Neues Lithiumabkommen ignoriert Indigenenrechte

Mineral von nationalem Interesse In einem Salzsee in der Atacamawüste wird Lithium abgebaut (Foto: Sophia Boddenberg)

Unter der Erde des Salar de Atacama, einem Salzsee in der Atacamawüste, schlummern die größten Lithiumreserven der Welt. Chile ist nach Australien der wichtigste Lithiumexporteur auf dem Weltmarkt. Exportiert wird hauptsächlich nach China, aber auch nach Europa und in die USA. Die globale Nachfrage nach Lithium boomt, weil das Metall ein zentraler Bestandteil für die Herstellung von Batterien für Elektroautos ist. Bisher dominieren das chilenische Unternehmen SQM und der US-amerikanische Konzern Albermarle den Lithiumbergbau in Chile. SQM hat keinen guten Ruf. Pinochets Schwiegersohn, Julio Ponce Lerou, war lange Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzender. Außerdem läuft ein Gerichtsverfahren gegen Politiker*innen und ehemalige Manager*innen von SQM, denen Bestechung, illegale Politikfinanzierung und Steuerhinterziehung vorgeworfen wird.

Lithium ist in Chile gesetzlich als ein Mineral von nationalem Interesse definiert und nicht konzessionsfähig. Unternehmen müssen deshalb Verträge mit dem Staat abschließen, um das Metall abbauen zu dürfen. Der Vertrag, der SQM den Lithiumabbau in der Atacama-Salzwüste genehmigt, läuft 2030 aus, der von Albermarle 2043. Die von Boric angekündigte Absichtserklärung sieht vor, dass Anfang 2025 aus dem Staatskonzern Codelco und SQM ein Gemeinschaftsunternehmen hervorgehen soll. Codelco soll mit 50 Prozent plus einer Aktie Mehrheitseigentümer sein und von 2031 bis 2060 einen Vertrag zum Abbau erhalten. Das bedeutet, dass der Staat die Kontrolle über das neue Unternehmen haben wird. SQM wird bis 2031 eine zusätzliche Produktions- und Verkaufsquote von 165.000 Tonnen gewährt. Das Abkommen ist Teil der Nationalen Lithiumstrategie, die Boric im April 2023 angekündigt hatte.

Die indigenen Gemeinden der Likan Antai, auch bekannt als Atacameños, die seit Tausenden von Jahren in der Atacamawüste leben, protestierten Anfang Januar tagelang gegen die Vereinbarung. Sie sperrten die Zufahrtsstraße zur Anlage von SQM in der Wüste, woraufhin das Unternehmen die Produktion einstellen musste. „Wir sind nicht bereit, weiterhin eine Opferzone zu sein“, heißt es in einer Erklärung des Rats der Völker der Atacameños, dem 18 Gemeinden angehören. Sie fordern Boric auf, die Salzwüste zu besuchen und „sich vor Ort ein Bild von den Schäden zu machen, die durch den Abbau in den umliegenden Gemeinden entstanden sind“, heißt es weiter. Die indigenen Gemeinden waren nicht an den Verhand­lungen zum Abkommen zwischen Codelco und SQM beteiligt, werden aber die sozialen und ökologischen Kosten tragen.

Die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, die Chile unterschrieben hat, sieht vor, dass die indigenen Völker konsultiert werden müssen, wenn gesetzgeberische Maßnahmen sie unmittelbar berühren. Die Vereinbarung zwischen Codelco und SQM sieht vor, die Lithiumabbaumengen bis 2030 um ein Drittel auf 300.000 Tonnen pro Jahr zu erhöhen. Derzeit wird Lithium aus Salzwasser gewonnen, das aus der Wüstenerde in riesige Becken gepumpt wird und dort unter der Sonne verdunstet. Zusätzlich wird auch Süßwasser verbraucht. Dieser Prozess wirkt sich auf das Ökosystem der Wüste aus und auf die ohnehin knappen Wasserressourcen. Eine erhöhte Abbauquote wird die indigenen Völker vor Ort also unmittelbar betreffen.

Auch chilenische Umweltorganisationen sehen das Abkommen kritisch. Lucio Cuenca, Direktor der Lateinamerikanischen Beobachtungsstelle für Umweltkonflikte OLCA, spricht von einer „Verantwortungslosigkeit gegenüber der Umwelt und den indigenen Völkern“. Er kritisiert, dass die Vereinbarung keine Studien über die Auswirkungen der erhöhten Abbauquoten auf die Umwelt beinhaltet. Die Regierung hat zwar angekündigt, dass neue Technologien und Verfahren angewandt werden sollen, darunter die sogenannte direkte Extraktion, bei der Lithium direkt aus der Flüssigkeit extrahiert und das Restwasser zurück in den Untergrund gepumpt wird, um die Wasserressourcen zu schonen. „Diese Technologie wird bisher nicht angewandt und wurde nicht für Projekte dieser Größenordnung entwickelt. Es handelt sich um einen Slogan, um den Lithiumabbau zu rechtfertigen, ohne die nötigen Umweltstudien durchzuführen“, sagt Cuenca.

Venus Reyes, Forscherin der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol, kritisiert, dass die Vereinbarung zwischen Codelco und SQM eine neokoloniale Logik wiederholt. „Chile soll Lithium für den Globalen Norden bereitstellen und dafür eine ganze Region austrocknen. Und das wird als Weg der Entwicklung präsentiert“, sagt sie. Zwar würde der chilenische Staat durch das Abkommen höhere Einnahmen aus dem Lithiumabbau erzielen. „Aber zu welchem Preis?“ Die Vereinbarung vertiefe das exktraktivistische Wirtschaftsmodell, das auf den Abbau und Export unverarbeiteter Rohstoffe basiert und das für einen langen Zeitraum, nämlich bis 2060. „Dieses Abkommen schafft einen Präzedenzfall“.

Boric hat damit zwar sein Ziel erreicht, dem Staat eine stärkere Rolle im Lithiumbergbau einzuräumen. Aber die Garantien für soziale und ökologische Gerechtigkeit, die Indigene und Umwel­tschützer*innen erwarten, hat er nicht geschaffen.

Was sind zwei Monate gegen 500 Jahre?

Straßenblockade Protestcamp bei Salinas Grandes (Foto: Lisa Pausch)

Es ist Winter in Argentinien. In Buenos Aires berichteten Protestierende, dass die Polizei es ihnen nicht erlaubte, Chemietoiletten aufzustellen oder Zelte zum Schutz gegen Kälte, Wind und Regen zu nutzen. In Jujuy hatten sich seit Mitte Juni teilweise bis zu 20 Protestcamps gebildet, der jüngste Teilnehmer war nicht einmal ein Jahr alt, die ältesten über 80. „Was sind zwei Monate auf der Straße gegen 500 Jahre Widerstand?“, sagte eine Frau in ihren 30ern an einem der Lagerfeuer.

Die Proteste in Jujuy finden unter dem Motto El Tercer Malón de la Paz statt. Malón kommt aus dem Mapudungun und bedeutet „Invasion”. Der Name knüpft an die beiden historischen Protestzüge der indigenen Völker im Norden Argentiniens an. Die Malones 1946 und 2006 versuchte die Politik mit der Aussicht auf Landtitel zu beruhigen, auf die warten die allermeisten Gemeinden bis heute.

17 Jahre später protestiert nun eine neue Generation. Die Geschichte wiederholt sich, und die Reaktionen sind immer die Gleichen. „Das ist doch alles politisch”, sagen viele und winken sogleich ab. Die Proteste seien finanziert von der Regierung in Buenos Aires. Dieses Narrativ nähren auch Medien, die der konservativ-bürgerlichen Regierung in Jujuy nahestehen. Der Gouverneur der Provinz, Gerardo Morales, spricht von einem „versuchten Staatsstreich”. Noch während der Proteste wurde bekannt, dass Morales als Vize hinter dem Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires, Horacio Larreta, bei den Vorwahlen im August antreten würde. Es brauchte also ein gutes Bild aus Jujuy – und so entstanden, während die indigenen Gemeinden in den Anden protestierten, im Tal der Hauptstadt San Salvador de Jujuy Pressebilder von Handschlägen mit chinesischen Investoren. Am Tag nach den Vorwahlen und nach einem ernüchternden Ergebnis für Jujuys Gouverneur Morales, begann die Polizei, gegen das Protestcamp in Purmamarca vorzugehen. „Unser Zelt wurde zerstört, unsere Decken und Vorräte verbrannt“, berichten mehrere Teilnehmer*innen.

