ÜBERWIEGEND PRAGMATISCH

Nur symbolisch ein gemeinsamer Block? Vielversprechende gemeinsame Projekte neuer linker Regierungen wie der von Boric (Chile) und Petro (Kolumbien) gibt es bisher kaum (Foto: Prensa Presidencia)

Nur wenige Jahre ist es her, dass die Linke in Lateinamerika als gescheitert galt. Nach der „rosaroten Dekade“ Anfang des Jahrtausends, als die meisten Länder des Subkontinents progressive Regierungen hatten, schienen sich Stagnation und Rückschritte breit zu machen. Wo nicht direkt rechte Regierungen das Zepter übernahmen, geriet die regierende Linke zumindest gehörig unter Druck, agierte teilweise autoritär und konnte kaum mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Als Andrés Manuel López Obrador in Mexiko 2018 im dritten Anlauf die Präsidentschaftswahl gewann, schien das zunächst fast ein wenig aus der Zeit gefallen. Doch seitdem kam es bei fast allen Urnengängen zu einem Machtwechsel. Und meistens gewannen linke Kandidat*innen. In Argentinien lösten die Links-Peronist*innen mit Alberto Fernández und der Vizepräsidentin Christina Kirchner 2019 nach vier Jahren die neoliberale Regierung unter Mauricio Macri ab. In Bolivien kehrte die Linke im November 2020 ein Jahr nach dem Putsch gegen Evo Morales an die Macht zurück. Im vergangenen Jahr triumphierten neben Gabriel Boric in Chile auch Xiomara Castro in Honduras und Pedro Castillo in Peru. Im Juni dieses Jahres folgte der Wahlsieg von Gustavo Petro mit Francia Márquez als Vize in Kolumbien. Und in Brasilien könnte Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in der Stichwahl Ende Oktober den rechtsextremen Jair Bolsonaro in die Opposition schicken. Rechte Wahlsiege gab es in den vergangenen Jahren hingegen nur in wenigen Ländern wie Uruguay und Ecuador.

Die erneute Stärke linker Politiker*innen ist beachtlich. Denn die Abnutzungserscheinungen auf den Regierungsbänken sowie die strukturellen Grenzen der begonnen Transformationsprozesse waren in den 2010er Jahren in den meisten Ländern unverkennbar. Infolge antineoliberaler Kämpfe hatten die linken Regierungen – ausgehend vom erstmaligen Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela 1998 – die Rolle des Staates gegenüber dem Markt gestärkt und Privatisierungen gestoppt. Zuvor marginalisierte Bevölkerungsmehrheiten wie Indigene und Bewohner*innen von Armenvierteln erlebten materielle Verbesserungen und mindestens symbolische Wertschätzung. Am weitesten gingen die Veränderungen in Venezuela, Bolivien und Ecuador, wo neue Verfassungen verabschiedet wurden, die soziale und teilweise ökologische Zielsetzungen formulierten. Zumindest dem Anspruch nach verfolgten die Regierungen der drei Länder Transformationsansätze in Richtung grundlegend anderer Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. Außenpolitisch entstanden neue lateinamerikanische Integrationsbündnisse ohne die USA. In Verbindung mit anfänglichen Bemühungen der Demokratisierung sorgte all dies für eine breite politische Legitimität. Die Widersprüche zwischen politischer Partizipation und ausgeprägtem Präsidentialismus ließen sich jedoch kaum auflösen. Die vergleichsweise großen Handlungsspielräume der Regierungen beruhten ab 2003 vor allem auf den hohen Weltmarktpreisen für Rohstoffe, während die Wirtschaftsstrukturen und Steuersysteme kaum verändert wurden. Für die breiten Massen war also Geld da, ohne die strukturellen Privilegien der reichen Eliten antasten zu müssen.

