Mehr als überleben

G77-Gipfel in Kuba Lula setzt auch auf die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden (Foto: Palácio do Planalto/Ricardo Stuckert/PR via Flickr (CC BY ND 2.0 Deed))

Von Anfang an war klar, dass Lula sein Amt unter sehr schwierigen Bedingungen antritt. Die Partei Lulas, die Arbeiterpartei (PT), verfügt auch mit ihren Verbündeten über keine Mehrheit, sie muss mit der Unterstützung eines konservativen Blocks regieren, der allgemein als Centrão bezeichnet wird. Und der nur sehr knappe Wahlsieg sowie die Wahlerfolge vieler Unterstützer*innen von Bolsonaro machen die Ausgangslage nicht einfacher. So werden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens (São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro) von Anhängern Bolsonaros regiert. Angesichts dieser extrem schwierigen Ausgangslage hat die Regierung Lula ihr erstes Jahr zwar nicht ohne Blessuren, aber doch mit beachtlichen Erfolgen überstanden.

Allerdings hängt die Bewertung stark von den Erwartungen ab. International konzentrierten sich diese auf die Frage der Entwaldung und Brasiliens Rolle in der zukünftigen Klimapolitik. Dies korrespondiert aber auch mit den Erwartungen der indigenen Völker, die im Widerstand gegen die Bolsonaro-Regierung eine prominente Rolle eingenommen hatten. Die ersten Signale des gewählten Präsidenten waren sehr vielversprechend. Zum einen wurde zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein Ministerium für indigene Fragen eingerichtet und dies mit einer prominenten Vertreterin der indigenen Völker, Sônia Guajajara, besetzt. Zum anderen wurde mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin ein starkes Zeichen dafür gesetzt, dass Umweltpolitik nun eine wichtige Rolle in der Regierungspolitik spielt. Eine erste eindrucksvolle Aktion war ein energisches Vorgehen gegen die illegale Goldschürferei in Amazonien.

Aber bald zeigten sich auch die ersten Konfliktlinien. Auf einem Treffen der Amazonasstaaten unterstützte die brasilianische Regierung nicht die Forderung von Kolumbiens Präsident Petro nach einem Moratorium für neue Ölförderungen in Amazonien. Hintergrund ist die mögliche Erschließung von Ölvorhaben im Gebiet der Amazonasmündung. Die Regierung ist in dieser Frage gespalten. Während das Energieministerium und der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras die Erschließung befürworten, hat das Umweltministerium Einspruch erhoben. Der Konflikt um das Öl am Amazonas zeigt auch, dass die Konfliktlinien quer durch die Regierung gehen. Der von Lula eingesetzte Präsident der Petrobras war bis dahin Senator für die PT und hat das wichtige Amt als Vertrauter Lulas gewonnen. Zurzeit ist völlig offen, wie der Konflikt ausgeht.

Einen Erfolg kann Lula jedenfalls verbuchen: Die Entwaldungszahlen sind im Jahre 2023 deutlich gesunken – zumindest im Amazonasgebiet. So sank die Entwaldung im September von 1.454 Quadratkilometer im Jahre 2022 auf 590 im Jahre 2023. Auch wenn die Zahlen noch vorläufig sind, steht eine deutliche Reduzierung der Entwaldung im Amazonasgebiet außer Frage. Aber im angrenzenden Cerrado (Baumsteppe) ist die Entwaldung währenddessen gestiegen – von 273,41 auf 516,73 Quadratkilometer (alle Angaben beziehen sich auf den Monat September).