Am 29. August schuf die Regierung in Buenos Aires nun per Dekret eine Kommission, die innerhalb von 60 Tagen Beschwerden zu institutioneller Gewalt im Zusammenhang mit den Protesten untersuchen soll. Für die Demonstrierenden ist das ein kleiner Fortschritt, doch längst nicht genug. „Wir werden weiter protestieren, bis die Verfassungsreform fällt”, sagte Geronimo. Er ist um die 40 und gehört dem Volk der Kolla an. Geronimo heißt eigentlich anders. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in den Medien sehen, aus Angst vor Verfolgung. Straßensperren sind als Protestform laut der neuen Verfassung verboten, um – so steht es in dem Text – das „Recht auf sozialen Frieden“ zu schützen. Geronimo befürchtet, dass die Regierung mit der Verfassungsreform eine Art Blankoscheck für Bergbauprojekte über die Köpfe der indigenen Gemeinden hinweg schafft.

„Die meisten Verfassungsartikel richten sich gegen die indigene Bevölkerung”, sagt er, „sie richten sich gegen die Mutter Erde, die Pachamama, gegen unseren Lebensraum.” Mit der Reform verändert sich an vielen Stellen der Ton der Verfassung. Mehrere Sätze zur zur Verhinderung von Umweltschäden wurden gestrichen. Prominent steht in dem Text nun insbesondere der Teil, der bei schon entstandenen Umweltschäden Entschädigungen garantiert. Besonders problematisch ist ein Artikel, der sich auf staatliche Grundstücke bezieht. Viele indigene Gemeinschaften haben nach wie vor keine Landtitel und leben damit offiziell auf staatlichen Grundstücken. Die alte Verfassung garantierte die Vergabe von Landtiteln bevorzugt an Anwohner*innen und Kooperativen, die darauf arbeiten und heimisch sind. Dieser Teil wurde gestrichen.

„Lithium ist Brot für heute und Hunger für morgen”

An den Salinas Grandes kämpfen mehr als 30 Gemeinden seit 2010 auch mithilfe von Anwält*innen gegen den Lithiumabbau. Damals hatten ausländische Unternehmen Testbohrungen durchgeführt. Das ILO-Übereinkommen über indigene Völker (ILO-Konvention 169) sieht zwar vor, dass indigene Gemeinschaften konsultiert werden müssen, „wann immer gesetzgeberische oder administrative Maßnahmen, die sie unmittelbar berühren können, erwogen werden”. Die Befragungen müssen frei und unabhängig stattfinden. Doch die Unternehmen versuchen immer wieder die ILO-Konvention 169 zu umgehen, sagt die Politikwissenschaftlerin Melisa Argento. Argento forscht zu Nachhaltigkeit von Lithiumprojekten in der Region. „Die Unternehmen werben um die Zustimmung dieser vulnerablen Gruppen“ mittels Jobangeboten. Gemeinden, die sich im Widerstand gegen die Lithiumprojekte organisiert haben, lehnten solche Angebote pauschal ab, sagt Geronimo. „Es geht um unsere Zukunft, denn wenn unser Ökosystem zerstört wird, dann können wir hier nicht mehr leben.”

Nach den Zahlen zu urteilen, werden dabei kaum neue Arbeitsplätze geschaffen, meint Argento, „vor allem in der ersten Projektphase, beim Bau wird lokale Arbeitskraft gebraucht. Danach läuft das Projekt vielleicht vierzig Jahre, zerstört die Umwelt und vertreibt die lokale Wirtschaft.” Viele Gemeinschaften sagen: Lithium ist Brot für heute und Hunger für morgen.

Inzwischen hat Lipán, eine der Gemeinschaften an den Salinas Grandes, ein Abkommen mit der Regierung unterschrieben. Wenig später veröffentlichte die Pressestelle ein Foto von Kindern mit Laptops in der Hand, gespendet von einem Lithiumunternehmen. Berichten aus Lipán zufolge ist die Gemeinde inzwischen gespalten: Die Entscheidung hätten einige wenige Personen um die Gemeindevorsteherin getroffen.

Nachrichten wie diese versetzen Geronimo in Alarmbereitschaft. Denn das Grundstück, auf dem Lipán liegt, ist Teil der Salzwüste und damit Teil des Ökosystems, in dem auch Geronimo lebt. Schon in der Vergangenheit gab es Bergbauprojekte in der Region, die Mensch und Umwelt belastet haben. „Die Minen haben besser bezahlt und eine Unterkunft gestellt“, erzählt Geronimo. Eine weiterführende Schule gab es damals – anders als heute – nicht in seinem Dorf. „In der Schule haben wir nichts über unser kulturelles Erbe gelernt“, kritisiert er. „Ich habe mich erst nach der Schule mit meiner Herkunft beschäftigt. Ich habe in San Salvador gearbeitet als Bäcker, als fliegender Händler.” Auf den Straßen der Hauptstadt habe er zwar einiges gelernt, doch Diskriminierung war Teil des Alltags. Geronimo ist nach Quebraleña zurückgegangen. Heute engagiert er sich als Teil des Dorfvostands. Er möchte für die Jugendlichen Perspektiven schaffen. „Vielleicht können wir auch mit dem Tourismus beginnen. Wenn wir im Dorf noch mehr Leute sind, dann haben wir auch mehr Gewicht. Und wenn es Arbeit gibt, finden die jungen Leute hier ihre Zukunft.”

NICHT ALLES HARMONISCH

Für die MAS läuft nicht alles rosig Präsident Luis Arce und Expräsident Evo Morales bei einer Demonstration (Foto: ABI)

Als Luis Arce im Oktober 2020 mit 55 Prozent der gültigen Stimmen und großem Vorsprung zum Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien gewählt wurde, war das Ergebnis in dieser Deutlichkeit für viele eine große Überraschung. Die Wahl brachte somit die Erkenntnis: Die Bewegung zum Sozialismus (MAS) kann auch ohne ihre Identifikationsfigur Evo Morales, Präsident von 2006 bis 2019 und immer noch Parteivorsitzender, Wahlen gewinnen. Sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat erreichte die linke Partei 2020 wieder eine absolute Mehrheit.

Ein Jahr zuvor hatte es noch ganz anders ausgesehen: Die Wahlen 2019 hatten Morales und die MAS zwar gewonnen. Nach Vorwürfen des Wahlbetrugs und tagelangen Protesten auf den Straßen sowie einem Aufstand von Teilen der Polizei forderten Militärs jedoch Morales Rücktritt und er flüchtete aus dem Land. Die Macht übernahm als selbsternannte Übergangspräsidentin die rechte Senatorin Jeanine Áñez, die dann ein Jahr lang an dem Amt festhielt. In den Wochen nach ihrer Amtsübernahme lieferten sich Anhänger*innen aus verschiedenen politischen Lagern gewalttätige Auseinandersetzungen – sowohl untereinander als auch mit Polizei und Militär. Im November 2019 kam es dabei an mehreren Orten zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Massakern und außergerichtlichen Hinrichtungen durch die De-facto-Regierung von Áñez, beklagte die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission in ihrem Bericht vom Juli 2021. Dabei wurden mindestens 37 Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Mit der Wahl von Luis Arce ist die Linke wieder an der Macht und die Lage scheint sich beruhigt zu haben. Arce, der als enger Vertrauter von Morales gilt, ist Ökonom und war während dessen Präsidentschaft Wirtschaftsminister. Er steht für den sozial gerechten wirtschaftlichen Aufschwung der vergangenen Jahre in Bolivien. Nach zwei Jahren ist die Bilanz seiner Regierung nicht schlecht:

Die COVID-19-Pandemie hat zwar schmerzhaft die Schwächen der Gesundheitsversorgung in Bolivien aufgezeigt, monatelange Einschränkungen wie Ausgangssperren oder die Schließung der Märkte trafen vor allem Menschen, die ihr Essen und Geld für andere Ausgaben von Tag zu Tag verdienen müssen: Taxifahrer*innen und Busfahrer*innen, Marktverkäufer*innen und die bäuerliche Bevölkerung. Die wirtschaftliche Situation hat sich inzwischen aber erholt, Boliviens Bruttoinlandsprodukt wuchs im Jahr 2021 um 6,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das Land weist derzeit die niedrigste Inflationsrate in ganz Lateinamerika auf, im August 2022 lag sie im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 1,6 Prozent.

