Die Gefahr bleibt

Kalter Putsch Ausschnit aus dem LN-Cover nach dem Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff in Brasilien

Die Editorials als kollektiv verfasster Meinungsbeitrag der Redaktion werden bei den Lateinamerika Nachrichten normalerweise auf der Sitzung zum Redaktionsschluss und erneut während des monatlichen Produktionswochenendes besprochen. Nach dem erzwungenen Rücktritt von Evo Morales im November 2019 wollten wir darauf jedoch nicht warten. War es ein Putsch, was da passiert war? Die Sachlage war auf den ersten Blick nicht ganz eindeutig. Die Nachrichten aus Bolivien und auch die Diskussionen in den sozialen Medien überschlugen sich, die Redaktion erhielt laufend Anfragen nach ihrer Sicht auf die Dinge. Wir merkten, dass eine Stellungnahme von uns hermusste. Völlig außerhalb des normalen Heftzyklus’ trommelten wir die Redaktionsmitglieder zusammen und diskutierten einen Abend lang über Bolivien, unser Raum war brechend voll. Am Ende stand eine gemeinsame Analyse, die den Putsch klar als solchen bezeichnete und die wir dann online gestellt haben. Kein anderer Text auf unserer Homepage wurde in den letzten Jahren innerhalb kurzer Zeit von so vielen Leuten gelesen wie dieser.

Was die LN in dem Sondereditorial „Die Putsche unserer Zeit“ herausgearbeitet haben: Die Strategien der radikalen Rechten haben sich geändert. Wenn diese heute ihre Interessen gefährdet sieht, greift sie nicht mehr zwangsläufig zu „klassischen“ Militärputschen, um linke Regierungen zu stürzen – heute behauptet sie, „Menschenrechte“, „Demokratie“ und die vermeintliche Freiheit zu verteidigen. Durchgesetzt werden die Interessen der Unternehmerseite durchaus auch mit Gewalt – das zeigte die tödliche Repression gegen Protestierende in Bolivien eindrücklich. Der Machtwechsel an sich verläuft jedoch meist scheinbar unblutig, gut vorbereitet durch Stimmungsmache in den Medien und einen Staats- und Justizapparat, den die Rechte ohnehin nie aus den Händen gegeben hat.

Auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr

Die LN waren eine der ersten Stimmen im deutschsprachigen Raum, die sich gegenüber den Ereignissen in Bolivien klar positionierten. Viele andere Medien taten sich da schwerer. Die taz zögerte sichtlich, den Staatsstreich als einen solchen zu benennen und suchte anfangs gar die Schuld bei Morales selbst. Andere Zeitungen wie die Zeit interviewten die Putschistin Jeanine Áñez als vermeintlich legitime „Übergangspräsidentin“. Wie der gesammelte Wertewesten erkannte die Bundesregierung die neuen Machthaber*innen ohnehin sofort an – auch deutsche Unternehmen sahen in einem Bolivien unter Morales ihre Interessen in Gefahr. Die Rolle der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die den Putschist*innen mit dem sich später als unhaltbar erweisenden Wahlfälschungsvorwurf den Boden bereitete, zeigt die internationale Dimension der „Putsche unserer Zeit“.

Dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden

Dass es sich beim Putsch gegen Evo um kein isoliertes Phänomen handelte, wurde schon im Editorial von 2019 betont. Zuvor war die Rechte gegen die Regierungen von Dilma Rousseff in Brasilien, von Manuel Zelaya in Honduras und von Fernando Lugo in Paraguay nach ähnlichen Mustern vorgegangen. Auch dass Bolivien den Schlusspunkt der „Putsche unserer Zeit“ darstellt, muss bezweifelt werden. Bezüglich der Absetzung von Perus Präsidenten Pedro Castillo Ende letzten Jahres lassen sich zumindest Parallelen finden. Oftmals sorgt die Rechte und ihr Justizapparat in Lateinamerika jedoch vor und verhindert linke Regierungen bereits im Voraus. Spätestens seit den 2010er Jahren wird für derlei Machenschaften auch der Begriff Lawfare genutzt: das politisch motivierte Beugen von Recht gegen progressive Politiker*innen. Aktuelle Beispiele dafür sind die Urteile gegen die ehemalige Präsidentin und aktuelle Vize Argentiniens Cristina Fernández de Kirchner, die ihre erneute Kandidatur unmöglich machen, oder die Verhinderung der indigenen Aktivistin Thelma Cabrera als Präsidentschaftskandidatin in Guatemala.

Trotz gewalttätiger Repression nach dem Staatsstreich konnte die „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS) nur rund ein Jahr nach dem Sturz von Evo Morales wieder an die Macht kommen. Zu verankert war sie in der indigenen Bevölkerung, die sich in Massen mobilisierte und das Land teilweise lahmlegte. Auch in anderen Ländern feierten weggeputschte Bewegungen und Parteien ein Comeback: So in Brasilien, wo seit Anfang des Jahres wieder Lula regiert; ebenso in Honduras, wo es nach dem Sturz Zelayas etwas länger dauerte, bis Xiomara Castro ins Präsidentinnenamt gewählt wurde.

In die Freude hierüber mischt sich Sorge. In allen drei genannten Ländern existiert heute eine starke gesellschaftliche Polarisierung. Mit Ausnahme Boliviens, wo die MAS jedoch durch innerparteiliche Konflikte geschwächt ist, verfügen die linken Regierungen zudem über keine eigene Mehrheit im Parlament. Das birgt die Gefahr, dass Anhänger*innen enttäuscht werden, wenn eigene Projekte am Widerstand der Opposition scheitern. Am Ende könnte das zukünftige Wahlsiege der Rechten begünstigen. Zwar zeigen die Entwicklungen in Brasilien, Honduras und Bolivien, dass die „Putsche unserer Zeit“ keinen nachhaltigen Erfolg haben müssen. Die Gefahr, dass die Rechte zurückschlägt, ist jedoch keineswegs gebannt. Ein Grund dafür ist, dass hohe Militärs und Richter*innen oft weiterhin mit ihr sympathisieren, auch wenn ihnen nun ein*e progressive Präsident*in vorsteht. In Bolivien etwa hat Präsident Arce im November 2022 nach einer großen Protestwelle in Santa Cruz, der Hochburg der Rechten, bereits zum zweiten Mal seit seinem Amtsantritt die oberste Führung der Streitkräfte ausgewechselt. Das tat er, um einem möglichen neuen Putsch zuvorzukommen.