Die Entwaldungszahlen im Amazonasgebiet sind deutlich gesunken

Für die meiste Brasilianer*innen ist aber die Entwicklung der Wirtschaft entscheidend für die Bewertung der Regierung. Und hier läuft es ganz gut. Die Inflation geht zurück, sie liegt jetzt bei 5,19 Prozent. Das Wirtschaftswachstum für 2023 wird knapp unter 3 Prozent liegen, nach Jahren der Wirtschaftskrise ein beachtlicher Wert und die Arbeitslosenquote weist mit 7,7 Prozent den niedrigsten Wert seit 2015 auf. Dabei hatten die formalen Beschäftigungsverhältnisse das größte Wachstum. Und auch die Programme zur Bekämpfung der extremen Armut zeigen erste Erfolge. Nach einer Studie, an der unter anderem die Fundação Getúlio Vargas und die Weltbank beteiligt waren, ist die Zahl der in extremer Armut Lebenden bis September um drei Millionen (von 4,5 Millionen) zurückgegangenen. Die Wiederaufnahme der verschiedenen Programme zur Armutsbekämpfung zeigen offensichtlich bereits Wirkung.
Diese Erfolge sind keineswegs selbstverständlich und werden unter widrigen Umständen erzielt. Die Zentralbank wird immer noch von einem Präsidenten geleitet, der von Bolsonaro eingesetzt worden ist. Er weigerte sich zunächst, die Leitzinsen zu senken und tat dies dann auch nur in homöopathischen Dosen. Im November 2023 liegt der Leitzins (Selic) bei 12,25 Prozent und damit deutlich über der Inflationsrate. Die zweite große Schwierigkeit der Regierung ist der eher eingeschränkte Spielraum für Ausgaben durch einen Haushaltsdeckel, der unter der Regierung Temer mit einer Verfassungsänderung eingeführt worden ist. Der Regierung Lula ist es gelungen, diese Restriktionen zumindest zu lockern. Bemerkenswert ist, dass es der Regierung gelang, alle wichtigen Abstimmungen in den ökonomischen Fragen recht deutlich zu gewinnen. Die Frage ist nur zu welchem Preis.

Die Mechanismen der brasilianischen Politik lassen sich gut an dem Beispiel einer Steuerreform erkennen, die vielleicht das wichtigste Reformprojekt der Regierung Lula im Jahre 2023 ist. Kernstück ist die Vereinfachung von verschiedenen Steuern zu einer einheitlichen Mehrwertsteuer. Diese Vereinfachung des Steuersystems wurde sogar von den Bolsonaro-Gouverneuren unterstützt. Schwieriger war es aber, eine Mehrheit für einen anderen zentralen Punkt der Steuerreform zu bekommen, nämlich der Besteuerung von großen Vermögen und im Ausland operierenden Fonds (offshore) brasilianischer Anleger*innen. Das konnte nur durch Kompromisse (niedrigere Steuerquote als ursprünglich geplant) und durch Verhandlungen mit dem Centrão gelingen. Schlüsselfigur ist dabei der Parlamentspräsident Arthur Lira. Er forderte von Lula für seine politische Klientel die Leitung der Caixa Econômica Federal – eine staatliche Bank, die nach Zahl der Kontoinhaber*innen mit 150 Millionen die größte Bank Brasiliens ist und zahlreiche staatliche Sozial- und Kreditprogramme abwickelt. Lula kam dieser Forderung nach, entließ die Amtsinhaberin und ernannte einen Vertrauensmann Liras, Carlos Antônio Vieira Fernandes. Neben der Caixa wurden insgesamt drei Ministerien in diesem Jahr dem Centrão geopfert. Dabei musste die prominente Volleyballspielerin Ana Moser den Posten der Sportministerin räumen und einem Mann des Centrão weichen. Zwei der drei geopferten Ministerien wurden von Frauen geleitet, ihre Nachfolger sind alles Männer des Centrão.

Ein weiteres Mittel, parlamentarische Zustimmungen zu erkaufen, sind die sogenannten emendas parlamentares. Das sind Zusatzanträge von einzelnen Abgeordneten zum Haushalt. Sie haben in diesem Jahr ein Volumen von etwa sieben Milliarden Euro erreicht. Diese emendas müssen von der Regierung in den Haushalt aufgenommen werden, zwingen dann aber auch die Abgeordneten, dem Haushalt zuzustimmen.