Die Regierung Arce setzt auf öffentliche Investitionen und verspricht eine Strukturpolitik, die Wertschöpfungsketten zunehmend im Land hält. Nach dem jahrzehntelangen Ausverkauf der heimischen Rohstoffe an ausländische Firmen kündigt die Regierung eine nationale Industrialisierung von Lithium an. Bislang ist Bolivien jedoch weiter stark vom Export von Rohstoffen wie Erdgas und Gold abhängig, und damit auch von der Höhe der Preise auf dem Weltmarkt. Zudem plant die Regierung staatlich finanzierte Megaprojekte, den Bau von Straßen, Industrieanlagen, Gesundheitszentren, Plätzen und Parks im Wert von mehreren Milliarden US-Dollar. So soll bis zum „Bicentenario“, dem 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Boliviens am 6. August 2025, die Wirtschaft des Landes gestärkt und die Lebenssituation der Bolivianer*innen verbessert werden.

Sogar der IWF hob Mitte September 2022 die Erfolge des Landes bei der Stabilisierung der Wirtschaft und der Armutsbekämpfung hervor. Er empfahl aber auch, die Bindung der bolivianischen Währung Boliviano an den Dollar-Kurs und staatliche Subventionen wie die für Kraftstoffe zu überprüfen. Präsident Arce lehnte diese „alten Rezepte“ umgehend ab: „Unser soziales, gemeinschaftliches und produktives Wirtschaftsmodell ist souverän und zeigt weiterhin seinen Erfolg beim Abbau sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheiten in Bolivien“, twitterte er.

Auch im Ausland wirbt Boliviens Präsident für das, was er in seinem gleichnamigen Sachbuch als ein „erfolgreiches und gerechtes Wirtschaftsmodell“ beschreibt. Anfang September traf er sich in Brasilien mit Präsidentschaftskandidat Lula da Silva und schenkte ihm das Buch. Zu anderen sich als links verstehenden Regierungen Lateinamerikas suchte Boliviens Staatschef ebenfalls den Kontakt, traf sich in den vergangenen Monaten mit den Präsidenten von Chile und Peru, Gabriel Boric und Pedro Castillo. Mitglieder des chilenischen Verfassungskonvents erkundigten sich außerdem im Zuge der Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Bolivien zu Themen wie Plurinationalität.

Als besonders eng gilt das Verhältnis zu Argentinien und dem dortigen Präsidenten Alberto Fernández. Beide Staaten gehören zu den Ländern mit den größten Vorkommen an Lithium weltweit und vereinbarten eine Zusammenarbeit bei der Herstellung von Zellen und Batterien. Im September 2022 präsentierte Luis Arce dann in der UN-Vollversammlung 14 Vorschläge für eine sozial gerechtere Welt, darunter der Zugang zu Gesundheitssystemen für alle Menschen, die Industrialisierung von Lithium zum Wohle aller und als Grundpfeiler einer Energiewende sowie Ernährungssouveränität in Harmonie mit der Erde.

Dennoch ist nicht alles harmonisch in Bolivien. Ausgerechnet an einem nur scheinbar wenig konfliktgeladenen Thema entzündete sich im August 2022 der permanent schwelende Konflikt zwischen der Zentralregierung und der MAS einerseits und ihren politischen Gegner*innen vor allem im östlichen Tiefland Bolivien andererseits: am Zensus. Präsident Arce hatte die für November 2022 geplante Erhebung statistischer Bevölkerungsdaten auf Mitte 2024 verschieben lassen. Darauf folgte ein Aufschrei der Opposition. Der ultrarechte Gouverneur des Departements Santa Cruz, Luis Fernando Camacho, rief im August 2022 zu einem zweitätigen Streik auf und forderte, der Zensus müsse noch 2023 stattfinden. Zuletzt drohten die einflussreichen Bürgerkomitees in Santa Cruz sogar mit einem unbefristeten Streik, falls die bolivianische Regierung dieser Forderung nicht nachkommt.

Denn beim Zensus, der etwa alle zehn Jahre erhoben wird, geht es nicht zuletzt um Geld und politischen Einfluss. Das Departement Santa Cruz gilt als wirtschaftsstärkste Region des Landes, seine Hauptstadt Santa Cruz de la Sierra ist mittlerweile die bevölkerungsreichste Stadt Boliviens und wächst weiter. Eine höhere Zahl an Einwohner*innen bedeutet für Städte und Regionen wiederum mehr finanzielle Zuwendungen aus Steuern und mehr Parlamentssitze. Hinzu kommt der andauernde Konflikt zwischen dem in der Mehrheit politisch konservativen, von Nachkommen der Einwander*innen aus Europa geprägten Santa Cruz und der Zentralregierung in La Paz im Hochland. Luis Fernando Camacho selbst spielte bei den Protesten gegen Morales 2019 eine zentrale Rolle, als er mit der Bibel in der Hand in den Präsidentenpalast eindrang, um Morales zum Rücktritt zu drängen. Den Streik in Santa Cruz bezeichneten Anhänger*innen der Regierung als erneuten Versuch eines rechten Staatsstreichs. Ende August 2022 zogen Zehntausende Menschen bei einem „Marsch zur Verteidigung der Demokratie und des wirtschaftlichen Wiederaufbaus“ von der Millionenstadt El Alto zum Regierungssitz La Paz, um ihre Unterstützung für die Regierung von Präsident Arce zu demonstrieren. „Das Volk will keine Putsche mehr!“, betonte Arce dort in einer Rede. „Es wird sich nicht von der Rechten verführen lassen, weil es seit 2019 gelernt hat, dass die Rechte sich nur die eigenen Taschen füllen und die der Bevölkerung leeren will“. Zum Protest aufgerufen hatten auch Basisbewegungen, die traditionell eng mit der MAS verbunden sind: der Pakt der Einheit, der Dachverband der Gewerkschaften Boliviens (COB) sowie die Organisation indigener Bäuerinnen Bartolina Sisa.

Doch das Verhältnis der Regierung zu anderen Gruppen der Zivilgesellschaft wirkt getrübt. So wurde die frühere Übergangspräsidentin Jeanine Áñez im Juni 2022 für die Amtsübernahme 2019 zu zehn Jahren Haft wegen Verstößen gegen die Verfassung verurteilt, ein Prozess wegen der Massaker im November 2019 steht aber noch aus. Opfer und ihre Angehörigen klagen bis heute darüber, dass sie von der Regierung im Stich gelassen und nicht entschädigt worden seien. Indigene Organisationen und Naturschützer*innen kritisieren die Zerstörung der Umwelt und indigener Territorien durch den Bau von Straßen und Staudämmen sowie durch den Bergbau ebenso wie die immense Abholzung des Regenwaldes für Sojaanbau und Viehwirtschaft. Auch gegen den Machismo und geschlechtsspezifische Gewalt, die allgegenwärtige Korruption, Vetternwirtschaft und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz werden Proteste lauter. Diese kritischen Stimmen zu ignorieren, könnte für Luis Arce und der MAS durchaus gefährlich werden. Die Mobilisierungen gegen Morales in den drei großen Städten La Paz, Santa Cruz und Cochabamba im Jahr 2019 hatten bereits gezeigt, dass es der MAS in der wachsenden urbanen Mittelschicht an Rückhalt fehlt. Und auch bei den Regionalwahlen im März 2021 erzielte die Partei ein eher durchwachsenes Ergebnis.

