VON KÜHEN, KAROSSEN UND KOLONIALISMUS

Teil der Vereinbarung Rindfleisch gegen Autos // Foto: Flickr, Pablo Gonzalez, (CC BY-SA 2.0)

Ende Juni 2019 erzielten die EU und die Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay eine Grundsatzvereinbarung über ein Handelsabkommen. Nach fast 20 jähriger Verhandlungsphase wollen sie das größte Handelsabkommen der EU abschließen. Jorge Faurie, der argentinische Außenminister, verkündete seinem Präsidenten Mauricio Macri unter Schluchzern per Whatsapp von dem Verhandlungserfolg. Hohe EU- Vertreter*innen wie der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Handelskommissarin Cecilia Malmström überschlugen sich in ihren Lobpreisungen. Es sei ein „historischer Moment“ hieß es da. Das Abkommen sei ein weiteres Zeichen dafür, dass die EU ein Vorbild für freien und nachhaltigen Handel sei.
Diese Trommelwirbel lenken jedoch davon ab, dass die Verhandlungen noch nicht komplett beendet sind. Tatsächlich liegt bislang kein fertiger Vertragstext vor. Und die Ratifizierung liegt in weiter Ferne, zumal einige Länder wie Frankreich, Irland und Polen bereits Bedenken angekündigt haben. Doch politisch war es für beide Vertragsparteien wichtig, gerade jetzt einen ersten Verhandlungserfolg zu verkünden. Denn zum einen finden im Oktober Wahlen in Argentinien statt. Ein Sieg des neoliberalen Freihandelsapologeten Mauricio Macri ist nicht sicher. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro kämpft nach sieben Monaten Amtszeit mit erdrutschartigen Popularitätsverlusten, unter anderem auf Grund immer neuer Korruptionsvorwürfe. Er brauchte dringend eine Erfolgsnachricht. Zum anderen findet derzeit eine Neuaufstellung der europäischen Kommission statt. Auch der immer wieder aufwallende Handelskonflikt zwischen den USA und China sowie mögliche US-Zölle gegen europäische Waren dürften die Verhandlungen angespornt haben.


Gut für die Agrarlobby, schlecht für die bäuerliche Landwirtschaft


Die EU importiert jährlich landwirtschaftliche Güter in Höhe von 20 Milliarden Euro aus dem Mercosur. Die Importe werden mit Inkrafttreten des Abkommens weiter anwachsen. Laut Grundsatzvereinbarung wird die EU ihren Agrarsektor zu 82 Prozent sofort öffnen, sprich ihre Zölle dort auf Null senken. Dies gilt unter anderem für Soja, eine Reihe von Früchten wie Äpfeln und Birnen, Gemüse, einige Fischarten und Gewürze. In sensiblen Bereichen wie Fleisch, Zucker, Reis, Honig und Agrarethanol wurden Quoten festgelegt, die die Einfuhr über den Zeitraum von einigen Jahren nach wie vor beschränken. Insgesamt könnte der Anteil des Mercosur an den gesamten Lebensmittelimporten der EU durch das Abkommen bis 2025 von derzeit 17 auf 25 Prozent anschwellen, so die Berechnungen des EU-Forschungsdienstes.
Um die ausländische Nachfrage nach Soja und anderen Agrarerzeugnissen zu decken, sind bereits jetzt Großteile der Mercosur-Länder mit Monokulturen gentechnisch veränderter Pflanzen bedeckt. In Argentinien beispielsweise sind 60 Prozent der gesamten Ackerfläche mit überwiegend gentechnisch manipuliertem Soja bepflanzt, welches regelmäßig mit Pestiziden wie Glyphosat besprüht wird. 94 Prozent des Sojaschrots und mehr als die Hälte der Sojabohnen, die die EU auf dem Weltmarkt einkauft, und die dann in den Futtertrögen der europäischen Tierfabriken landen, stammen aus dem Mercosur.
Geht es nach den Verhandlungsparteien werden zukünftig auch europäische Autos vermehrt mit „Bioethanol“ aus südamerikanischem Zuckerrohr betankt. 200.000 Tonnen sollen mit geringeren Zöllen in die EU eingeführt werden dürfen. Zum Vergleich, Brasilien, das derzeit der wichtigste Mercosur-Exporteur von Ethanol ist, führte 2017 nur knapp 15.000 Tonnen in die EU aus. Zuckerrohr bedeckt bereits jetzt 9 Millionen Hektar des brasilianischen Ackerlandes. Das entspricht mehr als Dreivierteln der gesamten Ackerfläche Deutschlands.
Mit dem Abkommen werden also Anreize geschaffen, die landwirtschaftlichen Monokulturen in den südamerikanischen Ländern auszubauen. Große, industriell bewirtschaftete Flächen verdrängen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, die Nahrungsmittel für den lokalen Markt produzieren. Bodenerosion und -kontamination, Verlust von Biodiversität und die Verseuchung des Trinkwassers sind nur einige der Konsequenzen dieses Produktionsmodells.