Martin Schäfer ist seit 2018 Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für die Kämpfe indigener Bewegungen.
Frederic Schnatterer ist Mitglied der LN-Redaktion und interessiert sich für das Spannungsverhältnis von Realpolitik und Revolution.

AVANTGARDE DES RÜCKSCHRITTS

Fakten lügen nicht Die politische, sexuelle und psychische Gewalt gegen Frauen hat in Brasilien zugenommen (Foto: Mohamed Hassan)

In den vergangenen Jahren hat Brasiliens Zivilgesellschaft die internationale Gemeinschaft unermüdlich vor der rasanten Zerstörung der brasilianischen Demokratie gewarnt. Da Brasilien eines der am stärksten von COVID-19 betroffenen Länder ist, hat sich die Zivilgesellschaft auf nationaler Ebene unermüdlich dafür eingesetzt, die politischen Entscheidungsträger*innen darauf aufmerksam zu machen, dass die drastischen Folgen der Pandemie – zum Beispiel die Auswirkungen auf das Gesundheitssystem – abgemildert werden könnten. Dafür hätte allerdings die eigene Bundesverfassung und das internationale Engagement, das Brasilien 2015 vorangetrieben hat und das in die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung mündete, respektiert werden müssen.

Leider wurden wir nicht gehört. Und obwohl wir als Zivilgesellschaft wissen, dass die Geschichte unsere Beharrlichkeit anerkennen wird, ist die Realität, dass Brasilien ein dekadentes Land geworden ist, dessen Führung sich weder um die Gegenwart, noch um die Zukunft der Menschen im Land kümmert. Traurigerweise nimmt die Gewalt immer weiter zu und die Ungleichheiten vertiefen sich in einem Ausmaß, das wir uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Die Folgen der Fehlentscheidungen der politischen Entscheidungsträger lassen sich in der sechsten Ausgabe des Spotlight Reports der Zivilgesellschaft über die Umsetzung der Agenda 2030 in Brasilien gut belegen. Verfasst wurde der Bericht von 101 Expert*innen aus den Bereichen Soziales, Wirtschaft und Umwelt. Er stützt sich auf offizielle Daten von Regierungsinstitutionen und Universitäten. Methodisch wird die nationale Politik anhand von 168 Zielen und rund 230 Indikatoren überprüft, die den brasilianischen Staat beim Schutz der Umwelt, der Förderung des Friedens und der Inklusion leiten sollen.

Die Ziele und Indikatoren wurden nach dem Grad ihrer Umsetzung kategorisiert und zeigen, dass die Ergebnisse alles andere als positiv sind: Brasilien hat nur bei einem der 168 analysierten Ziele zufriedenstellende Fortschritte erzielt. Bei 110 Zielen (65,47 Prozent) zeigten sich Rückschritte, bei 24 Zielen (14,28 Prozent) waren die Fortschritte unzureichend. 11 Ziele (6,54 Prozent) verblieben auf dem Vorjahresniveau oder stagnierten insgesamt, 14 Ziele (8,33 Prozent) sind gefährdet und zu 8 Zielen (4,76 Prozemt) liegen keine Daten vor. Im Vergleich zum Bericht von 2021 stieg die Zahl der Ziele, deren Umsetzung rückläufig ist, von 92 auf 110 und die der Ziele mit unzureichenden Fortschritten von 13 auf 24.

Bolsonaros Regierung war eine Katastrophe mit Ankündigung

Wenn wir hinter diese Daten blicken, sehen wir Leben ohne Hoffnung, eine vergeudete Gegenwart und die Vorstellung einer besseren Zukunft, an die kaum zu glauben ist. Übersetzt in die Realität zeigt der Bericht ein Land, das sich rasch zurückentwickelt und die eingegangenen internationalen Verpflichtungen verleugnet – was dazu geführt hat, dass Brasilien international isoliert ist. In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass Brasilien im Oktober 2022 die gewalttätigsten Wahlen (des Präsidenten der Republik, der Gouverneure der Bundesstaaten und der Parlamente) in der Geschichte des Landes erwartet.

Es gibt sicher keinen Zweifel an den begrenzten intellektuellen Fähigkeiten von Jair Bolsonaro, der nicht in der Lage ist, auch nur ein oberflächliches Gespräch mit führenden Politiker*innen der Welt zu führen. Die analysierten Daten zeigen jedoch, dass er bei der Erfüllung all seiner Wahlversprechen von 2018, die sich vor allem gegen die Rechte der Bevölkerung richten, ziemlich erfolgreich war. Taktisch hat er Allianzen mit rechtsextremen Gruppen, christlichen Pfingstkirchen, der Waffenindustrie und illegalen Extraktivist*innen geschlossen und damit dem organisierten Verbrechen mehr Raum gegeben. Durch die Bestechung politischer Parteien gelang es ihm, Gesetze zu verabschieden, die die zuvor eroberten Rechte wieder einschränkten. Er zerstörte Institutionen und Foren der gesellschaftlichen Partizipation und machte Menschenrechtsverteidi-gerinnen, Nichtregierungsorganisationen und Indigene zu Staatsfeinden.