Neue Goldgrube Der Lithiumabbau im Salar de Uyuni könnte Bolivien wirtschaftlich nachhaltig stärken (Foto: Coordenação-Geral de Observação da Terra/INPE via Flickr , CC BY-SA 2.0)

Die Wahl von Arce schien auch die Möglichkeit einer leichten politischen Neuausrichtung, doch offenbar ist es für den Präsidenten und Teile der MAS schwierig, den langen Schatten von Evo Morales zu verlassen. Morales selbst hatte Anfang 2020 in seinem damaligen Exil in Argentinien eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sei, 2019 noch einmal anzutreten und für eine insgesamt vierte Amtszeit in Folge zu kandidieren. Jetzt scheint sich der immer noch einflussreiche Parteivorsitzende der MAS für eine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2025 vorzubereiten. Dabei kommt es auch innerhalb der Partei zu Streitereien, die von den oppositionellen Medien genüsslich als Zeichen eines kommenden Zusammenbruchs der MAS gedeutet werden: Anfang September beschwerte sich Morales, dass Regierungsminister Eduardo del Castillo und Teile des Kabinetts einen „Plan Negro“ verfolgten, um ihn zu diskreditieren und seine Kandidatur im Jahr 2025 zu verhindern. Del Castillo antwortete darauf nicht weniger drastisch und bezeichnete die früheren Minister der Regierung Morales als „Krebsgeschwüre“, die den Staatsstreich im Jahr 2019 nicht verhindert hätten. Diese Auseinandersetzungen innerhalb der MAS übertönen im aktuellen politischen Geschehen gesellschaftliche Probleme wie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit und Armut, Kriminalität und Korruption und die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die strukturelle Diskriminierung von Frauen und Mädchen und Umweltzerstörungen. Gerade diese Themen sind es jedoch, die in einem Land wie Bolivien, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist, derzeit an Aufmerksamkeit gewinnen. Anfang dieses Jahres waren mehrere Tausend Frauen zum Gerichtshof in La Paz gezogen, um gegen machistische Gewalt und die Korruption in der Justiz zu demonstrieren. In Bolivien werden jedes Jahr mehr als 100 Frauen und Mädchen Opfer von Feminiziden, werden aufgrund ihres Geschlechts getötet. „Ist Dir klar, wie wenige der mehr als 100 Feminizide, die in Bolivien jedes Jahr verübt werden, vor Gericht gebracht werden und wirklich Gerechtigkeit erfahren? Es gibt so viele Fälle von Morden an Frauen, und viel zu häufig bleiben Vergewaltiger und Frauenmörder unter dem Schutz von Staat und Justiz straffrei“, mahnte Kiyomi Nagumo, Aktivistin der ökofeministischen Gruppe Salvaginas.

Ökofeministische Ansätze zeigen Auswege aus der Krise auf

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Zu diesen neuen, progressiven Forderungen gehört auch der Anspruch, dass die linke Regierung das häufig betonte Leben im Gleichgewicht mit der Mutter Erde verwirklicht und das neo-extraktivistische Wirtschaftsmodell Boliviens mit der Ausbeutung von Rohstoffen und dem großflächigen Anbau von Soja und der Viehwirtschaft für den Export überdenkt. Die Geschichte Boliviens ist geprägt von der Ausbeutung von Ressourcen auf Kosten der Menschen und der Natur – erst durch die spanischen Invasoren, die Silber aus Bolivien raubten, nach der Unabhängigkeit machten dann lokale Eliten und transnationale Konzerne mit Zinn und Kautschuk ein Vermögen.

Diesen historischen Fehler will die bolivianische Regierung beim Metall Lithium nicht wiederholen und kündigt deshalb eine Industrialisierung des Rohstoffes im eigenen Land an. Nach Lithium gibt es weltweit eine sehr große Nachfrage, der seltene Rohstoff gilt als Schlüsselmetall in der Batterietechnologie für Elektrofahrzeuge. Bolivien verfügt im Salar der Uyuni, dem größten Salzsee der Erde, über etwa ein Fünftel der weltweit bekannten Vorkommen an Lithium. Von Bedeutung ist deshalb, wie die Regierung den Abbau und eine Industrialisierung umsetzt, die Ansprüche der am Salar de Uyuni lebenden Gemeinschaften regelt und gleichzeitig mögliche Umweltzerstörungen durch den Abbau von Lithium und durch den hohen Verbrauch von Wasser für die Gewinnung des Metalls verhindert.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier „Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika“. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

PRIVATUNTERNEHMEN MÜSSEN DRAUSSEN BLEIBEN

Die mexikanische Regierung hat vor einigen Tagen erklärt, einen Gipfel mit den Lithium-Förderländern der Region, Argentinien, Chile und Bolivien, organisieren zu wollen. Das Treffen soll dem Erfahrungsaustausch dienen und Mexiko dabei helfen, die künftige Lithium-Produktion besser zu definieren, kündigte Präsident Andrés Manuel López Obrador an. Expertise ist durchaus gefragt, denn nach der Verstaatlichung des Lithium-Abbaus in Mexiko gibt es noch viele offene Fragen.

In einer hitzigen Atmosphäre voller Provokationen, Beleidigungen und lautstarker Beschimpfungen hatte Mexikos Parlament Mitte April eine Reform des Bergbaugesetzes beschlossen. Der von Präsident López Obrador eingebrachte Gesetzentwurf erklärt Lithium, das eine wichtige Rolle für die Produktion von Smartphones, Solarzellen und Batterien für Elektroautos spielt, zu einem strategischen Mineral, dessen Erkundung, Abbau und Nutzung in den Händen des Staates verbleibt.

Ein Leitartikel der linken Tageszeitung La Jornada feierte die Entscheidung als „historischen und äußerst positiven Schritt für Mexiko“. Die Gesetzesänderung „stellt einen notwendigen Schutz und eine Garantie für die Entwicklung und Unabhängigkeit des Landes dar“, hieß es.

Die Abstimmung über das Bergbaugesetz erfolgte weniger als 24 Stunden, nachdem die von López Obrador vorangetriebene Verfassungsreform des Energiesektors an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Parlament gescheitert war. Der Präsident hatte mit der Reform die staatliche Kontrolle über den Strommarkt stärken wollen. Eine empfindliche, aber angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament wohl einkalkulierte Niederlage. López Obrador bezeichnete das Votum der Opposition als „Verrat an Mexiko“. Das setzte den Ton für die Abstimmung über die Änderung des Bergbaugesetzes, für die nur eine einfache Mehrheit nötig war. Mit dieser wurde die Verstaatlichung des Lithiums, eines der Schlüsselelemente der Initiative zur Elektrizitätsreform, doch noch durchgesetzt.

Nach Verstaatlichung gibt es viele offene Fragen

Die Opposition kritisierte die Eile bei der Verabschiedung des Gesetzes und wies darauf hin, dass Lithium bereits nationalisiert und in der Verfassung geschützt sei. Mit dem geänderten Bergbaugesetz sollen nach dem Willen der Regierung Konzessionen für den Lithium-Abbau an private Unternehmen verboten werden, so dass diese extraktive Industrie in der alleinigen Zuständigkeit des Staates liegt. Dafür soll eine öffentliche, dezentrale Behörde geschaffen werden, die so genannte Mexikanische Lithiumagentur (Amlitio). Präsident López Obrador sagte wenige Tage nach der Parlamentsabstimmung, dass die Aufgabe dieser Agentur noch nicht vollständig definiert sei.

In Kürze werde entschieden, ob sie mit dem Finanz-, Wirtschafts- oder Energieministerium verbunden sein wird, obwohl er nicht ausschloss, dass auch das staatliche Energieunternehmen Comisión Federal de Electricidad (CFE) beteiligt sein wird.