Deutlich weniger von Kompromissen abhängig ist Lula in der Außenpolitik. Und hier wird der Bruch mit seinem Vorgänger Bolsonaro besonders deutlich. Als erste Priorität verkündete Lula den Ausbau der Beziehungen zu den Ländern Südamerikas und seine erste Auslandsreise führte ihn nach Argentinien. Im Mai gelang es Brasilien, einen Lateinamerika-Gipfel zu organisieren, der in seiner Abschlusserklärung die Perspektive einer größeren Kooperation wiederbelebte. Im Juni folgte der Gipfel der Amazonasanrainerstaaten in Belém, wohl der Höhepunkt der außenpolitischen Initiativen im Jahre 2023. Lula will offensichtlich Brasilien wegen der Entwaldungen im Amazonasgebiet von der Anklagebank herunterholen und das Land zu einem Vorreiter der globalen Klimapolitik zu machen. Er weiß, dass eine globale Führungsrolle Brasiliens nur erreicht werden kann, wenn das Land ein glaubhafter Player in der Klimapolitik wird. Jedoch zeigten sich auch auf dem Amazonasgipfel Differenzen, die eine substanziellere Einigung verhinderten. So war schnell klar, dass ein konkretes Ziel zur Reduzierung von Entwaldung, wie es Brasilien verkündet hat, nicht konsensfähig ist. Und die Frage der Erdölförderung zeigt die bereits erwähnten Differenzen zu der Position der kolumbianischen Regierung.

In der globalen Politik ist Brasilien von einer Blockbildung mit dem „Westen“ deutlich abgerückt. Nach einigem Zögern wurde der Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt, aber Brasilien beteiligt sich nicht an den Sanktionen. Ein deutliches Signal ist auch die Wiederbelebung der BRICS-Allianz auf dem Gipfeltreffen im vergangenen August in Südafrika. Dass Brasilien mit China und Russland bedenkenlos kooperiert, wurde vom „Westen“ mit Kritik überzogen. Aber Indien verhält sich keinen Deut anders als Brasilien, der Wille eine multilaterale Weltordnung zu fördern, ist offensichtlich sehr groß. Die neue Zusammenkunft ist natürlich nicht in erster Linie ein Bündnis für die Menschenrechte, wie auch die Liste der Beitrittskandidaten für die BRICS Koalition zeigt. Hier finden sich etwa Saudi-Arabien und Iran.

Brasiliens Regierung will dies nicht als anti-westliche Politik verstehen, Leitbild ist vielmehr die Idee „ein Land ohne Feinde“ und Kooperation mit allen, unabhängig von den innenpolitischen Verhältnissen dieser Länder. Und so gehört auch der Abschluss der Freihandelsabkommen zwischen Brasilien und den anderen Mercosur-Staaten zu den Prioritäten der Regierung.

Wie also kaum anders zu erwarten, finden sich in der Einjahresbilanz positive und negative Punkte. Eine Bewertung hängt stark von den Erwartungen ab, die man an die Regierung Lula hat. Eines sollte aber klar sein: die Erwartung kann nicht sein, dass Lula eine Regierung der sozialen Transformation anführt oder eine Regierung gegen das Agrobusiness. Es ist eine Regierung einer sehr heterogenen Allianz mit einer prekären parlamentarischen Mehrheit. Sieht man diesen Ausgangspunkt, dann hat sich die Regierung Lula im ersten Jahr recht gut geschlagen und sogar eine Steuerreform durchbekommen, die die Besteuerung hoher Einkommen verschärft. In den Umfragen bewerten nach neun Monaten Regierungszeit 48 Prozent der Befragten die Regierung positiv, ein Wert, von dem die deutsche Bundesregierung nur träumen kann. Aber stabile 45 Prozent der Bevölkerung lehnen die Regierung ab. Die Spaltung des Landes ist also nicht überwunden und die Gefahr eine Rückkehr des Bolsonarismo nicht gebannt.