Es gibt nicht einmal rhetorisch vielversprechende gemeinsame Projekte

Die heutigen Linksregierungen stehen vor einer anderen Situation. Seit Jahren befindet sich die Region in einer Krise, die lange vor der Corona-Pandemie mit niedrigen Rohstoffpreisen einsetzte. Dass nun auch Länder linke Regierungen bekommen, die wie Kolumbien, Honduras oder Peru bislang als konservative Bastionen galten, zeigt zunächst vor allem, dass die Rechte keine Antworten auf die drängenden Probleme Lateinamerikas hat. Sowohl die neoliberalen als auch die Trumpschen Konzepte, mit denen etwa Bolsonaro in Brasilien sympathisiert, kommen nur einer kleinen Elite zugute.

Daher zeugen die jüngsten linken Wahlsiege nicht unbedingt von einer neuen Stärke der Linken, sondern vor allem von der starken Enttäuschung über die derzeitige Politik. Die heutigen linken Regierungen treten dabei weniger als ein gemeinsamer Block auf, als während der ersten Welle. Zwar gab es auch damals unverkennbare Unterschiede zwischen radikaleren und moderateren Regierungen. Doch verstanden sich alle mehr oder weniger als Teil einer lateinamerikaweiten Bewegung und übten den Schulterschluss, als es etwa gegen die von den USA anvisierte gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) ging, die 2005 scheiterte.

Heute sind die linken Regierungen ideologisch heterogener

Heute sind die linken Regierungen ideologisch heterogener. Und in Nicaragua und Venezuela vertreten sie jenseits eines linken und antiimperialitischen Diskurses kaum mehr linke Politik. Für andere linke Kandidat*innen werden diese autoritären Regierungen zunehmend zum Problem. Wer im Wahlkampf eine sozialere Politik verspricht, wird schnell in die Venezuela- und Nicaragua-Ecke getrieben und muss versuchen, sich von Daniel Ortega und Nicolás Maduro zu distanzieren. Letztlich verfolgen die neueren linken Regierungen überwiegend klassisch sozialdemokratische Programme, die mal mehr, mal weniger grüne Einflüsse enthalten. Den lateinamerikanischen Eliten gilt jedoch bereits dies als linksradikal. So trat Xiomara Castro in Honduras im Januar dieses Jahres ihr Amt mit dem Versprechen an, die Armut zu bekämpfen und eine sozialere Politik umzusetzen. Im Gegensatz zur rechten Vorgängerregierung stellt sie sich gegen Korruption und das organisierte Verbrechen. Die neue kolumbianische Regierung will Armut und Ungleichheit durch Sozialprogramme bekämpfen, das Renten-, Gesundheits- und Bildungssystem stärken, die Abhängigkeit von Rohstoffen verringern sowie das Steuersystem reformieren. Der ländliche Raum und der Tourismus sollen gefördert, grüne Energieprojekte ausgebaut werden. Zudem will die Regierung durch neue Verhandlungen mit der noch aktiven ELN-Guerilla (Ejército de Liberación Nacional) und eine vollständige Umsetzung des Friedensabkommen mit der ehemals größten Guerilla FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) endlich wirklichen Frieden nach Kolumbien bringen. Das Abkommen von 2016 sieht unter anderem eine Agrarreform vor, die bisher nicht begonnen wurde und auf gehörigen Widerstand seitens der Großgrundbesitzer*innen stoßen dürfte.

Freiheit und Hoffnung Das progressive Verfassungsprojekt war in Chile für viele eng mit der neuen Regierung Boric verknüpft, scheiterte jedoch im Plebiszit (Foto: Ute Löhning)

Während sich die linken Regierungen Anfang des Jahrtausends jahrelang in der Offensive befanden und von Wahlsieg zu Wahlsieg eilten, ist die Lage heute ausdifferenzierter. Mexikos Präsident gilt kaum mehr als linker Hoffnungsträger und darf bei der kommenden Präsidentschaftswahl 2024 nicht noch einmal antreten. Perus schwacher Präsident laviert zwischen moderaten und radikalen Kräften, hat in einem Jahr Amtszeit bereits mehrere Kabinette verschlissen und muss im peruanischen Regierungssystem aufgrund fehlender Mehrheiten im Kongress jederzeit mit der Amtsenthebung rechnen.