Pferdestärken gegen Kühe


Auch die Einfuhr von Fleisch soll noch einmal gesteigert werden. Bereits jetzt stammen 73 Prozent der Rindfleischimporte und 56 Prozent der Hühnerfleischimporte in die EU aus dem südamerikanischen Verbund. Die Grundsatzvereinbarung sieht vor, dass zukünftig 99.000 Tonnen Rindfleisch, 180.000 Tonnen Hühnerfleisch und 25.000 Tonnen Schweinefleisch teilweise komplett zollfrei, teilweise gering bezollt, in die EU kommen dürfen. Im Gegenzug senken die Länder des Mercosur die Zölle für mehr als 90 Prozent aller EU-Exporte von Autos, Autoteilen, Maschinen, chemischen Produkten und Medikamenten. Dies ist ein herber Rückschlag für die Industrie, vor allem in Brasilien und Argentinien, die nicht in gleichem Maße wettbewerbsfähig ist wie die europäische. Guillermo Moretti, Vizepräsident des argentinischen Industrieverbandes, sagte kurz nach Bekanntgabe der Grundsatzvereinbarung: „Ich bin besorgt. Die Länder, die dieses Abkommen ausgehandelt haben, weisen ein Handelsbilanzdefizit mit der Europäischen Union auf. Das Bruttoinlandsprodukt der EU ist fünf Mal so groß wie das des Mercosur und dort werden zehn Mal so viele Patente angemeldet wie bei uns. Die Auswirkungen des Abkommens auf den internen Markt werden massiv sein.“
Auf der anderen Seite des Atlantiks sind vor allem die Bauern und Bäuerinnen besorgt. Selbst Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbandes, der sich bislang positiv gegenüber Handelsabkommen ausgesprochen hatte, erklärte: „Es ist nicht zu akzeptieren, dass die EU-Kommission diese völlig unausgewogene Vereinbarung unterzeichnet. Dieses Handelsabkommen ist Doppelmoral pur. Die Landwirtschaft darf nicht zugunsten der Automobilindustrie geopfert werden.“ Berit Thomsen, Handelsreferentin der deutschen Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) wies zudem auf die schlechte Öko- und Klimabilanz des Abkommens hin. „Wir importieren aus diesen Ländern künftig nicht nur Rindfleisch, sondern die mit der industriellen Produktion verbundenen Klimaschäden und menschenunwürdigen Produktionsbedingungen.“
Tatsächlich führen die Ausbreitung der Rinderherden, aber auch der Anbauflächen von Monokulturen in den südamerikanischen Ländern zu einer Vertreibung von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen und indigener Bevölkerung von ihrem Land. In Brasilien etwa registrierte die Landpastorale CPT (Commissão Pastoral da Terra) in den vergangenen drei Jahren eine Verdopplung der Landkonflikte. So kam es 2017 zu 70 Morden an Kleinbauern und Kleinbäuerinnen, Indigenen und Aktivist*innen, die sich gegen das vordringende Agrobusiness verteidigten. Die CPT dokumentiert ebenfalls die grassierende Straflosigkeit. Im Zeitraum 1985 bis 2017 wurden demnach über 1.900 Menschen in Landkonflikten ermordet. Doch nur in acht Prozent der Fälle kam es zu Verurteilungen.
Zudem sind die Entwaldungsraten in allen vier Ländern des Mercosur extrem hoch. Argentinien gehört zu den zehn Ländern, die weltweit am meisten von Entwaldung betroffen sind. In Brasilien verschwand in weniger als einem Jahr eine Fläche des Regenwaldes, die etwa fünf Mal so groß ist wie London. Das Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU würde den Druck auf die Produktion landwirtschaftlicher Güter weiter erhöhen. Denn um die Verluste aus Zolleinnahmen von 4 Milliarden Euro, die das Handelsabkommen für die Mercosur-Staaten bedeuten würde, zu kompensieren, müssten sie wesentlich mehr exportieren. Da die industriellen Produkte der Länder nicht wettbewerbsfähig sind, bleiben nur noch die Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion und der Abbau natürlicher Rohstoffe. Eine weiter voranschreitende Abholzung des so dringend für die Bekämpfung der Klimakrise benötigten Amazonas-Regenwaldes und anderer Urwälder ist die Folge. Da hilft es auch nichts, dass sich die Vertragsparteien dazu verpflichten, dass Pariser Klimaabkommen effektiv umzusetzen. Denn gerade diese „Verpflichtung“ fällt unter das Nachhaltigkeitskapitel, das, anders als die anderen Kapitel, über keine verbindlichen Durchsetzungsmechanismen verfügt.

