DIE PUTSCHE UNSERER ZEIT

17.11.2019

Aufgrund der Diskussionen darüber, wie die Geschehnisse in Bolivien politisch einzuordnen sind, wollen wir unsere Position als Redaktion der Lateinamerika Nachrichten transparent machen. Die Ereignisse überschlagen sich derzeit. In der letzten Woche haben wir noch nach einer gemeinsamen Position zum Rücktritt von Evo Morales und dem Putsch gesucht. Angesichts der Rücksichtslosigkeit und Geschwindigkeit, mit der die neuen Machthaber*innen in Bolivien ihre reaktionären Ziele verfolgen, tritt dies nun schon fast in den Hintergrund.
 
Wenn das bolivianische Militär in Zukunft auf Demonstrant*innen schießt, muss es keine Konsequenzen fürchten. Nur wenige Tage nach ihrer Selbsternennung zur Präsidentin von Bolivien unterzeichnete die zweite Senatsvizepräsidentin Jeanine Áñez am 15. November ein Dekret, das  dem Militär bei der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung” Straffreiheit zusichert. Kurz darauf töteten in Cochabamba mutmaßlich Schüsse der Polizei mindestens neun Menschen
 
Die eskalierende Gewalt in Bolivien macht nochmal deutlich, dass die Übergangsregierung nicht demokratisch ist. Sie ist das Ergebnis eines Putsches: Weil die Amtszeit von Evo Morales regulär noch bis Ende Januar gelaufen wäre. Weil er auf den öffentlichen Druck hin Neuwahlen angekündigt hat. Weil er nur Stunden danach durch das Militär gedrängt wurde, zurückzutreten es war kein freiwilliger, sondern ein erzwungener Rücktritt. Zwar war Morales’ Wahl von Betrugsvorwürfen überschattet. Schon vor einer Klärung der Vorwürfe hat die rechte Opposition jedoch das Ergebnis abgelehnt und auf Umsturz gedrängt.
 
Sehen wir uns die Putsche der letzten Jahre an – Honduras (2009), Paraguay (2012), Brasilien (2016) – so laufen sie nicht mehr nach dem Schema der früheren Militärdiktaturen der 1960er und ’70er Jahre ab. Keine Militärjunta mehr, die einen Präsidentenpalast stürmt und alle Anwesenden umbringt oder in Folterlager steckt. Die Rechte hat sich verändert: Sie hat die Strategie entwickelt, undemokratische Aktionen mit demokratischem Vokabular zu vereinnahmen und versucht so, ihnen politische und parlamentarische Legitimität zu verleihen. 
 
Das beginnt mit der angeblichen Verteidigung der „Menschenrechte“, der Freiheit” und der „Meinungsfreiheit“, die unter den progressiven Regierungen in Gefahr sei, und führt dann über die Aneignung der Protestformen auf der Straße schließlich zu einer scheinbar demokratischen Legitimität eines Machtwechsels. Dabei sind die Bemühungen rechter Bewegungen und Parteien, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, rein äußerlich und nicht sonderlich nachhaltig. Es geht höchstens um unternehmerische Freiheit. Die Gewalt kommt erst danach, sie ist nicht so öffentlich wie in den 1970ern, aber dennoch real.
 
In El Alto, der zweitgrößten Stadt Boliviens direkt neben der Hauptstadt La Paz, mobilisierten an diesem Wochenende Unterstützer*innen von Evo Morales. Sicherheitskräfte schossen scharf auf sie. Gegner*innen der MAS-Bürgermeisterin der Stadt Vinto, Patricia Arce, übergossen sie mit roter Farbe und schleppten sie barfuß und mit geschorenem Kopf durch die Straßen. Wiphala-Flaggen wurden verbrannt – das Symbol der Plurinationalität, das die verschiedenen indigenen Sprachen und Kulturen als festen Bestandteil Boliviens anerkennt. Diese und andere Gewalttaten befördert Boliviens neue De-Facto-Regierung. Und es könnte noch schlimmer werden.
 
Die Akteur*innen des rassistischen und klassistischen Umsturzes bezeichnen diesen als verfassungsmäßig. Als Jeanine Áñez sich selbst zur Präsidentin ernannte, stand sie jedoch vor einem nicht funktionsfähigen Parlament: Die Mehrheit der Abgeordneten war abwesend – ob aus Protest oder aus Angst vor Repression. Sie ist nicht demokratisch legitimiert. Und selbst wenn sie es wäre, bestünde ihre Aufgabe als Interimspräsidentin in erster Linie darin, Neuwahlen auszurufen – stattdessen lässt sie politische Gegner*innen verfolgen und krempelt die bisherige Außenpolitik Boliviens um, wie etwa durch den Austritt aus dem Regionalbündnis ALBA. Unabhängig davon, wie kritisch oder wie solidarisch man mit Evos Regierung ist, steht fest: Diejenigen, die nun den Machtanspruch erheben, sind keine Demokrat*innen. 

 

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