Während er Budgets, öffentliche Dienstleistungen und Kontrollinstrumente zerstörte, hat Bolsonaro erfolgreich auf einen manichäischen populistischen Diskurs („wir gegen sie“) gesetzt, der typisch für Faschist*innen ist. Damit hat er Sexismus, Rassismus und LGBTI-Phobie in einem Land, das bereits durch Sklaverei und Machismus traumatisiert ist, noch verstärkt. Fakten lügen nicht: Die Zahl der Feminizide an Transgender-Frauen hat im Jahr 2021 zugenommen, ebenso wie die politische, sexuelle und psychische Gewalt, die selbst Frauen im Parlament betrifft. Nach Angaben von UN-Women haben 82 Prozent der brasilianischen Politikerinnen psychische Gewalt erlitten, 45 Prozent wurden bedroht, 25 Prozent wurden im Parlament körperlich angegriffen und 20 Prozent wurden sexuell belästigt. Brasilien liegt heute bei der Beteiligung von Frauen in den Parlamenten auf Platz 143 von 188 Ländern (2015 war es noch Platz 115) und in der Bundesregierung sind nur 8,7 Prozent der Minister*innen Frauen.

Die Regierung spricht sich offen gegen sexuelle und reproduktive Rechte und Gendergerechtigkeit aus, so dass die Sexualerziehung aus dem Nationalen Gemeinsamen Basislehrplan (BNCC) gestrichen wurde. Nur 3 von 26 Bundesstaaten empfehlen den Schulen, Unterricht über Sexualität, Genderfragen, Prävention von Teenagerschwangerschaften und Gewalt anzubieten. Selbst die Bekämpfung von HIV und Aids, in der Brasilien ein internationales Vorbild war, wurde deutlich geschwächt, da die Mittel für Präventionskampagnen in alarmierender Weise gekürzt wurden. Betrug das Budget für HIV/AIDS-Prävention 2015 noch 20,1 Millionen brasilianische Reais, sank es 2020, im zweiten Jahr der Amtszeit von Jair Bolsonaro, auf 3,9 Millionen Reais. 2021 waren es nur noch rund 100.000 Reais.

Die Regierung Bolsonaro war eine angekündigte Katastrophe, aber die Ergebnisse sind deutlich schlimmer, als von der Zivilgesellschaft erwartet. Denn es bestand noch die Hoffnung, dass die demokratischen Institutionen bei der Erfüllung ihres Mandats der Exekutive die richtigen Grenzen setzen würden – was nicht geschah. Und so erscheint Brasilien 2022 erneut auf der Welthungerkarte: Die Anzahl der Hungernden stieg von 19,1 Millionen im Jahr 2020 auf 33,1 Millionen im Jahr 2021; insgesamt 125,2 Millionen Menschen leben in einem gewissen Grad von Ernährungsunsicherheit. Das ist mehr als jede*r Zweite im Land.

Brasilien erwartet die gewalttätigsten Wahlen seiner Geschichte

Bei einer Arbeitslosenquote von 11,2 Prozent fehlt es an wirksamen Maßnahmen, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Die Agrarreform wurde ausgesetzt und die Zahl der Konflikte auf dem Land ist bis 2021 um 1.100 Prozent gestiegen, während das räuberische Agrobusiness weiter vorrückt und das Leben der Indigenen und Quilombolas zerstört. Das brasilianische Entwicklungsmodell setzt grundsätzlich auf den Primärsektor und ist von geringer Dynamik und hoher Umweltzerstörung gekennzeichnet. Doch die Situation ist außer Kontrolle geraten: Die Entwaldung war im Jahr 2021 um 79 Prozent höher als im Jahr 2020 und erreichte 20 Prozent der Gesamtfläche des Amazonasgebiets, während sie im Trockenwald Cerrado um acht Prozent (8.531 km2) zunahm. Zwischen 2019 und 2021 gingen in den Schutzgebieten 130 Prozent mehr Waldfläche verloren als in den drei Jahren zuvor, und in den indigenen Gebieten war die Entwaldung um 138 Prozent höher.

Das Wirtschaftsteam der Regierung Bolsonaro ist nachweislich inkompetent und theoretisch nicht auf dem neusten Stand, so dass es – selbst wenn es wollte, was nicht der Fall ist – nicht wüsste, wie es mit der schwierigen ökonomischen Situation in Brasilien umgehen soll. Durch seine Arbeit stieg die Inflation, die Preise für Treibstoff, Energie und die Lebenshaltungskosten. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg der Anzahl der auf der Straße lebenden Menschen. Die jüngste Volkszählung in der reichen Stadt São Paulo hat ergeben, dass die Zahl der Obdachlosen in den vergangenen zwei Jahren um 31 Prozent gestiegen ist und sich überwiegend aus Frauen, Kindern und ganzen Familien zusammensetzt. Bolsonaro verfolgt jedoch weiter strukturpolitische Maßnahmen, und hat erst vor wenigen Wochen, mit Blick auf die Wahlen, mehr Mittel für soziale Hilfsleistungen bewilligt.

Bei all diesen deprimierenden Kennzahlen zeigt der Spotlight Report aber auch, dass es Lösungen gibt. Die 116 Empfehlungen zeigen, dass es möglich ist, unsere Rechte wieder in den öffentlichen Haushalt aufzunehmen und den Boden zurückzugewinnen, den wir durch Gewalt, Hunger, Armut, Rassismus und geschlechtsspezifische Ungleichheiten verloren haben, die das heutige Brasilien kennzeichnen. Wir müssen unbedingt unsere Kultur der Privilegien beenden. Dazu ist es dringend erforderlich, die Arbeits- und Sozialversicherungsreformen der vergangenen Jahre zu revidieren, und die Gesetze wieder abzuschaffen, die öffentliche Investitionen in Gesundheit, Bildung und andere wichtige Bereiche verhindern. Zum Beispiel die Verfassungsänderung EC 95 der Regierung von Michel Temer, die von den Vereinten Nationen als die weltweit drastischste wirtschaftliche Maßnahme gegen soziale Rechte angesehen wird. Wir brauchen eine Steuerreform, über die effiziente und menschenrechtsorientierte Projekte gefördert werden. Schließlich müssen wir die Steuervermeidung und -hinterziehung sowie die öffentliche Finanzierung von Unternehmen, die nicht auf eine nachhaltige Entwicklung hinarbeiten, beenden. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen werden wir nicht aufgeben, bis diese Regierung und ihre Kumpane im Parlament für ihre Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Dafür müssen die Kapazitäten der Zivilgesellschaft und der demokratischen Institutionen gestärkt werden, auch durch eine größere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft.

