Brasilien | Nummer 594 - Dezember 2023

Mehr als überleben

Ein Jahr Lula-Regierung ohne parlamentarische Mehrheit

Der Wahlsieg Lulas bei den Präsidentschaftswahlen war für alle, die nicht Bolsonaro unterstützen, eine riesige Erleichterung und wohl auch die Rettung der brasilianischen Demokratie. Diese Erleichterung hält bis heute an. Aber nach fast einem Jahr der Lula-Regierung fällt eine erste Bilanz sehr gemischt aus – was keine Überraschung ist.

Von Thomas Fatheuer
G77-Gipfel in Kuba Lula setzt auch auf die Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden (Foto: Palácio do Planalto/Ricardo Stuckert/PR via Flickr (CC BY ND 2.0 Deed))

Von Anfang an war klar, dass Lula sein Amt unter sehr schwierigen Bedingungen antritt. Die Partei Lulas, die Arbeiterpartei (PT), verfügt auch mit ihren Verbündeten über keine Mehrheit, sie muss mit der Unterstützung eines konservativen Blocks regieren, der allgemein als Centrão bezeichnet wird. Und der nur sehr knappe Wahlsieg sowie die Wahlerfolge vieler Unterstützer*innen von Bolsonaro machen die Ausgangslage nicht einfacher. So werden die drei bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Brasiliens (São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro) von Anhängern Bolsonaros regiert. Angesichts dieser extrem schwierigen Ausgangslage hat die Regierung Lula ihr erstes Jahr zwar nicht ohne Blessuren, aber doch mit beachtlichen Erfolgen überstanden.

Allerdings hängt die Bewertung stark von den Erwartungen ab. International konzentrierten sich diese auf die Frage der Entwaldung und Brasiliens Rolle in der zukünftigen Klimapolitik. Dies korrespondiert aber auch mit den Erwartungen der indigenen Völker, die im Widerstand gegen die Bolsonaro-Regierung eine prominente Rolle eingenommen hatten. Die ersten Signale des gewählten Präsidenten waren sehr vielversprechend. Zum einen wurde zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens ein Ministerium für indigene Fragen eingerichtet und dies mit einer prominenten Vertreterin der indigenen Völker, Sônia Guajajara, besetzt. Zum anderen wurde mit der Ernennung der international hoch angesehenen Marina Silva zur Umweltministerin ein starkes Zeichen dafür gesetzt, dass Umweltpolitik nun eine wichtige Rolle in der Regierungspolitik spielt. Eine erste eindrucksvolle Aktion war ein energisches Vorgehen gegen die illegale Goldschürferei in Amazonien.

Aber bald zeigten sich auch die ersten Konfliktlinien. Auf einem Treffen der Amazonasstaaten unterstützte die brasilianische Regierung nicht die Forderung von Kolumbiens Präsident Petro nach einem Moratorium für neue Ölförderungen in Amazonien. Hintergrund ist die mögliche Erschließung von Ölvorhaben im Gebiet der Amazonasmündung. Die Regierung ist in dieser Frage gespalten. Während das Energieministerium und der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras die Erschließung befürworten, hat das Umweltministerium Einspruch erhoben. Der Konflikt um das Öl am Amazonas zeigt auch, dass die Konfliktlinien quer durch die Regierung gehen. Der von Lula eingesetzte Präsident der Petrobras war bis dahin Senator für die PT und hat das wichtige Amt als Vertrauter Lulas gewonnen. Zurzeit ist völlig offen, wie der Konflikt ausgeht.

Einen Erfolg kann Lula jedenfalls verbuchen: Die Entwaldungszahlen sind im Jahre 2023 deutlich gesunken – zumindest im Amazonasgebiet. So sank die Entwaldung im September von 1.454 Quadratkilometer im Jahre 2022 auf 590 im Jahre 2023. Auch wenn die Zahlen noch vorläufig sind, steht eine deutliche Reduzierung der Entwaldung im Amazonasgebiet außer Frage. Aber im angrenzenden Cerrado (Baumsteppe) ist die Entwaldung währenddessen gestiegen – von 273,41 auf 516,73 Quadratkilometer (alle Angaben beziehen sich auf den Monat September).