IN DER PARANOIDEN PARALLELWELT DES BOLSONARISMUS

Sieht nicht nur faschistisch aus Bolsonaro beim cercadinho (Foto: Niklas Franzen)

Langsam rollt die schwarze Limousine heran und bremst vor einem hüfthohen Gitter. Ein Mann öffnet die hintere Tür des Wagens. Jair Bolsonaro steigt aus, richtet seinen Anzug, grinst. Hinter einer Absperrung stehen rund 30 Menschen, ich bin einer davon. Fast jeden Tag trifft Brasiliens Präsident in der Hauptstadt Brasília seine Anhänger*innen vor dem Palast der Morgenröte, der offiziellen Residenz. Er schüttelt Hände, plaudert, posiert für Selfies. Ein Präsident zum Anfassen.

Ich habe mich als Unterstützer getarnt. Denn Journalist*innen sind hier nicht erwünscht. Kolleg*innen rieten mir ab, am cercadinho, am kleinen Zaun, aufzukreuzen. Viel zu riskant, sagten sie. Und ihre Sorge ist nicht unberechtigt. Journalist*innen wurden hier schon beschimpft, bespuckt, geschlagen. Mittlerweile haben sich Medienvertreter*innen daran gewöhnt, von Pressekonferenzen ausgeladen, durch Online-Kampagnen eingeschüchtert und wüst beschimpft zu werden. Auch der Präsident beteiligt sich höchstpersönlich an der Hetze gegen die vierte Gewalt. Vor dem Palast der Morgenröte brüllte er einmal einem Reporter entgegen, dass er Lust habe, ihm sein Gesicht einzuschlagen. Einem anderen erklärte er vor laufenden Kameras, dass er aussehe wie ein „schrecklicher Homosexueller“.

So ist es nicht verwunderlich, dass die großen Medienhäuser ihre Reporter*innen schon länger nicht mehr zum cercadinho schicken. Doch ich wollte unbedingt eines dieser skurrilen Treffen hautnah miterleben. Denn an kaum einem anderen Ort kommt man dem Präsidenten so nah wie hier. An kaum einem anderen Ort wird Bolsonaro so deutlich in seinen Ansprachen. Und an kaum einem anderen Ort lässt sich besser die fast schon religiöse Hingabe von Bolsonaros Anhänger*innen beobachten.

Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn.

Auch für den Präsidenten sind die Treffen enorm wichtig. Sie sind eine Möglichkeit, Dampf abzulassen und Dinge einzuordnen. Ohne Kritik, ohne Widerspruch, ohne Nachfragen der Presse. Ich versuche es trotzdem und spreche Bolsonaro auf eine Klage von Umweltschützer*innen vor dem Internationalen Strafgerichtshof an. Verärgert schaut er mich an und beginnt, sichtlich genervt über NGOs zu schimpfen. Es wird klar: Bolsonaro will hier nicht über kritische Dinge sprechen. Das ist typisch für seinen autoritären Kurs. Dialog findet kaum noch statt. Politik macht Bolsonaro nur für seine Basis. Dass er an diesem Abend wieder einmal haarsträubende Lügen erzählt, stört hier niemanden.

Aus dem ganzen Land sind die Fans des Präsidenten angereist. Tausende Kilometer für ein kurzes Treffen. Einige haben Freudentränen in den Augen. Ein blonder Mann murmelt immer wieder: „Ein Traum ist wahr geworden, ein Traum ist wahr geworden.“ Bei den meisten Menschen löst ein Treffen mit einem Staatsoberhaupt Ehrfurcht aus. Doch bei Bolsonaro ist es mehr. Es ist eine Verehrung, die schon fast sektenhafte Züge trägt. Woher kommt dieser regelrechte Führerkult? Ist es Bolsonaros Persönlichkeit? Sind es seine politischen Ideen? Oder hat er einfach nur Gefühle freigesetzt, die seit langem in den Brasilianer*innen schwelen?