IN DER PARANOIDEN PARALLELWELT DES BOLSONARISMUS

Sieht nicht nur faschistisch aus Bolsonaro beim cercadinho (Foto: Niklas Franzen)

Langsam rollt die schwarze Limousine heran und bremst vor einem hüfthohen Gitter. Ein Mann öffnet die hintere Tür des Wagens. Jair Bolsonaro steigt aus, richtet seinen Anzug, grinst. Hinter einer Absperrung stehen rund 30 Menschen, ich bin einer davon. Fast jeden Tag trifft Brasiliens Präsident in der Hauptstadt Brasília seine Anhänger*innen vor dem Palast der Morgenröte, der offiziellen Residenz. Er schüttelt Hände, plaudert, posiert für Selfies. Ein Präsident zum Anfassen.

Ich habe mich als Unterstützer getarnt. Denn Journalist*innen sind hier nicht erwünscht. Kolleg*innen rieten mir ab, am cercadinho, am kleinen Zaun, aufzukreuzen. Viel zu riskant, sagten sie. Und ihre Sorge ist nicht unberechtigt. Journalist*innen wurden hier schon beschimpft, bespuckt, geschlagen. Mittlerweile haben sich Medienvertreter*innen daran gewöhnt, von Pressekonferenzen ausgeladen, durch Online-Kampagnen eingeschüchtert und wüst beschimpft zu werden. Auch der Präsident beteiligt sich höchstpersönlich an der Hetze gegen die vierte Gewalt. Vor dem Palast der Morgenröte brüllte er einmal einem Reporter entgegen, dass er Lust habe, ihm sein Gesicht einzuschlagen. Einem anderen erklärte er vor laufenden Kameras, dass er aussehe wie ein „schrecklicher Homosexueller“.

So ist es nicht verwunderlich, dass die großen Medienhäuser ihre Reporter*innen schon länger nicht mehr zum cercadinho schicken. Doch ich wollte unbedingt eines dieser skurrilen Treffen hautnah miterleben. Denn an kaum einem anderen Ort kommt man dem Präsidenten so nah wie hier. An kaum einem anderen Ort wird Bolsonaro so deutlich in seinen Ansprachen. Und an kaum einem anderen Ort lässt sich besser die fast schon religiöse Hingabe von Bolsonaros Anhänger*innen beobachten.

Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn.

Auch für den Präsidenten sind die Treffen enorm wichtig. Sie sind eine Möglichkeit, Dampf abzulassen und Dinge einzuordnen. Ohne Kritik, ohne Widerspruch, ohne Nachfragen der Presse. Ich versuche es trotzdem und spreche Bolsonaro auf eine Klage von Umweltschützer*innen vor dem Internationalen Strafgerichtshof an. Verärgert schaut er mich an und beginnt, sichtlich genervt über NGOs zu schimpfen. Es wird klar: Bolsonaro will hier nicht über kritische Dinge sprechen. Das ist typisch für seinen autoritären Kurs. Dialog findet kaum noch statt. Politik macht Bolsonaro nur für seine Basis. Dass er an diesem Abend wieder einmal haarsträubende Lügen erzählt, stört hier niemanden.

Aus dem ganzen Land sind die Fans des Präsidenten angereist. Tausende Kilometer für ein kurzes Treffen. Einige haben Freudentränen in den Augen. Ein blonder Mann murmelt immer wieder: „Ein Traum ist wahr geworden, ein Traum ist wahr geworden.“ Bei den meisten Menschen löst ein Treffen mit einem Staatsoberhaupt Ehrfurcht aus. Doch bei Bolsonaro ist es mehr. Es ist eine Verehrung, die schon fast sektenhafte Züge trägt. Woher kommt dieser regelrechte Führerkult? Ist es Bolsonaros Persönlichkeit? Sind es seine politischen Ideen? Oder hat er einfach nur Gefühle freigesetzt, die seit langem in den Brasilianer*innen schwelen?

Vor dem Präsidentenpalast lerne ich Clemerson kennen. 37, braungebrannt, Brasilien-Trikot. Mit seinem Sohn ist er aus dem Soja-Bundesstaat Mato Grosso angereist, um „seinen Präsidenten“ zu treffen. Warum er Bolsonaro unterstütze? „Er ist ehrlich. Ganz anders als der Rest.“ Solche Aussagen hört man häufig. Von seinen Anhänger*innen wird Bolsonaro für seine „authentische Art“ gefeiert. Und in der Tat ist er mehr als der hasserfüllte Provokateur. Der Rechtsradikale versteht es, eine einfache Sprache zu benutzen, was in einem Land mit einem geringen Bildungsniveau nicht ganz unwichtig ist. Er ist sehr direkt, erzählt gerne Anekdoten, macht Witze und nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Mit dieser Art gibt er seinen Unterstützer*innen zu verstehen: Seht her, ich bin ein ganz normaler Brasilianer! Einer von euch! So ist es für ihn kein Nachteil, dass er nur ein mittelmäßiger Redner ist und wenig Ausstrahlung hat. Im Gegenteil. Fast alle haben einen Onkel oder Bruder, die ähnlich reden oder auftreten wie Bolsonaro. In Zeiten einer schweren gesellschaftlichen und politischen Krise, in der dem politischen Establishment große Ablehnung entgegenschlägt, wünschen sich viele genau so jemand wie Bolsonaro: Hauptsache kein klassischer Politiker.

