entstehen könnten“. Bei einem halben Hektar für Kleinproduzent*innen wäre das ausreichend für 18 Millionen solcher Kleinproduzent*innen – allein in Beni – bei einer Einwohner*innenzahl von elf Millionen in ganz Bolivien.
Mehr als 80 Umweltorganisationen werfen der Regierung nun „Ökozid“ vor und fordern die Abschaffung des Gesetzes 741 und des Dekrets 3.973. Die Regierung der Bewegung zum Sozialismus (MAS) weigert sich jedoch, diese Regelungen aufzuheben. Stattdessen schlug Evo Morales ein großes „Rückgewinnungsprogramm“ für die zerstörten Gebiete vor, das sich auf die Phase nach den Bränden konzentrieren werde. Er verkündete zudem eine „ökologische Pause“, während der der Verkauf von verbranntem Land bis zu dessen Regeneration verboten ist, sodass aus den illegalen Brandrodungen zumindest vorerst kein Profit zu schlagen ist.
Doch noch brennt es und vielerorts ist die Lage nicht unter Kontrolle. Tausende Soldat*innen und Freiwillige kämpfen seit Wochen gegen die Feuer. Nach massivem Druck aus der Zivilbevölkerung hat Morales internationale Hilfe ange­fordert, diese kommt unter anderem aus Argentinien, Peru und Chile. Und auch Russland, China und die EU schicken Geld und Expert*innen.
Eigentlich steckt Bolivien gerade mitten im Wahlkampf. Am 20. Oktober sind Präsidentschaftswahlen, bei denen auch Evo Morales für eine vierte Amtszeit kandidiert. Den Wahlkampf hat Morales derweil offiziell ausgesetzt. Videos im Netz zeigen ihn im blauen Overall der Brigadistas, wie er in Chiquitanía mit Spaten und Wasserschlauch gegen die Flammen kämpft – manchmal ist kein Wahlkampf eben auch Wahlkampf. Lange blieb er jedoch nicht, denn am nächsten Tag erwartete man ihn schon zu der offiziellen Feier anlässlich der ersten China-Fleischexporte.
Morales’ Anti-Umwelthaltung ist nicht neu. Sein Versuch, eine Straße durch den TIPNIS-Nationalpark zu bauen (siehe LN 519/520), markierte bereits vor Jahren das Ende der Unterstützung von Teilen seiner Basis. Obwohl erste Umfragen ein knappes Ergebnis voraussagen, ist es dennoch unwahrscheinlich, dass die aktuelle Kritik an Morales ihn bei den anstehen Wahlen den Sieg kosten könnte. Nichtsdestotrotz steht Evo Morales vor der Herausforderung, seine Fehler zu korrigieren, das heißt das Gesetz 731 und das Dekret 3.973 aufzuheben und eine Gesetzgebung anzuwenden, die Umweltkriminalität verfolgt und bestraft. Andernfalls bleibt unklar, was ihn in Sachen Umweltpolitik von Bolsonaro unterscheidet und seine Inszenierung als Verteidiger der Pachamama rechtfertigt.

 

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