Faire und nachhaltige Handelspolitik sieht anders aus


Die hier aufgeführten Aspekte sind nur einige der zu erwartenden sozialen und ökologischen Folgen dieses unausgewogenen Abkommens, das Umwelt, Klima und Menschenrechte wirtschaftlichen Interessen unterordnet. Die durch das Abkommen vorangetriebene Liberalisierungsstrategie erschwert die Förderung ökologischer Landwirtschaft und die effektive Bekämpfung der Klimakrise auf beiden Seiten des Atlantiks. Gleichzeitig schreibt das Abkommen die Position der Südländer als Rohstoff- und Lebensmittellieferanten in der internationalen Arbeitsteilung fest – und damit auch ihre Abhängigkeit von den Industrieländern. Deswegen ist es eben kein Beweis für die nachhaltige und faire Handelspolitik der EU.
Noch ist das Abkommen nicht ratifiziert, die zurückhaltenden Positionen einiger EU-Länder lassen darauf schließen, dass dies auch noch dauern könnte. Diese Zeit sollten die Organisationen, die sich bereits in der Vergangenheit gegen klima-und umweltschädliche Handels­abkommen ausgesprochen haben, nutzen, um öffentliche Aufmerksamkeit für die desaströsen Konsequenzen dieses Abkommens zu generieren. Angesichts der Klimakrise, des massiven Verlustes an Biodiversität, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich, Nord und Süd, dürfen keine weiteren Abkommen verabschiedet werden, die dieser Realität keine Rechnung tragen. TTIP konnte gestoppt werden – warum nicht auch EU-Mercosur?

DAS GUTE LEBEN, NUR EIN DISKURS



Foto: Privat

Oscar Campanini
ist Direktor der Nichtregierungsorganisation CEDIB aus Bolivien. CEDIB arbeitet für mehr Transparenz im Bergbau und anderen Großprojekten in Bolivien und beschäftigt sich unter anderem mit dem Thema Lithium.


 

Herr Campanini, Sie kritisieren Demokratiemangel in Boliviens Bergbau- und Rohstoffpolitik. Wie hat sich diese in den letzten Jahren verändert?
So wie die meisten lateinamerikanischen Länder ist auch Bolivien historisch mit dem Rohstoffexport verbunden. Die Wirtschaft des Landes basiert größtenteils auf Extraktivismus und birgt somit eine hohe Rohstoffabhängigkeit. Anstatt die Wirtschaft zu diversifizieren, wurden politische Machtstrukturen innerhalb des Rohstoffsektors geschaffen, welche Armut und Diskriminierung bis heute begünstigen. Die Hoffnung auf eine Transformation dieser Strukturen wurde nach fast 14 Jahren Amtszeit des Präsidenten Evo Morales enttäuscht.
Rohstoffausbeutung wurde mit einer Kapitalanlagenmaximierung für eine stärkere Sozialpolitik gerechtfertigt. Auch der Wunsch nach Entwicklung trieb diesen Prozess immer weiter voran.
Mit der Politik des Wachstums sind enorme sozio-ökologische Auswirkungen verbunden. Besonders betroffen sind indigene Gruppen, die direkt unter den ökologischen Auswirkungen des Bergbaus leiden. Um Widerstand zu unterbinden, wendet die bolivianische Regierung verschiedene Strategien an. Die Betroffenen werden zum Schweigen gebracht, Menschenrechte werden missachtet.