Die Entwaldungszahlen im Amazonasgebiet sind deutlich gesunken

Für die meiste Brasilianer*innen ist aber die Entwicklung der Wirtschaft entscheidend für die Bewertung der Regierung. Und hier läuft es ganz gut. Die Inflation geht zurück, sie liegt jetzt bei 5,19 Prozent. Das Wirtschaftswachstum für 2023 wird knapp unter 3 Prozent liegen, nach Jahren der Wirtschaftskrise ein beachtlicher Wert und die Arbeitslosenquote weist mit 7,7 Prozent den niedrigsten Wert seit 2015 auf. Dabei hatten die formalen Beschäftigungsverhältnisse das größte Wachstum. Und auch die Programme zur Bekämpfung der extremen Armut zeigen erste Erfolge. Nach einer Studie, an der unter anderem die Fundação Getúlio Vargas und die Weltbank beteiligt waren, ist die Zahl der in extremer Armut Lebenden bis September um drei Millionen (von 4,5 Millionen) zurückgegangenen. Die Wiederaufnahme der verschiedenen Programme zur Armutsbekämpfung zeigen offensichtlich bereits Wirkung.
Diese Erfolge sind keineswegs selbstverständlich und werden unter widrigen Umständen erzielt. Die Zentralbank wird immer noch von einem Präsidenten geleitet, der von Bolsonaro eingesetzt worden ist. Er weigerte sich zunächst, die Leitzinsen zu senken und tat dies dann auch nur in homöopathischen Dosen. Im November 2023 liegt der Leitzins (Selic) bei 12,25 Prozent und damit deutlich über der Inflationsrate. Die zweite große Schwierigkeit der Regierung ist der eher eingeschränkte Spielraum für Ausgaben durch einen Haushaltsdeckel, der unter der Regierung Temer mit einer Verfassungsänderung eingeführt worden ist. Der Regierung Lula ist es gelungen, diese Restriktionen zumindest zu lockern. Bemerkenswert ist, dass es der Regierung gelang, alle wichtigen Abstimmungen in den ökonomischen Fragen recht deutlich zu gewinnen. Die Frage ist nur zu welchem Preis.

Die Mechanismen der brasilianischen Politik lassen sich gut an dem Beispiel einer Steuerreform erkennen, die vielleicht das wichtigste Reformprojekt der Regierung Lula im Jahre 2023 ist. Kernstück ist die Vereinfachung von verschiedenen Steuern zu einer einheitlichen Mehrwertsteuer. Diese Vereinfachung des Steuersystems wurde sogar von den Bolsonaro-Gouverneuren unterstützt. Schwieriger war es aber, eine Mehrheit für einen anderen zentralen Punkt der Steuerreform zu bekommen, nämlich der Besteuerung von großen Vermögen und im Ausland operierenden Fonds (offshore) brasilianischer Anleger*innen. Das konnte nur durch Kompromisse (niedrigere Steuerquote als ursprünglich geplant) und durch Verhandlungen mit dem Centrão gelingen. Schlüsselfigur ist dabei der Parlamentspräsident Arthur Lira. Er forderte von Lula für seine politische Klientel die Leitung der Caixa Econômica Federal – eine staatliche Bank, die nach Zahl der Kontoinhaber*innen mit 150 Millionen die größte Bank Brasiliens ist und zahlreiche staatliche Sozial- und Kreditprogramme abwickelt. Lula kam dieser Forderung nach, entließ die Amtsinhaberin und ernannte einen Vertrauensmann Liras, Carlos Antônio Vieira Fernandes. Neben der Caixa wurden insgesamt drei Ministerien in diesem Jahr dem Centrão geopfert. Dabei musste die prominente Volleyballspielerin Ana Moser den Posten der Sportministerin räumen und einem Mann des Centrão weichen. Zwei der drei geopferten Ministerien wurden von Frauen geleitet, ihre Nachfolger sind alles Männer des Centrão.