Xiomara Castro hat in Honduras viel Gegenwind, weil die korrupte Rechte das Land nicht kampflos aufgibt und noch immer an zentralen Stellen im Staat vertreten ist. In Argentinien könnten bei der kommenden Präsidentschaftswahl wieder die Neoliberalen triumphieren. In Kolumbien sind die strukturell rechten Strukturen und die paramilitärische Gewalt trotz starker sozialer Bewegungen ein explosives Umfeld für die erste progressive Regierung des Landes. Und Lula da Silva hat in Brasilien im Vorfeld der Wahl Bündnisse mit neoliberalen Politiker*innen geknüpft.

Der Bolsonarismus indes würde auch mit einer Niederlage nicht als politische Kraft verschwinden, sondern eine einflussreiche Oppositionskraft darstellen. Nicht nur schnitt Bolsonaro in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober besser ab als sämtliche Meinungsforschungsinstitute prognostiziert hatten. Bei den zeitgleich stattfindenden Parlaments- und Regionalwahlen holten seine Anhänger*innen zudem eine beträchtliche Anzahl von Ämtern.

Ablehnung der neuen Verfassung sorgt für herben Rückschlag in Chile

Einen deutlichen Rückschlag musste Anfang September die Linke in Chile hinnehmen, als eine neue, fortschrittliche Verfassung an den Wahlurnen deutlich abgelehnt wurde. Der partizipativ erarbeitete Verfassungsentwurf war stark von sozialen, feministischen und indigenen Bewegungen beeinflusst und hätte vor allem die Rechte der Bevölkerung, den Umweltschutz sowie die wirtschaftliche Rolle des Staates gestärkt. Die Gründe für die Niederlage sind vielfältig. Die Erklärungen reichen von einer rechten Lügenkampagne, über interne Probleme des Verfassungskonvents, der vor allem aus linken und unabhängigen Delegierten bestand, bis hin zu möglicherweise für viele zu weitgehende Änderungen. Ein Verfassungstext allein kann ein Land zwar nicht verändern. Die Beispiele Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen, dass zwischen Verfassungsgrundsätzen und politischer Wirklichkeit mitunter tiefe Gräben klaffen. Aber der Entwurf hätte allen, die sich für ein soziales und ökologisches Chile einsetzen, bedeutende Rechte und Instrumente in die Hand gegeben. In der Verbindung linker Regierungsmehrheiten und sozialer Mobilisierung hätte tatsächlich das Potenzial gelegen, den Neoliberalismus zu überwinden, der Chile seit Jahrzehnten fest im Griff hat. Und dies hätte unweigerlich auch international Symbolwirkung gehabt. Zwar soll es einen zweiten Anlauf für die Abschaffung der alten Verfassung geben, die noch aus Zeiten der Diktatur unter Pinochet stammt. Doch wird der bestehende Entwurf mindestens abgeschwächt und statt von unabhängigen Delegierten wohl von Berufspolitiker*innen und Expert*innen ausgearbeitet werden.

Insgesamt sind mit der aktuellen linken Welle weniger Versprechen auf einen tiefgreifenden Wandel verbunden als zu Anfang des Jahrtausends. Es gibt keine bedeutende überregionale Zusammenarbeit und nicht einmal rhetorisch vielversprechende gemeinsame Projekte. In fast allen Ländern ist die Opposition zudem deutlich stärker als zu Beginn des Jahrtausends. Auch eine mögliche Überwindung des Rohstoffexport-Modells, wie sie in Kolumbien und Chile von Regierungsseite her zumindest thematisiert wird, ist angesichts der weltwirtschaftlichen Lage und des Krieges in der Ukraine unwahrscheinlich. Vorübergehende Verbesserungen für die ärmere Bevölkerung sind dennoch möglich. Und dass sich etwa die Nachbarländer Venezuela und Kolumbien politisch wieder annähern und künftig stärker kooperieren wollen, ist eine positive Entwicklung, die kaum zu unterschätzen ist. Doch darüber hinaus dominiert in dieser zweiten linken Welle bisher überwiegend der Pragmatismus.

Dieser Artikel erschien in unserem Dossier “Sein oder Schein? – Die neue progressive Welle in Lateinamerika”. Das Dossier lag der Oktober/November-Ausgabe 2022 bei und kann hier kostenlos heruntergeladen werden.

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

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