Addition von Extremen statt gemeinsamer Mitte

Bolsonaro hat sich immer als Vollstrecker des „wahren Volkswillens“ betrachtet. Jemand, der die vermeintlichen Eliten das Fürchten lehrt. Klassischer Populismus. Doch der Bolsonarismus ist mehr, er hat durchaus ein ideologisches Fundament. Ein tropischer Neofaschismus, sagen einige. Klar ist: Im Bolsonarismus vereinen sich ganz unterschiedliche reaktionäre Ideen. Religiöser Fanatismus, Ultranationalismus, Militarismus, Antikommunismus. Was sie zusammenhält, ist die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und eine Haltung, sich hermetisch nach außen abzuschirmen. Zweifel? Gibt es nicht. Kritik? Wird nicht toleriert. Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind. Wir gegen die. Bolsonaro nährt diese Wagenburgmentalität, indem er ständig Konflikte mit den demokratischen Institutionen provoziert.

In der paranoiden Parallelwelt des Bolsonarismus ist das „System“, also die Justiz, der Kongress und die Medien, von einer korrupten Elite infiziert und müsse deshalb gesäubert werden. Richtig ist: Bolsonaro liegt im Dauerclinch mit den Institutionen, weil diese vielen Initiativen der Regierung einen Riegel vorgeschoben haben. Mit seiner Ablehnung der Gewaltenteilung ähnelt Bolsonaro seinen autoritären Zeitgenossen auf der ganzen Welt, die die Parlamente und Justiz entweder zerschlagen haben oder sie frontal angreifen. Diese Schützengrabenlogik hat noch einen weiteren Vorteil: Jegliche Unfähigkeit des Präsidenten lässt sich mit dem Widerstand des „Systems“ erklären. Mehrmals spreche ich Unterstützer*innen von Bolsonaro auf die magere Bilanz ihres Idols an. Die Antwort ist fast immer die gleiche: „Sie lassen den Präsidenten nicht arbeiten.“

Auch die ständigen Eklats und Polemiken haben System. Man hat kaum Zeit, auf einen Zwischenfall einzugehen, schon wird dieser vom nächsten überschattet. Mal gibt Bolsonaro im Fußballtrikot Pressekonferenzen, mal beschimpft er im Kneipenjargon seine politischen Gegner*innen. Dadurch schafft er es, sich ständig in Szene zu setzen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und von eigenen Fehlern abzulenken. Seine Fans vergöttern ihn für die „unkonventionelle Art“. Seit Bolsonaros fulminantem Wahlsieg im Jahr 2018 ist viel Zeit vergangen. Der Rowdy-Präsident hat die meisten seiner Versprechen nicht eingehalten, das Land an den Rand eines Kollaps geführt. Traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Doch obwohl sich viele ehemalige Wähler*innen von Bolsonaro abgewendet haben, kann er sich auf den harten Kern seiner Unterstützer*innen verlassen. Seine Anhänger*innen stehen nicht trotz, sondern wegen seiner ständigen Tabubrüche und Provokationen hinter ihm.

Früher ging es in der Politik einmal darum, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Doch wenn Bolsonaro eine Sache gelernt hat, dann die: Man muss als Politiker nicht mehr die ganze Bevölkerung ansprechen, auch nicht als Präsident. Heute reicht es, die Gesellschaft zu spalten und kleine Gruppen mit einer Idee anzustecken. „Um eine Mehrheit für sich zu gewinnen, ist es nicht mehr nötig, eine gemeinsame Mitte zu finden, sondern man addiert einfach die Extremen“, schreibt der italienische Journalist Giuliano da Empoli in seinem Buch „Ingenieure des Chaos“. Deshalb sollte man den von den Rechten initiierten Kulturkampf nicht unterschätzen. Es geht primär darum, kleine Gruppen anzustacheln. Und damit sind sie extrem erfolgreich. Ein Teil der Gesellschaft driftet immer weiter in rechtsradikale Paralleluniversen ab. Es ist davon auszugehen, dass sich Teile der brasilianischen Bevölkerung noch weiter radikalisieren. Wie weit sind die bereit zu gehen?

Gerade in Krisenzeiten sucht Bolsonaro immer wieder Zuflucht bei seinen radikalisierten Anhänger*innen. Und er versucht konstant Bilder zu produzieren, die ihn als großen Volkstribun zeigen. Bolsonaro düst im Stile des italienischen Faschisten Benito Mussolini in Motorradparaden über Autobahnen, lässt sich vermeintlich spontan an Stränden blicken und von Badegästen feiern. Warum tut er das? Die Antwort ist simpel: Weil er im Prinzip gar keine andere Möglichkeit hat. Durch seine Politik hat sich Bolsonaro weitestgehend isoliert, er hat keine starke Partei hinter sich, gilt für viele Brasilianer*innen als die Hassfigur schlechthin. Ohne seine radikalisierte Basis hat Bolsonaro nicht viel vorzuweisen. Deshalb ist es für ihn auch nicht möglich, sich zu mäßigen oder sich wie ein normaler Präsident zu verhalten.

Im Oktober 2022 findet die nächste Präsidentschaftswahl in Brasilien statt. Einige haben die Hoffnung, Bolsonaro ließe sich an der Urne abwählen. Das stimmt hoffentlich. Doch es wäre fatal, bereits einen Abgesang anzustimmen. Denn bis zur Wahl wird noch sehr viel passieren. Und es ist ein Fehler, ausschließlich auf Amtszeiten zu blicken. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Er repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen, nicht nur auf der großen Bühne der Bundespolitik. Bolsonaros Ideen und sein Politikstil sind gekommen, um zu bleiben.

DER INGENIEUR DES CHAOS UNTER DRUCK

8. März Demo in Recife gegen Gewalt gegen Frauen und Bolsonaros Regierung (Foto: Maria Nilo)

Es waren schwere Schläge, die Brasiliens rechtsextremer Präsident Jair Bolsonaro in den vergangenen Tagen einstecken musste. Seit nunmehr zwei Wochen stehen Brasilianer*innen auf ihren Balkonen und an den Fenstern, schlagen mit Kochlöffeln auf Töpfe und Pfannen und rufen lautstark: Fora Bolsonaro! („Weg mit Bolsonaro!“).