„Die mexikanische Regierung hat Recht, wenn sie Lithium schützt“, erklärt der Ökonom Francisco Ortiz von der Universidad Panamericana de México gegenüber BBC. „Das Problem ist, dass wir nicht aus den Fehlern gelernt haben, die bei Pemex aufgetreten sind.“ Der staatliche Erdölkonzern Pemex kümmert sich um die Ölförderung, den Transport und den Vertrieb. „Im Laufe der Jahre haben wir festgestellt, dass dadurch ein ineffizientes Superunternehmen mit Milliarden von US-Dollar Schulden entstanden ist“, sagt Ortíz und spricht sich stattdessen für die Erteilung von „eingeschränkten und kontrollierten“ Konzessionen in einigen Bereichen des Lithiumprozesses aus. Im Gegensatz zu Ländern mit großen Lithiumvorkommen wie Chile oder Bolivien befindet sich das Mineral in Mexiko in tonhaltigem Gestein, das aufgebrochen werden muss, woraufhin das Lithium durch chemische Prozesse herausgelöst wird. „Es gibt bereits Labortests, die gezeigt haben, dass es technisch möglich ist, Lithium aus Ton zu gewinnen, aber wir müssen sehen, ob es wirtschaftlich machbar ist, wir müssen diese Industrie entwickeln“, so Armando Alatorre Campos, Präsident der Hochschule für Bergbauingenieure, Metallurgen und Geologen von Mexiko (CIMMGM) gegenüber dem Wirtschaftsblatt El Financiero.

Mexiko will die Technologie erst entwickeln oder erwerben

López Obrador räumte ein, dass Mexiko nicht über die Technologie für die Lithium-Gewinnung verfügt, „aber wir werden die Technologie entwickeln oder wir werden sie erwerben.“ Die Entwicklung der nötigen Technologie wird voraussichtlich viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen._Aufgrund der geringen Lithium-Konzentrationen der mexikanischen Vorkommen sind die Aussichten auf wirtschaftlich rentable Erschließung aber eher gering. „Das sind langfristige Prozesse mit Investitionen in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar, und obwohl einige Vorkommen schon seit Jahren bearbeitet werden, haben wir noch nicht die Erträge, um sagen zu können, dass wir mit der Produktion beginnen werden“, sagt Alatorre. Er beklagt die im Schnellverfahren verabschiedeten Änderungen des Bergbaugesetzes. Die Rechtsunsicherheit werde die Aktivitäten zahlreicher Projekte beeinträchtigen. Vorgängerregierungen hatten acht Konzessionen zum Lithium-Abbau an Privatunternehmen vergeben. Nur eine hat bislang zu Ergebnissen geführt. Es handelt sich um eine Lagerstätte im nördlichen Bundesstaat Sonora im Besitz des britischen Unternehmens Bacanora Lithum, das der chinesische Konzern Gangfeng übernehmen will. Dort sollen ab 2024 jährlich 17.500 Tonnen Lithium gefördert werden. In einer zweiten Phase könnte sich die Produktion auf 35.000 Tonnen pro Jahr erhöhen, was Mexiko theoretisch zu einem wichtigen Produzenten machen würde. Doch seit der Verstaatlichung des Lithium-Abbaus herrscht Unklarheit. López Obrador hat bereits angekündigt: „Alle genehmigten Lithiumverträge werden überprüft.“

Es kommt zu Enteignungen und Zwangsumsiedlungen

Miguel Mijangos Leal vom Mexikanischen Netzwerk der vom Bergbau betroffenen Menschen (REMA) verweist auf das Beispiel Bolivien. „Bolivien – das die mexikanische Regierung in dieser Frage beraten hat – hat das Lithium seit Evo Morales verstaatlicht, und bis heute ist es ihnen nicht gelungen, einen Ausbeutungsprozess zu konsolidieren“, so Mijangos. Die mexikanische Regierung werde es nicht schaffen, Lithium zu nutzen, „es sei denn, sie geht ein Geschäft mit der Privatwirtschaft ein und die verkauft ihr die Technologie.“

Für REMA geht es ohnehin nicht in erster Linie um den Lithiumreichtum in Mexiko, sondern um die sozialen und ökologischen Folgen der Ausweitung des Bergbaus im Zusammenhang mit der Energiewende, da Lithiumbatterien „auch viele andere Metalle benötigen, die mit neuen Technologien einhergehen“. „Es kommt zu Enteignungen und Zwangsumsiedlungen, zur Spaltung von Gemeinschaften und sogar zur Aufgabe von Dörfern“; hinzu komme die „wahllose Nutzung natürlicher Ressourcen wie Wasser, bis sie verbraucht sind“, so die Umweltorganisation.

EVOS UNVOLLENDETER SCHACHZUG


Salzhügel im Salar de Uyuni Unter den bolivianischen Salzseen liegen die größten Lithiumreserven der Welt (Foto: Pierre Doyen via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Irgendwann in den turbulentesten Tagen der jüngeren bolivianischen Geschichte schickte die bolivianische Regierung eine kurze Mitteilung an die Öffentlichkeit. Zehn Tage nachdem sich Evo Morales zum Sieger in der ersten Runde der Stichwahl erklärt hatte und sechs Tage vor dem Putsch der Opposition erklärte der Präsident die Rücknahme des Dekrets über die Gründung eines deutsch-bolivianischen Joint Venture zur Lithiumindustrialisierung. Gründe nannte er nicht.

Und so tappten in den Tagen darauf selbst Insider im Dunkeln. Wolfgang Schmutz, Chef des deutschen Unternehmens ACI Systems, das den Zuschlag für den Abbau der Lithiumvorkommen erhalten hatte, erklärte, er habe beim Duschen morgens im Radio von der Entscheidung der bolivianischen Regierung erfahren. Da er noch nicht offiziell informiert worden sei, arbeitete seine Firma erst einmal weiter an den Plänen für die Lithiumförderung. Die Bundesregierung erklärte sich genauso ahnungslos und selbst in höheren Kreisen von Morales’ Partei MAS, der Bewegung zum Sozialimus, wusste man nichts.

Umso überraschender war es, als Evo Morales eine Woche nach seiner Flucht nach Mexiko vor einer dpa-Kamera erzählte, dass er, wäre er noch Präsident, das Projekt doch realisieren wollte. Ein in Bolivien weitgehend unbekanntes Interview. Was war passiert, dass Evo Morales so kurzfristig eines seiner Paradeprojekte stoppte?

Noch im Dezember 2018 sah die deutsch-bolivianische Lithiumwelt ganz anders aus. Beide Seiten sparten bei der Vertragsunterzeichnung zur Förderung des bolivianischen Lithiums nicht mit Superlativen. Für die einen sollte es der große, selbstbestimmte Schritt zur Industrialisierung werden, für die anderen die Zukunftsgarantie der nationalen Automobilindustrie. Neben dem Präsidenten war der bolivianische Außenminister Diego Pary extra gekommen, und auch der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier ließ es sich nicht nehmen, die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens aus der bolivianisch-staatlichen YLB und der baden-württembergischen ACI Systems zu verkünden.

Kurzfristig stoppte Morales sein Paradeprojekt

Ab 2022 sollten 30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr gefördert und eine Batteriefabrik gebaut werden. Die deutsche Seite (ACI mit Unterstützung des Fraunhofer-Instituts und der thüringischen K-Utec) sollte die Technik liefern, die bolivianische trug derweil die Hauptinvestitionslast, sollte dafür aber auch mit 51 Prozent Anteilen die Oberhand über das Unternehmen behalten. Als Teil des Deals sollte das Lithium zunächst einmal exklusiv nach Deutschland exportiert werden, das sicherte der deutschen Automobilindustrie den Zugriff auf das Basismaterial für Elektroautobatterien und der bolivianischen Seite einen Abnehmermarkt.Es sollte der erste Schritt der Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt sein, die unter den bolivianischen Salzseen liegen. Die Regierung Evo Morales wollte die Asymmetrien der Weltwirtschaft brechen und nicht wie seit 400 Jahren nur Rohstofflieferant für die Industrienationen sein, sondern weitere Wertschöpfungsketten im eigenen Land behalten.

Statt der vorgesehenen 70 Jahre hielt der Deal wohl nicht einmal ein Jahr – zumindest nach aktuellem Stand.

Ausbeutung der größten Lithiumreserven der Welt

„Die Hauptmotivation für Evos Entscheidung war, die Proteste in Potosí einzudämmen“, vermutet Ressourcenexperte Oscar Campanini vom bolivianischen Dokumentations- und Informationszentrum CEDIB. Diese Protestbewegung entwickelte sich von April bis August 2019 in der Stadt Potosí, Hauptstadt der Region Potosí in deren Westen in Uyuni die großen Lithiumreserven liegen.Dabei ging es der Widerstandsbewegung vor allem um die niedrige regionale Beteiligung an den Gewinnen des Lithiumprojekts. Gerade einmal die gesetzliche Mindestquote von drei Prozent wurde dem Departamento Potosí zugestanden und das auch nur auf die Gewinne der reinen Rohstofferlöse. Beim Erlös aus weiterverarbeiteten Produkten wie Batterien greift die Beteiligung nicht.