Die Auswirkungen auf Menschen − insbesondere wenn sie Sorgearbeit verrichten, welche traditionell Frauen zugeschrieben wird − werden in der Beschäftigung mit dem Extraktivismus und seinen Folgen nur selten beleuchtet.
Die Auswirkungen sind für Frauen auf jeden Fall anders, aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wenn extraktivistische Projekte geplant werden, geht das oftmals mit großen Versprechen für die Regionen einher, wie zum Beispiel Arbeitsplätzen oder anderen wirtschaftlichen Vorteilen, die nicht immer eingehalten werden. Zuallererst zerstören diese Projekte die produktiven und organisatorischen Strukturen der Gemeinschaften. Wenn eine Gemeinde beispielsweise von der Landwirtschaft lebte, wird diese dann nur noch spärlich betrieben, um sich stattdessen extraktivistischen Projekten zu widmen. Dadurch profitieren die Familien zwar erst einmal wirtschaftlich, aber die Produktion von Lebensmitteln funktioniert nicht mehr und die Lebensgrundlage der Gemeinde verändert sich vollkommen. Auch die Organisation der Gemeinschaften ist am Ende nicht mehr dieselbe. Die Gemeinschaft ist traditionell am Wohlergehen aller Mitglieder orientiert. Die Unternehmen, die extraktivistische Projekte planen, nehmen jedoch Einfluss auf deren Repräsentanten und sorgen dafür, dass diese die unternehmerischen Belange wiederum nach innen hin vertreten und Einfluss auf die Gemeinden nehmen, um sie von den Projekten der Unternehmen zu überzeugen. So werden die organisatorischen Strukturen der Gemeinden völlig unterlaufen und ihre Strukturen für die Zwecke des Extraktivismus instrumentalisiert. Verheerend sind auch die Auswirkungen auf die Umwelt, insbesondere auf das Wasser, und das bekommen leider ganz besonders Frauen zu spüren. Männer, welche meistens ökonomischen Tätigkeiten nachgehen, bekommen davon wenig mit, weil sie außerhalb der Haushalte arbeiten und diese Probleme nicht selbst erleben.

Haben Frauen deswegen auch eine besondere Rolle im Widerstand gegen diese Praktiken?
Ganz genau. In den letzten 15 Jahren des sozialen Widerstands waren es vor allem Frauen, die auf fundamentale Probleme aufmerksam gemacht haben. Es hat seine Vor- und Nachteile, dass Frauen traditionell enger mit den Familien leben und daher besorgter um die Zukunft ihrer Kinder und die ihrer Gemeinde sind. Deswegen übernehmen Frauen immer häufiger die Rolle von Anführerinnen ihrer Gemeinden und gehen die Probleme anders an als Männer, die wegen ihrer ökonomischen Perspektive und aufgrund von Sexismus die Dinge nicht so klar sehen wie sie. In vielen wichtigen Organisationen sind Frauen jetzt die wichtigsten Akteurinnen und die Anführerinnen des Widerstands geworden.

Wie beurteilen Sie die Idee eines Entwicklungsmodells, welches Wohlstand durch die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen erreichen will? Braucht Bolivien überhaupt eine „Entwicklung“?
Seit einiger Zeit gibt es in Bolivien eine Debatte darüber, was Entwicklung eigentlich ist. Auch in Deutschland gibt es ein Bewusstsein für diese Fragen, was man zum Beispiel am Thema der Elektroautos sehen kann. Dabei geht es aber nur um eine Transformation im Bereich der Energiequellen, das System des Konsums jedoch bleibt bestehen, die Idee der Entwicklung unangetastet. In Bolivien diskutieren wir die Frage, welche Entwicklung wir eigentlich wollen, und wissen auch, dass wir in jedem Fall ökonomische Ressourcen brauchen, die wir besonders leicht aus dem Handel mit anderen Ländern beziehen können. Die Frage ist vor allem, was wir dann mit diesen Ressourcen anstellen. Natürlich brauchen wir Bildung, ein funktionierendes Gesundheitssystem und viele andere Dinge, die die entwickelten Länder haben. Aber zu welchem Preis? Das verhandeln und analysieren wir aktuell in Bolivien.

Lithium, das in Bolivien im großen Stil abgebaut wird, wird derzeit in vielen Ländern des Globalen Nordens als Wegbereiter für eine internationale Energiewende gefeiert und findet Einsatz im Bereich der Elektromobilität. 2018 hat Bolivien einen 1,3-Billionen-Dollar-Deal mit der deutschen Firma ACI im Bereich der Lithiumausbeutung geschlossen. Zu welchem Preis bekommt Deutschland die vermeintlich saubere Energie?
Deutschland und die EU sorgen sich um die Erhaltung der eigenen Energiesicherheit. Von Bolivien brauchen sie Rohstoffe, um die eigene nationale Industrie und Entwicklung voranzutreiben. Die Umwelt nimmt nur insofern eine wichtige Rolle ein, da sie die Rohstoffe bereitstellt. Die Ökosysteme, in denen dieser Rohstoff auffindbar ist, sind mit indigenen Territorien verbunden. Das ist die Lebensgrundlage der ansässigen Menschen, und umgekehrt wird das Land auch von seinen Bewohnern instand gehalten. Deutschland interessiert sich für den Rohstoff, jedoch nicht für die auf dem Fördergrund lebende Bevölkerung. Landvertreibung und die Beschneidung von Menschenrechten sowie die Beschädigung der Ökosysteme hängen also mit der vermeintlich nachhaltigen Energie zusammen. Die damit zusammenhängende Ausbeutung von Rohstoffen, in diesem Fall Lithium, führt zu erhöhtem Abbau im Sinne von weiterem Wachstum.