Besonders schmerzhaft muss für den Rechtspopulisten sein, dass es vor allem die reicheren Viertel der großen Städte sind, die sich an den panelaços (panela ist ein Kochtopf) beteiligen. Waren es doch diese Stadtviertel, in denen seit 2015 gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff protestiert und bei den Wahlen 2018 mehrheitlich Bolsonaro gewählt wurde. Wenn sich die Eliten abwenden, war dies bisher in Brasilien immer ein untrügliches Zeichen, dass eine Regierung an ihr Ende gelangt war.

Gouverneur*innen in offener Konfrontation mit Bolsonaro

Eigentlich müsste der Politiker des Typs „Ingenieur des Chaos“, in der Pandemie ganz in seinem Element sein. Und er tut auch sein Möglichstes, um die Krise zu potenzieren. Bis heute spielt er die Gefahr des Corona-Virus herunter.

„Wenn ich mich mit dem Virus infiziere, bekomme ich nur eine kleine Grippe (gripezinha) oder eine leichte Erkältung (resfriadinho), denn ich habe eine Geschichte als Athlet“, wiederholte er noch am 26. März, als Brasilien schon 2.500 nachgewiesene Fälle und 60 Tote zu beklagen hatte. Wochenlang kopierte er Trumps Aussagen, jeweils einen Tag später. Die letzte Kehrtwende Trumps, in der dieser vor Corona warnt und die Vorsichtsmaßnahmen bis Ende April verlängerte, hat Bolsonaro allerdings nicht vollzogen.

Stattdessen überholte er sein Idol mit der Forderung, Brasilien müsse so bald wie möglich zur Normalität zurückkehren. „Das Virus ist hier, wird von uns angegangen und in Kürze wieder verschwinden. Unser Leben muss weitergehen. Die Arbeitsplätze müssen erhalten bleiben,” sagte er am 24. März.

Am 27. März verbreitete das staatliche Sekretariat für Kommunikation (Secom) ein Video unter dem Hashtag #obrasilnaopodeparar („Brasilien kann nicht stillstehen”) auf Instagram. Die Posts wurden von Flávio Bolsonaro, Senator und Sohn des Präsidenten, auf Facebook und von politischen Weggefährten Bolsonaros auf WhatsApp geteilt.

Als auf Antrag der Bundesstaatsanwaltschaft des Ministerio Público Kampagnen in offiziellen Accounts der brasilianischen Bundesregierung, die sich gegen die Kontaktbeschränkung richten und „nicht auf das Genaueste auf wissenschaftlichen Fakten basieren”, gerichtlich verboten wurden, warf die Regierung die üblichen Nebelkerzen: Es habe sich ja gar nicht um eine offizielle Kampagne gehandelt. Dennoch eine herbe Niederlage für Bolsonaro, der seinen Wahlsieg vor allem gut orchestrierten Fake-Botschaften in den sozialen Medien verdankt.

Doch es kam noch dicker: Twitter, Facebook und Instagram löschten unabhängig voneinander Posts Bolsonaros. „Es werden solche Botschaften gelöscht, die den Informationen der Gesundheitsbehörden zu der Pandemie widersprechen und das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus erhöhen könnten“.

Es scheint, als ob Medien, Justiz und Politik, die Jair Bolsonaro als Kandidaten und Präsidenten auch noch die absurdesten Aussagen wie Honig von den Lippen gesaugt haben, angesichts der realen Gefahr der Pandemie langsam aufwachen und feststellen: Dieser Kaiser trägt wirklich keine Kleider.

Wirtschaft am Rande des Kollapses

Ein inzwischen gelöschtes Video auf Twitter zeigte den Präsidenten am 29. März ohne Mundschutz und Sicherheitsabstand beim Besuch eines Marktes in Ceilândia in der Schar seiner Anhänger*innen – eine offene Machtdemonstration gegen die Corona-Maßnahmen der Gouverneur*innen und der bisherige Höhepunkt eines andauernden Konflikts mit ehemaligen politischen Weggefährt*innen.

Die Gouverneur*innen von 24 Bundesstaaten (einschließlich des Bundesdistrikts, zu dem Ceilândia gehört) gingen seit dem 13. März in offene Konfrontation mit Bolsonaro und dessen bewusster Ignoranz der Gefahren durch Corona: Sie schlossen Läden, Betriebe, Schulen und Universitäten – und die Bevölkerung folgt den Anweisungen in den Bundesstaaten.

„Militärintervention jetzt!” Bolsonaro-Anhänger in São Paulo auf einer der Demonstrationen gegen das Parlament und den Obersten Gerichtshof am 15. März (Foto: Niklas Franzen)

Am Wochenende waren bei bestem Wetter die Strände in Rio de Janeiro und Bahia nahezu leer, die Innenstädte der Großstädte wie ausgestorben, die meisten Geschäfte auch in den Vororten geschlossen. Einzig die Bundesstaaten Mato Grosso, Rondônia und Santa Catarina, fest in der Hand politischer Vasallen Bolsonaros, folgen dem Präsidenten.

Angesichts der Masse an rebellierenden Gouverneur*innen tobte Bolsonaro und erließ Präsidialdekrete, die die Maßnahmen in den Bundesstaaten wieder außer Kraft setzen sollten. Es könne nicht sein, dass die Landesregierungen ein „Konzept der verbrannten Erde“ durchzögen, kritisierte er, nachdem der Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, João Doria, einstiger Verbündeter und heute ärgster politischer Feind Bolsonaros, eine weitgehende Ausgangsbeschränkung für die mehr als 40 Millionen Einwohner*innen verhängt hatte.

„Die Risikogruppe sind Personen über 60 Jahre. Wozu also Schulen schließen?“, blaffte Bolsonaro und forderte die sofortige Öffnung der Schulen. Doch auch in diesem Fall musste er eine juristische Niederlage einstecken. Die Obersten Richter*innen folgten seiner Argumentation nicht und hoben die Dekrete wieder auf. Leicht durchschaubar ist dabei, dass er in Zukunft, wenn Millionen von Brasilianer*innen ihren Job verloren haben, sagen kann, er habe ja davor gewarnt und versucht, die falschen Maßnahmen zu verhindern.