Während der Gouverneur von Potosí seiner Partei MAS und seinem Chef Evo Morales die Treue hielt und die Pläne der Regierung unterstützte, führte das Bürgerschaftskomitee (Comité Cívico Potosinista) die Proteste an. An der Spitze: Marco Pumari – ein bisher national unbedeutender Lokalpolitiker, der Sohn eines Bergmanns ist und seine indigenen Wurzeln verleugnet. Unter Pumari forderte das Komitee elf statt drei Prozent Beteiligung und schaffte es außerdem, ein schon lange schwelendes Gefühl der Benachteiligung in einen immer stärker werdenden Regionalismus umzuwandeln. In Potosí lagern historisch einige der größten Schätze des Landes und trotzdem ist es bis heute eine der ärmsten Regionen Boliviens. Auf den Anti-Lithium-Demonstrationen wurde die Flagge von Potosí zum Standardutensil.

Das Bürgerschaftskomitee von Potosí, getragen von lokalen Vereinen, Unternehmer*innen und Organisationen, rief zum regionalen Streik gegen das Projekt auf und entwickelte sich zu einer wichtigen oppositionellen Kraft des Moments. So sehr, dass sich die Regierung der MAS kurz vor den Wahlen auf einen Dialog einließ. Morales versprach, in eine Batteriefabrik in Potosí zu investieren und den Hauptsitz der staatlichen Lithiumfirma YLB nach Uyuni zu verlagern.

30.000 bis 40.000 Tonnen Lithiumhydroxid pro Jahr

Doch an den Beteiligungsquoten wollte die Regierung festhalten und deswegen war es für Campanini auch „kein wirklicher Dialog auf Augenhöhe“.

Als dann in den Nachwahl-Wirren der Druck auf Morales und die MAS stieg, zogen von Potosí mehrere Karawanen Richtung La Paz um den Rücktritt des Präsidenten zu fordern. Als sich auch die Bergbau-Kooperativen, die trotz eines angespannten Verhältnisses immer hinter der MAS gestanden hatten, als wichtiger Machtfaktor den Protesten anschlossen, stoppte Evo Morales kurzerhand die bisherigen Pläne für den Lithiumabbau, um die frühere MAS-Hochburg Potosí zu besänftigen. Es konnte ihn nicht retten.

Das Militär putschte und Evo Morales meldete sich aus dem Exil per Video: Wäre er noch Präsident, würde das Lithiumprojekt umgesetzt. Im selben Video sagte er, die Opposition in Potosí wüsste nicht, wie viel Schaden sie dem Land verursache und sei von chilenischen Berater*innen über die Lithiumpläne getäuscht worden. Chile dient dabei in Bolivien durch die Wegnahme des Meerzugangs als Dauerfeindbild. Evo erklärte im selben Video noch etwas Bemerkenswertes: Die Verhandlungen mit den Bürgermeister*innen und Vertreter*innen der Region Uyuni im Westen des Departamento Potosí über eine Autonomie von Potosí seien schon sehr fortgeschritten gewesen. Wollte Evo also die lithiumreiche Region aus dem Departamento Potosí abspalten und sich so der lauten Beteiligungsforderungen entledigen? Dabei hätte ihm in die Karten spielen können, dass in Uyuni wiederum ein Benachteiligungsgefühl gegenüber der Stadt Potosí herrscht.

Zumindest spielte dieses zentralistische Politikverständnis einer zweifelhaften Opposition in die Hände. Das Bürgerschaftskomitee und Marco Pumari konnten so eine durchaus legitime Forderung nach höherer Beteiligung für sich vereinnahmen. Nach dem Sturz der MAS-Regierung hatte sich Pumari mehrfach an der Seite des rechtsradikalen Bürgerkomitee-Führers Luis Fernando Camacho aus Santa Cruz gezeigt. Zuletzt erklärte er, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gemeinsam mit Camacho kandidieren zu wollen.

Die Bundesregierung soll vermitteln

Somit scheint das Lithium statt zum Segen der Ära Morales zu ihrem Fluch geworden zu sein. Während Pumari sich als Regionalist einen Namen gemacht hat, musste Juan Carlos Cejas, MAS-Gouverneur von Potosí, unter Bedrohungen zurücktreten. Immerhin schaffte es die MAS, jemand aus den eigenen Reihen als Nachfolger einzusetzen.
Inwieweit sich die deutsche Seite auf Neuverhandlungen mit einer zukünftigen Regierung einlässt, bleibt abzuwarten. Von Seiten des Unternehmens ACI Systems wurde geäußert, dass man dort von einer Fortsetzung des Projekts ausgehe, jedoch die rechtliche Situation gemeinsam mit bolivianischen Partnern prüfe. ACI Systems will am bisherigen Vertrag festhalten und fordert die Bundesregierung zur Vermittlung auf. Auch Ressourcenexperte Campanini kann sich nicht vorstellen, dass mit der Rücknahme des Dekrets das letzte Wort im deutsch-bolivianischen Deal bereits gesprochen ist: „Ich glaube nicht, dass es so einfach ist, eine solche Entscheidung zu treffen, die so sehr die bilateralen Beziehungen zu Deutschland betrifft.“

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

AKKU AUFLADEN FÜR DIE ZUKUNFT

Akku aufladen: in Zukunft nicht nur für Tourist*innen
Akku aufladen: in Zukunft nicht nur für Tourist*innen (Foto: Evelyn Linde)

Per Elektromobilität smart, autonom und umweltfreundlich unterwegs sein – ein Zukunftstraum, den zurzeit viele träumen. Rund um die Uhr über das Smartphone mit der Welt vernetzt zu sein und flexibel überall mit dem Laptop arbeiten zu können, ist in Deutschland längst keine Zukunftsmelodie mehr. Die Begeisterung für die Zukunftstechnologie Elektroauto ist in Deutschland groß und unter dem Stichwort Industrie 4.0 wird die Revolution der industriellen Produktion durch die Digitalisierung in Politik und Wirtschaft heiß diskutiert. Die von erneuerbarer Energie betriebenen vermeintlich „grünen“ elektronischen Geräte und Fahrzeuge werden zudem als Lösung für die sozial-ökologische Krise gefeiert – dies ist ein großes Narrativ. Aber die digitale Vernetzung, Energiewende und Elektromobilität können nur in Fahrt kommen, wenn Batterien mit hoher Speicherkapazität dafür sorgen, dass auf halber Strecke nicht der Saft ausgeht. Hier kommt das „weiße Gold“ ins Spiel, Lithium.
„Rohstoffsicherung 4.0“ war Anfang Juli dieses Jahres das Thema des fünften Rohstoffkongresses des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V. (BDI), bei dem mit Johanna Wanka und Sigmar Gabriel gleich zwei Bundesminister*innen die Wichtigkeit des Themas in ihren Reden betonten. Die zentrale Frage, die in dem gläsernen Haus der deutschen Wirtschaft diskutiert wurde: Ist die Rohstoffversorgung für die sogenannten Zukunftstechnologien gesichert? Die Bundesministerin für Forschung und Bildung erläuterte, dass die neuen Technologien zu einem „drastischen“ Anstieg des Rohstoffverbrauchs von „wirtschaftsstrategischen Rohstoffen“ wie Indium, Germanium und Lithium führen werden. Am Tag zuvor hatte die Deutsche Rohstoffagentur (DERA) ihre Auftragsstudie „Rohstoffe für Zukunftstechnologien 2016“ vorgestellt, in der unterstrichen wird, dass für das Jahr 2035 ein massiv angestiegener Bedarf an mineralischen Rohstoffen erwartet wird. Immer wieder fällt an diesen beiden Tagen das Stichwort Lithium. Universitäten und Forschungsinstitute in Deutschland forschen zusammen mit privaten Unternehmen zur Gewinnung von Lithium mittels Recycling. Bisher ist die Technologie jedoch nicht so weit. Die Bundesregierung bemüht sich also auch, den Zugang zu diesem Rohstoff zu sichern. Woher kommt dieses heißbegehrte Leichtmetall?