Vor dem Präsidentenpalast lerne ich Clemerson kennen. 37, braungebrannt, Brasilien-Trikot. Mit seinem Sohn ist er aus dem Soja-Bundesstaat Mato Grosso angereist, um „seinen Präsidenten“ zu treffen. Warum er Bolsonaro unterstütze? „Er ist ehrlich. Ganz anders als der Rest.“ Solche Aussagen hört man häufig. Von seinen Anhänger*innen wird Bolsonaro für seine „authentische Art“ gefeiert. Und in der Tat ist er mehr als der hasserfüllte Provokateur. Der Rechtsradikale versteht es, eine einfache Sprache zu benutzen, was in einem Land mit einem geringen Bildungsniveau nicht ganz unwichtig ist. Er ist sehr direkt, erzählt gerne Anekdoten, macht Witze und nimmt nie ein Blatt vor den Mund. Mit dieser Art gibt er seinen Unterstützer*innen zu verstehen: Seht her, ich bin ein ganz normaler Brasilianer! Einer von euch! So ist es für ihn kein Nachteil, dass er nur ein mittelmäßiger Redner ist und wenig Ausstrahlung hat. Im Gegenteil. Fast alle haben einen Onkel oder Bruder, die ähnlich reden oder auftreten wie Bolsonaro. In Zeiten einer schweren gesellschaftlichen und politischen Krise, in der dem politischen Establishment große Ablehnung entgegenschlägt, wünschen sich viele genau so jemand wie Bolsonaro: Hauptsache kein klassischer Politiker.

Addition von Extremen statt gemeinsamer Mitte

Bolsonaro hat sich immer als Vollstrecker des „wahren Volkswillens“ betrachtet. Jemand, der die vermeintlichen Eliten das Fürchten lehrt. Klassischer Populismus. Doch der Bolsonarismus ist mehr, er hat durchaus ein ideologisches Fundament. Ein tropischer Neofaschismus, sagen einige. Klar ist: Im Bolsonarismus vereinen sich ganz unterschiedliche reaktionäre Ideen. Religiöser Fanatismus, Ultranationalismus, Militarismus, Antikommunismus. Was sie zusammenhält, ist die Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und eine Haltung, sich hermetisch nach außen abzuschirmen. Zweifel? Gibt es nicht. Kritik? Wird nicht toleriert. Es gibt nur zwei Kategorien: Für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind. Wir gegen die. Bolsonaro nährt diese Wagenburgmentalität, indem er ständig Konflikte mit den demokratischen Institutionen provoziert.

In der paranoiden Parallelwelt des Bolsonarismus ist das „System“, also die Justiz, der Kongress und die Medien, von einer korrupten Elite infiziert und müsse deshalb gesäubert werden. Richtig ist: Bolsonaro liegt im Dauerclinch mit den Institutionen, weil diese vielen Initiativen der Regierung einen Riegel vorgeschoben haben. Mit seiner Ablehnung der Gewaltenteilung ähnelt Bolsonaro seinen autoritären Zeitgenossen auf der ganzen Welt, die die Parlamente und Justiz entweder zerschlagen haben oder sie frontal angreifen. Diese Schützengrabenlogik hat noch einen weiteren Vorteil: Jegliche Unfähigkeit des Präsidenten lässt sich mit dem Widerstand des „Systems“ erklären. Mehrmals spreche ich Unterstützer*innen von Bolsonaro auf die magere Bilanz ihres Idols an. Die Antwort ist fast immer die gleiche: „Sie lassen den Präsidenten nicht arbeiten.“