Brasiliens Wirtschaft stand schon vor der Corona-Krise am Rande des Kollaps. Die Landeswährung Real ist weiter im freien Fall, erstmals in der Geschichte des Landes müssen für einen US-Dollar mehr als fünf Reais gezahlt werden. Und dennoch bewirkte diese Währungsabwertung so gut wie keine spürbare Exportnachfrage bei Industriegütern, obwohl durch den im Tauschwert sinkenden Real Brasiliens Industrieproduktion doch eigentlich wettbewerbsfähiger werden sollte.

Auch ausländische Investor*innen fassen Brasilien, so als sei es ein heißes Eisen, nicht mehr an und zogen im Gesamtjahr 2019 netto 44,5 Milliarden Reais von Brasiliens größter Börse Bovespa in São Paulo ab. In den ersten zwei Monaten dieses Jahres (also bereits bevor Brasilien langsam klar wurde, welche Auswirkungen das Coronavirus auf das Land haben könnte), waren es bereits 44,8 Milliarden Reais (derzeit umgerechnet acht Milliarden Euro). Solche Zahlen treiben selbst die kapitalbesitzenden Schichten auf die Balkone und Terrassen, der Kochlöffel kreist nun auch über der Teflon-Pfanne.

Drei Wege zur Entmachtung Bolsonaros

Was aber schlägt Bolsonaro in der Corona-Krise vor? „Werden durch den Virus ein paar sterben? Ja, klar, die werden sterben“, sagte er im Fernsehinterview. „Wenn es da wen falsch erwischt, dann ist das eben so. Sorry.“ Da es Bolsonaro nicht um Menschen, sondern um seine Wahlklientel aus der Wirtschaft geht, ließ er sein Kabinett ein entsprechendes Präsidialdekret erarbeiten.

Angesichts der Corona-Krise sollten Firmen ihre Angestellten für bis zu vier Monate einfach außer Dienst stellen können – ohne Lohnfortzahlung, ohne Abfindung, ohne staatliche Maßnahmen. Nach einem massiven öffentlichen Proteststurm – Tenor „Entweder wir sterben am Virus oder am Hunger“ – mussten Bolsonaro und Wirtschaftsminister Paulo Guedes das Dekret noch am gleichen Tag wieder zurückziehen.

Sie erklärten, der Erlass sei vom Wirtschaftsministerium erarbeitet und „schlecht redigiert“ worden. Eine Woche später reagierte die Regierung auf den Druck angesichts der massiven Notlage, in der sich Millionen von Brasilianer*innen von einem Tag auf den anderen befinden, und schlägt vor, jeder bedürftigen Familien 200 Reais (35 Euro) monatlich zur Verfügung zu stellen. Der Kongress befand dies jedoch für nicht ausreichend. Das Abgeordnetenhaus und der Senat in Brasília erhöhten den Betrag auf 600 Reais beziehungsweise 1.200 Reais für Familien und Alleinerziehende.

Nach den Niederlagen in den sozialen Medien, gegenüber der Justiz und Gouverneur*innen nun also auch eine Niederlage im Kongress. So wundert es nicht, dass Spekulationen über das baldige Ende Bolsonaros zunehmen. Das Online-Medium Congresso em Foco geht davon aus, dass Bolsonaro schneller als gedacht aus dem Amt gedrängt werden könnte und sieht dafür drei Wege. Entweder werde er über eine notwendige (oder vorgeschobene) medizinische Behandlung von der Machtzentrale entfernt. Der Gerüchte und Mutmaßungen über seinen Gesundheitszustand gibt es viele: Krebs, Corona oder Spätfolgen des Messer-Attentats auf ihn im Wahlkampf 2018. Oder als zweite Variante: Das Parlament grenze Bolsonaro zunehmend aus und werde so zum Schalthebel der politischen Handlungszentrale.

Letztere Variante findet angesichts der sich zuspitzende Lage der Corona-Krise vor allem bei den Gouverneur*innen der einzelnen Bundesstaaten zunehmend Anhänger*innen. Sie wollen die Autorität mehr auf die Länder und somit weg von Brasília verlagern, was de facto bereits geschieht.

Eine dritte Möglichkeit zur Entmachtung Bolsonaros wäre ein Amtsenthebungsverfahren. Dem Kongress liegen dazu mittlerweile achtzehn Anträge auf Amtsenthebung vor, alle aus dem linken oder sozialdemokratischen Spektrum.

Ein Präsident im verbalen Putschmodus

Bislang weigert sich Parlamentspräsident Rodrigo Maia von der rechten Partei DEM, einen der Anträge auf die Tagesordnung des Parlaments zu setzen. Es gäbe dafür „bisher“ kein Motiv, äußerte er sich dazu in der vergangenen Woche. Die Tageszeitung Valor Econômico veröffentlichte vor wenigen Tagen einen Artikel zu einer vierten Variante à la Boris Jelzin: Bolsonaro werde einen Rücktritt akzeptieren, wenn ihm und seinen Söhnen Amnestie zugesichert werde.

Vorerst schüttelt Bolsonaro aber weiter eifrig die Hände seiner fanatischen Anhänger*innen, umarmt und herzt sie und ruft zum Sturm auf Kongress und zur Auflösung des Obersten Gerichtshofs auf. Er versucht, seine Klientel treu zu bedienen und erklärte in der vergangenen Woche unter anderem Gottesdienste zu lebenswichtigen Dienstleistungen. Auch dieses Dekret wurde von der Justiz umgehend annulliert.