Die weltweit größten Lithiumreserven befinden sich in dem auf über 3.600 Meter Höhe über dem Meeresspiegel liegenden Salzsee Salar de Uyuni im Süden Boliviens. Die Salzkruste des Salar de Uyuni erstreckt sich über eine Fläche von rund 10.000 Quadratkilometer und darunter liegt die Natursole mit den begehrten Mineralsalzen Lithium und Kalium, die bisher nicht gefördert werden. Diese Mineralsalze, die durch Verdampfung kristallisiert werden, werden als Evaporitvorkommen bezeichnet. Die bolivianische Regierung strebt an, eine staatliche Mineralsalzindustrie aufzubauen. Die Reserven sollen nicht nur gefördert, sondern auch industriell weiterverarbeitet und im letzten Schritt sogar Lithium-Ionen-Akkumulatoren hergestellt werden, um so die ganze Wertschöpfungskette abzudecken und nicht nur bloßer Rohstofflieferant zu bleiben. Das 2008 angestoßene Programm zur Industrialisierung der Evaporitvorkommen hat zwei wesentliche Ziele: Die historische Rolle des Rohstofflieferanten soll dank der Kontrolle der Wertschöpfungskette überwunden werden. Aber nicht nur das, auch in der Wissens- und Technologieproduktion will man sich mit sogenannter bolivianischer Technologie neu positionieren. Keine leichte Aufgabe, die die Gerencia Nacional de Recursos Evaporíticos (GNRE) als verantwortliche Einheit der staatlichen Bergbaugesellschaft COMIBOL hat. Die öffentliche Aufmerksamkeit widmet sich vor allem der Batterieherstellung, aber schon bei der Produktion von Lithiumkarbonat für die Elektroindustrie und Kaliumchlorid für die Düngemittelindustrie handelt es sich um technologieintensive Prozesse.
„Die Regierung entschied, dass der Salar de Uyuni von den Bolivianern und für die Bolivianer abgebaut werden muss und nicht die Türen für die vielen interessierten transnationalen Konzerne geöffnet werden“, sagt der ehemalige GNRE-Mitarbeiter Juan Carlos Montenegro im Gespräch mit den LN. Montenegro forscht, nachdem er seine Leitungsposition innerhalb der GNRE abgetreten hat, an der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz weiter zum Lithium. Angesichts der Tatsache, dass ihnen die Technologie fehlte, beschreibt er den Druck, nicht einfach eines der Angebote anzunehmen: „Die Erfahrung, die wir mit dem Silber, Zinn und anderen Rohstoffen in unserem Land hatten, ist, dass abgebaut und dann weggegangen wird und das Elend geht weiter. Also haben wir gesagt: Diese Geschichte soll sich nicht wiederholen. Versuchen wir, selbst eine angepasste Technologie entwickeln“. Der Anspruch, globale soziale Ungleichheiten wie die internationale Arbeitsteilung und (post-)koloniale Strukturen zu überwinden, erzeugt zweifelsfrei viel Widerhall. Die spannende Frage ist jedoch, wie wirkmächtig soziale Ungleichheiten auf dem Weg dahin sind, nämlich bei der Aneignung und Produktion von Technologien. Technologieentwicklung ist ein Prozess, der in Wechselwirkung mit rassistischen, sexistischen und kapitalistischen Praktiken, Vorstellungen und Strukturen stattfindet.
Beim Staatsbesuch des Präsidenten Evo Morales Anfang November 2015 in Deutschland spielte der Technologietransfer eine zentrale Rolle (siehe LN 498). Bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Morales und Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde das Lithium-Projekt als Beispiel für die Kooperation zum Ausbau der Wertschöpfungskette im Bergbau angeführt. Die Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft und in der Ausbildung von Fachkräften soll intensiviert werden. Mit ERCOSPLAN und der K-UTEC AG Salt Technologies haben zwei deutsche Unternehmen bereits wichtige Aufträge innerhalb des bolivianischen Projektes zur Produktion von Kaliumchlorid und Lithiumkarbonat.

Verdampfungskegel: Alternative Technologie zu den Becken der GNRE (Foto: Jaime Claros)
Verdampfungskegel: Alternative Technologie zu den Becken der GNRE (Foto: Jaime Claros)