Auch die ständigen Eklats und Polemiken haben System. Man hat kaum Zeit, auf einen Zwischenfall einzugehen, schon wird dieser vom nächsten überschattet. Mal gibt Bolsonaro im Fußballtrikot Pressekonferenzen, mal beschimpft er im Kneipenjargon seine politischen Gegner*innen. Dadurch schafft er es, sich ständig in Szene zu setzen, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und von eigenen Fehlern abzulenken. Seine Fans vergöttern ihn für die „unkonventionelle Art“. Seit Bolsonaros fulminantem Wahlsieg im Jahr 2018 ist viel Zeit vergangen. Der Rowdy-Präsident hat die meisten seiner Versprechen nicht eingehalten, das Land an den Rand eines Kollaps geführt. Traumatisiert durch die Pandemie, als Paria im Ausland, zernagt durch die Wirtschaftskrise. Doch obwohl sich viele ehemalige Wähler*innen von Bolsonaro abgewendet haben, kann er sich auf den harten Kern seiner Unterstützer*innen verlassen. Seine Anhänger*innen stehen nicht trotz, sondern wegen seiner ständigen Tabubrüche und Provokationen hinter ihm.

Früher ging es in der Politik einmal darum, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Doch wenn Bolsonaro eine Sache gelernt hat, dann die: Man muss als Politiker nicht mehr die ganze Bevölkerung ansprechen, auch nicht als Präsident. Heute reicht es, die Gesellschaft zu spalten und kleine Gruppen mit einer Idee anzustecken. „Um eine Mehrheit für sich zu gewinnen, ist es nicht mehr nötig, eine gemeinsame Mitte zu finden, sondern man addiert einfach die Extremen“, schreibt der italienische Journalist Giuliano da Empoli in seinem Buch „Ingenieure des Chaos“. Deshalb sollte man den von den Rechten initiierten Kulturkampf nicht unterschätzen. Es geht primär darum, kleine Gruppen anzustacheln. Und damit sind sie extrem erfolgreich. Ein Teil der Gesellschaft driftet immer weiter in rechtsradikale Paralleluniversen ab. Es ist davon auszugehen, dass sich Teile der brasilianischen Bevölkerung noch weiter radikalisieren. Wie weit sind die bereit zu gehen?

Gerade in Krisenzeiten sucht Bolsonaro immer wieder Zuflucht bei seinen radikalisierten Anhänger*innen. Und er versucht konstant Bilder zu produzieren, die ihn als großen Volkstribun zeigen. Bolsonaro düst im Stile des italienischen Faschisten Benito Mussolini in Motorradparaden über Autobahnen, lässt sich vermeintlich spontan an Stränden blicken und von Badegästen feiern. Warum tut er das? Die Antwort ist simpel: Weil er im Prinzip gar keine andere Möglichkeit hat. Durch seine Politik hat sich Bolsonaro weitestgehend isoliert, er hat keine starke Partei hinter sich, gilt für viele Brasilianer*innen als die Hassfigur schlechthin. Ohne seine radikalisierte Basis hat Bolsonaro nicht viel vorzuweisen. Deshalb ist es für ihn auch nicht möglich, sich zu mäßigen oder sich wie ein normaler Präsident zu verhalten.

Im Oktober 2022 findet die nächste Präsidentschaftswahl in Brasilien statt. Einige haben die Hoffnung, Bolsonaro ließe sich an der Urne abwählen. Das stimmt hoffentlich. Doch es wäre fatal, bereits einen Abgesang anzustimmen. Denn bis zur Wahl wird noch sehr viel passieren. Und es ist ein Fehler, ausschließlich auf Amtszeiten zu blicken. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn der Namensgeber dieses Phänomens nicht mehr Präsident sein sollte. Er repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen, nicht nur auf der großen Bühne der Bundespolitik. Bolsonaros Ideen und sein Politikstil sind gekommen, um zu bleiben.

Newsletter abonnieren