Der Präsident ist im verbalen Putschmodus, doch mittlerweile steht er politisch mit dem Rücken zur Wand, auch wenn die Unterstützung durch seine Anhänger*innen immer noch vergleichsweise hoch ist. Während nur noch 36 Prozent der Bevölkerung seine Regierung für gut erachten, so halten immerhin 56 Prozent derjenigen, die ihn 2018 gewählt hatten, Bolsonaros (Nicht-)Politik in Bezug auf Corona für gut. Auch erschreckend große Anteile der Militärpolizei und des Militärs halten ihrem Hauptmann die Treue.

Gleichzeitig steigen die Zahlen der Verbreitung des Corona-Virus auf 4.661 Infizierte und 165 Tote (Stand 30. März). Dabei dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen, denn auch in Brasilien wird kaum getestet. Angesichts des katastrophalen Umgangs des Präsidenten mit der Pandemie wird zunehmend klarer, dass eine Regierung aus rechtsradikalen Populisten, evangelikalen Eiferern und martialischen Militärs soeben dabei ist, Brasilien vollends gegen die Wand fahren zu lassen.

„Ihre Regierung ist vorbei“- diese Worte musste sich Jair Bolsonaro in aller Öffentlichkeit anhören. Ein Video der Szene machte bereits Mitte März Furore in den sozialen Netzwerken in Brasilien. Bolsonaro stand vor seinem Regierungspalast und tat so, als würde er den Satz nicht verstehen. Aus einer Gruppe vor dem Gebäude sprach ein Migrant aus Haiti diese gleichsam prophetischen Worte, die sich immer deutlicher als Möglichkeit abzeichnen, auch wenn das Danach nicht unbedingt besser sein wird.

Ein auf Bolsonaro nachrückender General Hamilton Mourão, der derzeit meist mephistophelisch in sich hinein grinsende Vizepräsident in Brasília, böte wenig gute Aussichten. Am 31. März, dem Tag des Militärputsches von 1964, sagte er, vor 56 Jahren habe das Militär in die Politik eingreifen müssen, „um die Unordnung, Subversion und Korruption zu bekämpfen“.

„IHR TRAUM IST UNSER ALPTRAUM“

Foto: Verena Glass

Der von Brasiliens Präsidenten dem Nationalkonkongress vorgelegte Gesetzesentwurf zur Änderung der möglichen wirtschaftlichen Aktivitäten in indigenen Territorien wurde von Jair Bolsonaro am 5. Februar in einer feierlichen Zeremonie anlässlich der ersten 400 Tage seiner Regierung unterzeichnet. Er bezeichnete das Gesetzesvorhaben als „Traum“. Bisher wurde der Entwurf der Presse nicht übergeben, sondern lediglich an den brasilianischen Nationalkongress weitergeleitet. Die endgültige Genehmigung der Gesetzesvorlage werden die beiden Kammern des Kongresses, Abgeordnetenhaus und Senat, treffen.

Laut Medienberichten sieht der Gesetzentwurf vor, dass die indigenen Völker bei einer künftigen wirtschaftlichen Nutzung indigener Territorien durch Dritte eine finanzielle Entschädigung erhalten. Diese ist jedoch geringer angesetzt als vergleichbare Lizenzgebühren, wie zum Beispiel bei der Erschließung von Erdöllagerstätten: Bei der Nutzung von Wasserkraft sollen die Gemeinden 0,7 Prozent des Wertes der erzeugten Energie erhalten, im Falle von Erdöl, Erdgas und deren Derivaten würde dieser Wert bei bis zu einem Prozent des produzierten Wertes liegen. Im Fall von Bergbauaktivitäten soll die Ausgleichszahlung an die indigenen Gemeinden 50 Prozent des Wertes der finanziellen Entschädigung für die Ausbeutung von Mineralressourcen betragen. Auch eine Kompensation, um die indigenen Völker für den Nutzungsausfall eines Teils ihres Landes zu entschädigen, ist vorgesehen, klare Berechnungsgrundlagen wurden aber bisher nicht bekannt gemacht.

Die Reaktion einer der Sprecher*innen der indigenen Gemeinden in Brasilien, Sonia Guajajara, war eindeutig: „Ihr Traum, werter Herr Präsident, ist unser Alptraum, unsere Vernichtung, weil der Bergbau Tod, Krankheiten und Elend hervorruft und unsere Zukunft zerstören wird. Wir wissen, dass Ihr Traum in Wirklichkeit unser institutionalisierter Genozid ist, aber wir werden weder Bergbau, noch Wasserkraftwerke in unseren Territorien erlauben.“

Obwohl Brasilien die Konvention 169 der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz der Rechte der indigenen Völker unterzeichnet hat, gibt der Gesetzesentwurf den indigenen Völkern keine grundlegende Autonomie, um selbst zu entscheiden, ob sie ihr Land ausbeuten lassen wollen oder nicht. Die Gemeinschaften sollen zwar angehört werden, aber bei Projekten der Wasserkraft- oder Erdölerschließung geht es nur um Konsultationen ohne ein Vetorecht. Letztlich könnte so die Exekutive des Landes über die Köpfe der Betroffenen hinweg entscheiden. Das Vetorecht der indigenen Völker gilt nur mit einer Ausnahme: bei Schürfrechten (der sogenannte „garimpo“). Denn der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass die Indigenen selbst (zum Beispiel Gold) schürfen können oder auch Dritte damit beauftragen. Angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen bei den indigenen Völkern sind Streit und Zwist über Schürfrechte vorprogrammiert, ein Umstand, den ein Jair Bolsonaro sehr wohl zu nutzen weiß.
Erst Ende Januar dieses Jahres hatte Bolsonaro erneut dargelegt, was er über Indigene denkt. „Der Indio ist dabei sich zu ändern, sich zu entwickeln. Der Indio wird uns immer ähnlicher. Also werden wir alles tun, damit er sich in die Gesellschaft integriert und wirklich Besitzer seiner Ländereien wird. Das ist es, was wir wollen.“ Dazu soll die nun vorgelegte Gesetzesinitiative ihren Teil beitragen, so es nach Bolsonaro geht. Das Agrarbusiness und die Bergbaukonzerne werden den Rest übernehmen.

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