K-UTEC hat den Auftrag, bis März 2017 eine Anlage zur Produktion von batterietauglichem Lithiumkarbonat und weiteren Wertstoffen zu planen. Der Bau der Anlage wird dann international ausgeschrieben und K-UTEC soll an der Inbetriebnahme mitwirken. „K-UTEC muss den Produktionsprozess überarbeiten, weil der ursprüngliche von der GNRE nicht effektiv genug war“, erläutert der Vorstandsvorsitzende Heiner Marx von K-UTEC gegenüber den LN. Bei einer geringen Effektivität sei der Prozess nicht nachhaltig, da viele Wertstoffe nicht ökonomisch genutzt, sondern weggeschmissen werden. Für Marx ist es selbstverständlich, dass jeder Salzsee eine „individuelle Behandlung“ erhält und die Prozesse nicht einfach übertragbar sind. K-UTEC konzipiert einen Prozess, der bei der Abstoßlösung aus der von Ercosplan konzipierten Kaliumchlorid-Anlage ansetzt: „Wir verändern es so, wie es fachlich richtiggemacht wird. Wir sind seit 60 Jahren in diesem industriellen Umfeld aktiv, die seit drei, vier Jahren. Wir haben eine viel breitere Basis an Erfahrung als die GNRE“, sagt Marx.
Der Salar de Uyuni gehört zu dem sogenannten Lithium-Dreieck, mit dem die Vorkommen in den Salzseen Chiles, Argentiniens und Boliviens bezeichnet werden. Der Großteil des in der Europäischen Union nachgefragten Lithiums muss importiert werden. Davon stammten 2007 64 Prozent der Importe aus Chile, wo für lange Zeit die weltweit größte Produktion stattfand (inzwischen ist Australien größter Produzent). Lithium, das in Natursolen von Salzseen vorkommt, ist die am häufigsten vorkommende Art von Reserven. Aufgrund der natürlichen Bedingungen des Salar de Uyuni, also in welcher Konzentration und Kombination mit anderen Elementen das Lithium vorhanden ist, wird die Produktion von Lithiumkarbonat in Bolivien teurer als in Chile eingeschätzt. Deswegen lohnt sich die Produktion erst, wenn durch den prognostizierten Nachfrageboom eine Preissteigerung eintritt. Bis dahin ist vor allem die Produktion vom Kaliumchlorid gewinnbringend. Diese Besonderheiten, denen der Aufbereitungsprozess gerecht werden muss, sind jedoch nicht die einzigen Tücken des den meisten Tourist*innen durch seine bestechende Schönheit bekannten Salars. Anders als in Chile ist der Salar de Uyuni in der Regenzeit überschwemmt. Nichtsdestotrotz wird zur Förderung des Rohstoffes die gleiche Technologie wie in Chile genutzt. Diese Becken-Technologie ist eine der gängigen Methoden bei dieser Art von Bergbau, bei der durch die Sonnenenergie feste Salzgemische kristallisiert werden. In der Regenzeit kann im Salar de Uyuni nicht produziert werden, da die Becken überschwemmt sind. Ein Team der Universidad Autónoma Tomás Frías (UATF) in der Stadt Potosí und der sächsischen Bergakademie Freiberg forschte von etwa 2008 bis 2011 deshalb an einer alternativen, an den Salar de Uyuni angepassten Technologie. Das Ergebnis waren leicht herzustellende mobile Verdampfungskegel. Der Projektleiter an der UATF, Jaime Claros erklärt gegenüber den LN, die Produktion im industriellen Maßstab sei mit den Kegeln ebenfalls möglich, wenn weitergeforscht würde. Die Universitätskooperation hatte die Idee, dass die Bevölkerung aus den umliegenden Gemeinden die Kegel bewirtschaftet. Diese Personalintensivität wird an der Technologie von Seiten der GNRE aufgrund der Kosten jedoch kritisiert. In der dem Salar naheliegenden Universität forschte das Projekt parallel zum damals gestarteten staatlichen Projekt. Die GNRE arbeitet bis heute aufgrund verschiedenster politischer und personeller Konflikte, die nichts mit den direkt am Projekt beteiligten Personen zu tun haben, nicht mit der UATF zusammen.
Dabei wurde das staatliche Projekt durch eine Initiative aus dem Departamento Potosí ins Rollen gebracht. Am Stadtrand von Uyuni liegt im Hinterhof eines kleinen Hauses das Büro der regionalen Gewerkschaft Federación Regional Única de Trabajadores Campesinos del Sudoeste Potosi (FRUCTAS). Nach der Wahl von Morales erarbeitete die Gewerkschaft den Vorschlag, die Ressourcen des Salar de Uyuni durch den Staat zu industrialisieren. Schon Anfang der 1990er beteiligten sie sich zusammen mit dem Comité Cívico de Potosí (Comcipo) und der UATF an dem Widerstand gegen die nordamerikanische Firma Lithco, die daraufhin 1993 von ihrer Konzession abließ. Heute ist es in dem Gewerkschaftshaus ruhig geworden. Nachdem die FRUCTAS den Rücktritt des Leiters der GNRE, Luis Alberto Echazús gefordert hatte, verlor sie ihren Einfluss. Immer wieder sind in Uyuni positive Äußerung über die Industrialisierung zu hören, schließlich sei es ein staatliches Projekt. Viele erhoffen sich einen Ausbau der bisher in weiten Teilen nicht vorhandenen Infrastruktur in der Region. Aber auch unter den das Projekt grundsätzlich befürwortenden Personen regen sich Fragen und Kritik. In Gesprächen mit Vertreter*innen der FRUCTAS und des Comcipo kritisierten diese gegenüber den LN, dass sie keine soziale Kontrolle über das Projekt ausüben können.
Darüber hinaus stellen sich die üblichen Fragen bei einem industriellen Bergbauprojekt: Welche Umweltbelastungen können einzelne Technologien aber insgesamt ein Industrieprojekt dieses Ausmaßes mit sich bringen? In der ariden Region, in der es weitere Bergbaumegaprojekte gibt, hat ein massiver Wasserverbrauch erhebliche Folgen für die außergewöhnliche Flora und Fauna. Außerdem müssen die industriellen Abfälle gelagert und entsorgt werden. Auch für die Quinoa-Produktion und den Tourismus, die wichtige Wirtschaftszweige in der Region sind, sind diese Fragen wichtig.
Von Kritiker*innen des Projekts werden vor allem die Verzögerungen bemängelt. Im Wesentlichen wird das Projekt durch Kredite der bolivianischen Zentralbank finanziert. Die bisher getätigten Investitionen mit eingerechnet sollen bis 2019 insgesamt 925,2 Millionen US-Dollar in das gesamte Projekt investiert werden. Die Auszahlung des Kredits hat sich erheblich verzögert, wodurch der Zeitplan in Verzug geraten ist. Ein Kritiker, der Ökonom Juan Carlos Zuleta Calderón, glaubt nicht, dass es geschafft wird, Akkus zu produzieren und auch sonst werden die Technologien der GNRE in Frage gestellt.
Nichtsdestotrotz schreitet das Projekt voran. Ende 2014 wurden die ersten Lithium-Ionen-Akkus in der der Stadt Potosí nahegelegenen Pilotanlage in La Palca hergestellt. Diese wurde schlüsselfertig von dem chinesischen Unternehmen Lin Yi Gelón Materials Co. Ltda. errichtet und von der COMIBOL gekauft. Zur Herstellung der technologisch komplexen Batterien müssen jedoch noch Teile importiert werden. Im Mai 2015 wurde ein chinesisches Unternehmen mit dem Bau der von Ercosplan konzipierten Kaliumchlorid-Industrieanlage beauftragt.
Die, die eine erfolgreiche Industrialisierung bezweifeln, sehen sich durch die Beauftragung ausländischer Unternehmen bestätigt. Andere betonen wiederum die ungleiche Ausgangslage und die Bedeutung eines solchen Vorhabens für Bolivien. „Es bricht ein bolivianisches Vorurteil“, sagt Montenegro. Trotz aller Beschränkungen trage das Projekt dazu bei, so Montenegro, daran zu glauben, nicht immer von anderen Ländern und Unternehmen abhängig zu sein. Vorherrschende Stereotype des Rassismus und der Kolonialität, dass Bolivianer*innen keine komplexe Technologie entwickeln können, werden somit zum Teil aufgebrochen. Der Ingenieur meint des Weiteren: „Es stärkt den Nationalstolz, die Identität und Selbstsicherheit, dass es möglich ist, Technologie zu entwickeln“.
Aber die Industrialisierung der Evaporitvorkommen bleibt der vorherrschenden Logik von Entwicklung und des Neo-Extraktivismus verhaftet. Die staatliche Kontrolle über die Wertschöpfungskette wird dazu genutzt, innerhalb kapitalistischer Verhältnisse einen besseren Zugang zu Kapital, Märkten, Arbeit, Wissen und Technologien zu erkämpfen. Dabei stellen sich angesichts Boliviens Position in der internationalen Arbeitsteilung und den ungleichen Strukturen auf dem Lithiummarkt jedoch enorme Herausforderungen. Obwohl ausländische Unternehmen beauftragt wurden, trägt das Projekt dazu bei, den Zugang zu Wissen zu verändern. Ein Technologietransfer wird eingefordert und bolivianische Wissenschaftler*innen werden gefördert. Allerdings können hierbei verschiedene Ungleichheitsverhältnisse (re)produziert werden. Bei den Arbeitsverhältnissen in dem staatlichen Projekt zeigt sich beispielsweise, wie durch vergeschlechtlichte Arbeitsteilung und Sexismus Gender eine Rolle für ungleiche Kontrolle über die Technologieentwicklung spielt. Bei der GNRE wird betont, dass es ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis gebe. Allerdings werden Aufgabenbereiche zu Umwelt und Chemie, also Labortätigkeiten überwiegend von Frauen ausgeführt; für Mechanik, Elektrotechnik und Konstruktion sind mehr Männer zuständig und in der Metallurgie ist das Verhältnis ausgeglichen. Eine Mitarbeiterin erklärt den Frauenanteil im Labor damit, dass Frauen sorgfältiger seien. Ein annähernd ausgeglichenes Geschlechterverhältnis in der gesamten Organisation sagt noch nichts über die Arbeitsteilung bei der Technologieentwicklung aus, die durch Zuschreibungen von weiblichen oder männlichen Eigenschaften geprägt ist. Bei der Durchsicht der Jahresberichte wird offensichtlich, dass bei den wichtigsten Leitungspositionen ausschließlich Fotos und Namen von Männern auftauchen. Sexistische Strukturen befördern, dass Positionen mit Macht von Männern besetzt sind. Es gibt also viele situativ spezifische Ungleichheitsverhältnisse, die gleichzeitig und nicht voneinander losgelöst wirken.
Die kritischen Punkte, die sich bereits abzeichnen oder befürchtet werden, zeigen auf, dass eine emanzipatorische Vergesellschaftung über die Verstaatlichung hinausgehen muss. Dass Interventionen sozialer Bewegungen wichtig sind, um die vielen Facetten eines solchen Projektes zu kontrollieren und mitzugestalten. Und das nicht nur am Ort des Ressourcenabbaus und den Anfängen der Wertschöpfungskette, sondern bei allen involvierten Akteur*innen, also auch bei der Technologieentwicklung. Denn auch an den gesellschaftlichen Technologieverhältnissen im Globalen Norden muss geschraubt werden. Was für Zukunftstechnologien werden bei Debatten um Nachhaltigkeit, Energiewende und Klimagerechtigkeit innerhalb der Klimabewegung und unter Degrowth-Verfechter*innen erträumt? Diese Zukunftsträume sollten der Traumverbindung, die im Haus der deutschen Wirtschaft bezüglich des Rohstoffverbrauchs der Industrie 4.0 erträumt wurde, jedenfalls Störsignale zwischenfunken.

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