51 Prozent des Umsatzes soll Bolivien erhalten − dient dieser Gewinn zum Aufbau einer eigenen Industrie? Welche Folgen hätte dies?
Seit vielen Jahren gibt es bereits Pläne zur Industrialisierung Boliviens. In der Vergangenheit investierte die Regierung in viele verschiedene Sektoren, um diese weiter voranzubringen. Aufgrund des bisherigen Scheiterns der Industrialisierung anderer Sektoren, gilt Lithium derzeit als vielversprechendster Bereich. Es wurde bereits viel Geld aus der bolivianischen Staatskasse, aber auch durch ausländische Investoren bereitgestellt, um diese Industrie zu entwickeln.
Der 2018 mit Deutschland geschlossene Vertrag verspricht ein innovatives Projekt zur Lithiumgewinnung, in dem es bisher so scheint, als ob von diesem alle profitieren könnten. Es gibt jedoch Unstimmigkeiten. Ein Problem sind die genannten ökologischen Folgen. Die Wassermengen, die von den Kraftwerken benötigt werden, sind trotz neuer Technologien riesig. Der Verbrauch der Wasserreserven wird sich nicht nur auf Salar de Uyuni auswirken, sondern die gesamte Region betreffen und das Ökosystem stark beschädigen. Diese drastischen Folgen hat Bolivien bisher noch nicht erkannt. Eine weitere Sorge ist, ob die Wertschöpfungskette wirklich in Bolivien bleibt. Das Versprechen nationaler Wertschöpfung ist zwar Teil des Vertrags zwischen ACI und Bolivien, jedoch gibt es viele alarmierende Signale, dass dies nicht wirklich so sein wird. Es ist bereits bekannt, dass Deutschland einen aktuellen Fond mit mehreren Millionen Euro bereitstellt, um eine eigene Lithiumverarbeitungsindustrie aufzubauen. Das lässt natürlich Raum für Sorge, ob das Interesse an einer nachhaltigen Wertschöpfungskette innerhalb Boliviens wirklich besteht.

Wenn wir uns Ihre bisherige Bilanz der Rohstoffpolitik Boliviens ansehen, drängt sich die Frage auf, was eigentlich aus dem Vivir Bien geworden ist.
Leider ist all das bloß ein Diskurs geblieben. So, wie die Idee des Vivir Bien eigentlich konzipiert wurde, ist sie konträr zum Entwicklungsbegriff − und doch wurde sie in diesem Gesetz einfach zum Grundstein einer „integralen“ Entwicklung erklärt und so in eine Entwicklungsagenda integriert. Die natürlichen Ressourcen stehen deswegen immer noch im Dienst einer ökonomischen Entwicklung von Wachstum durch den Export von Rohstoffen. Eine richtige Transformation hat nie stattgefunden. Was wir sehen ist lediglich eine Transformation von Diskursen über das Vivir Bien.

Bolivien ist im Moment der letzte Staat, der den socialismo del siglo 21 (Sozialismus des 21. Jahrhunderts) mit einer gewissen Stabilität weiterführt. Was denken Sie über die Entwicklung der Linken in Lateinamerika?
Ich verstehe diese Welle progressiver Regierungen als Produkt von sozialen Bewegungen, die sich gegen den Neoliberalismus auf dem Kontinent zur Wehr gesetzt haben und nach politischen Alternativen suchten. Im besten Fall haben diese jedoch ein paar Umverteilungsmaßnahmen erreicht – mehr nicht. Es gab einige Versuche von Verstaatlichungen, in Bolivien beispielsweise von Gas, aber dieses wird von transnationalen Unternehmen kontrolliert, deswegen konnte das Projekt nicht gelingen. Die Erträge wurden zwar umverteilt, die größten Gewinne blieben jedoch noch immer bei den transnationalen Unternehmen. Strukturelle Veränderungen haben aber leider keine der progressiven Regierungen wirklich erreicht, und deswegen sind sie gescheitert. Momentan schlägt die Rechte zurück. Das ist die logische Konsequenz des Versagens der Linken. Diese Entwicklung beunruhigt uns sehr. Was zum Beispiel gerade in Venezuela geschieht, wird mit Sicherheit einen Einfluss auf ganz Lateinamerika haben.

 

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