Ein weiteres Mittel, parlamentarische Zustimmungen zu erkaufen, sind die sogenannten emendas parlamentares. Das sind Zusatzanträge von einzelnen Abgeordneten zum Haushalt. Sie haben in diesem Jahr ein Volumen von etwa sieben Milliarden Euro erreicht. Diese emendas müssen von der Regierung in den Haushalt aufgenommen werden, zwingen dann aber auch die Abgeordneten, dem Haushalt zuzustimmen.

Deutlich weniger von Kompromissen abhängig ist Lula in der Außenpolitik. Und hier wird der Bruch mit seinem Vorgänger Bolsonaro besonders deutlich. Als erste Priorität verkündete Lula den Ausbau der Beziehungen zu den Ländern Südamerikas und seine erste Auslandsreise führte ihn nach Argentinien. Im Mai gelang es Brasilien, einen Lateinamerika-Gipfel zu organisieren, der in seiner Abschlusserklärung die Perspektive einer größeren Kooperation wiederbelebte. Im Juni folgte der Gipfel der Amazonasanrainerstaaten in Belém, wohl der Höhepunkt der außenpolitischen Initiativen im Jahre 2023. Lula will offensichtlich Brasilien wegen der Entwaldungen im Amazonasgebiet von der Anklagebank herunterholen und das Land zu einem Vorreiter der globalen Klimapolitik zu machen. Er weiß, dass eine globale Führungsrolle Brasiliens nur erreicht werden kann, wenn das Land ein glaubhafter Player in der Klimapolitik wird. Jedoch zeigten sich auch auf dem Amazonasgipfel Differenzen, die eine substanziellere Einigung verhinderten. So war schnell klar, dass ein konkretes Ziel zur Reduzierung von Entwaldung, wie es Brasilien verkündet hat, nicht konsensfähig ist. Und die Frage der Erdölförderung zeigt die bereits erwähnten Differenzen zu der Position der kolumbianischen Regierung.

In der globalen Politik ist Brasilien von einer Blockbildung mit dem „Westen“ deutlich abgerückt. Nach einigem Zögern wurde der Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt, aber Brasilien beteiligt sich nicht an den Sanktionen. Ein deutliches Signal ist auch die Wiederbelebung der BRICS-Allianz auf dem Gipfeltreffen im vergangenen August in Südafrika. Dass Brasilien mit China und Russland bedenkenlos kooperiert, wurde vom „Westen“ mit Kritik überzogen. Aber Indien verhält sich keinen Deut anders als Brasilien, der Wille eine multilaterale Weltordnung zu fördern, ist offensichtlich sehr groß. Die neue Zusammenkunft ist natürlich nicht in erster Linie ein Bündnis für die Menschenrechte, wie auch die Liste der Beitrittskandidaten für die BRICS Koalition zeigt. Hier finden sich etwa Saudi-Arabien und Iran.

Brasiliens Regierung will dies nicht als anti-westliche Politik verstehen, Leitbild ist vielmehr die Idee „ein Land ohne Feinde“ und Kooperation mit allen, unabhängig von den innenpolitischen Verhältnissen dieser Länder. Und so gehört auch der Abschluss der Freihandelsabkommen zwischen Brasilien und den anderen Mercosur-Staaten zu den Prioritäten der Regierung.

Wie also kaum anders zu erwarten, finden sich in der Einjahresbilanz positive und negative Punkte. Eine Bewertung hängt stark von den Erwartungen ab, die man an die Regierung Lula hat. Eines sollte aber klar sein: die Erwartung kann nicht sein, dass Lula eine Regierung der sozialen Transformation anführt oder eine Regierung gegen das Agrobusiness. Es ist eine Regierung einer sehr heterogenen Allianz mit einer prekären parlamentarischen Mehrheit. Sieht man diesen Ausgangspunkt, dann hat sich die Regierung Lula im ersten Jahr recht gut geschlagen und sogar eine Steuerreform durchbekommen, die die Besteuerung hoher Einkommen verschärft. In den Umfragen bewerten nach neun Monaten Regierungszeit 48 Prozent der Befragten die Regierung positiv, ein Wert, von dem die deutsche Bundesregierung nur träumen kann. Aber stabile 45 Prozent der Bevölkerung lehnen die Regierung ab. Die Spaltung des Landes ist also nicht überwunden und die Gefahr eine Rückkehr des Bolsonarismo nicht gebannt.

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