Brasilien | Nummer 584 - Februar 2023 | Politik

DIE HOFFNUNG KEHRT ZURÜCK

Unter Lula gewinnen die sozialen Bewegungen wieder an politischer Bedeutung

Am 1. Januar 2023 wurde die Welt Zeuge des Beginns der dritten Amtszeit von Luis Inácio „Lula“ da Silva. Der Gewerkschaftsführer, der Brasilien zwischen 2003 und 2010 regiert hatte, überwand alle Hindernisse und wurde im Oktober 2022 für eine dritte Amtszeit gewählt – ein beispielloser Erfolg in der demokratischen Geschichte Brasiliens. Das Ereignis zeigte einmal mehr das Engagement sozialer Bewegungen – wie die der Wertstoffsammler*innen – die unter den Regierungen von Michel Temer und Jair Bolsonaro keine politische Bedeutung hatten.

Von Luena Abigail Pimenta Ricardo

Amtseinführung von LulaDie präsidiale Schärpe wurde ihm von der Wertstoffsammlerin Aline Sousa (links) umgelegt (Foto: Marcelo Camargo, Agência Brasil)

Es war für niemanden eine Überraschung, dass der bei den Präsidentschaftswahlen geschlagene ehemalige Präsident Jair Bolsonaro am 30. Dezember Brasilien verließ. Das Schweigen nach seiner Niederlage bildete einen scharfen Kontrast zu den lautstarken anti-demokratischen Protesten seiner Anhänger*innen, die seit Ende Oktober vor Kasernen kampierten und eine Militärintervention forderten. Die Abwesenheit Bolsonaros führte aber zur medial vielfach so bezeichneten „schönsten Amtseinführung in der Geschichte Brasiliens“: Acht Menschen aus der brasilianischen Zivilgesellschaft überreichten Lula da Silva die offizielle Präsidentschaftsschärpe.

Der neugewählte Präsident Lula da Silva machte bereits während seiner Kampagne und in seiner Rede am Wahlabend deutlich, dass er zum Wohl aller Braslianer*innen regieren würde. Lulas Optimismus und sein Anliegen Brasilien wieder aufzubauen, halfen ihm, die Kommunikation mit den sozialen Bewegungen wieder aufzunehmen. Auch die Hoffnung auf die Rückkehr einer Politik zum Wohl von Minderheiten entstand neu.

Frauen, Kinder, Schwarze Menschen, Menschen mit Behinderungen, Indigene und Führungspersönlichkeiten der sozialen Bewegungen standen bei der Amtseinführung an der Seite von Lula. Darunter war Aline Sousa, Sammlerin recycelbarer Materialien (Catadora) und eine der führenden Vertreterinnen der Nationalen Bewegung der Wertstoffsammler*innen (MNCR) sowie Geschäftsführerin des Netzwerkes Centcoop im Regierungsbezirk. Als letzte von acht Vertreter*innen der Zivilgesellschaft überreichte sie Lula in einem hochemotionalen Moment seine Schärpe. Aline Sousa repräsentiert laut Schätzungen der MNCR eine Gruppe von 800.000 Menschen, die in Brasilien recycelbare Materialien sammeln. Bereits während seiner ersten Amtszeit trug Lula zur Organisation der Bewegung bei, die laut dem Institut für angewandte wirtschaftliche Forschung (IPEA) für 90 Prozent der Müllverwertung verantwortlich ist.

Wertstoff-sammler*innen fordern ihre Rechte zurück

Gegründet wurde die MNCR bereits 2001, nach dem ersten Nationalen Kongress der Catadores in Brasilia. 2006 wandte sich die Bewegung mit ihren Forderungen nach mehr öffentlicher Unterstützung an die erste Regierung unter Präsident Lula. 2010 wurde mittels der „Nationalen Strategie für feste Abfälle“ festgelegt, dass Kommunen die jeweiligen Verbände und Kooperativen in entsprechende Maßnahmen miteinbeziehen müssen. Das Pro-Catador-Programm wurde ebenfalls 2010 ins Leben gerufen und sollte die Arbeiter*innen dabei unterstützen sich zu organisieren.

Die Regierung von Bolsonaro machte dagegen die über Jahre etablierten Richtlinien rückgängig, welche die Wertstoffsammler*innen besser in die Arbeitswelt integrieren sollten. Das Programm Recicla+, das unter Bolsonaro eingeführt wurde, vernachlässigte die Abfallsammler*innen vollständig, betont Neli Medeiros, Aktivistin und Catadora des Verbandes COOPESOLI Barreiro.

„Seit 2016, nach der Amtsenthebung von Dilma Rousseff, gab es für uns keine Fortschritte. Im Gegenteil, wir haben unsere Rechte verloren und unsere Arbeit sowie die Produktionsketten haben darunter gelitten. Das Programm Recicla+ hat uns geschadet, weil es große Firmen begünstigt, während wir nichts davon haben. Die Übergabe der Schärpe ist ein Symbol dafür, dass auch wir in der Politik etwas zu sagen haben und die Regeln, die unsere Produktionsketten betreffen, mitbestimmen können. Lulas Rückkehr bedeutet, dass wir unsere Arbeit neu organisieren können, unsere Würde zurückerobern und uns die Leute wieder sehen.“

Bereits am 2. Januar erließ Präsident Lula eine Verordnung, die das unter Bolsonaro gestrichene Programm Pro-Catador wieder aufnehmen und das Programm Recicla + überarbeiten soll. Auch Anderson Viana, Gründer und Präsident des Vereins UNICILA, analysierte es als positive politische Entwicklung, die Catadores wieder direkt in diese Regierungsprogramme mit einzubeziehen: „Lula und seine Regierung haben uns Türen geöffnet. Sie hören unsere Forderungen. Wir haben Lula gesagt, dass wir die Fördermaßnahmen für Catadores wieder zurückhaben wollen. Wir baten ihn darum, das Pro-Catador-Programm zurückzubringen und ein nationales Sekretariat für Abfallverwertung einzurichten, so wie es uns versprochen wurde. Heute fühle ich mich endlich wieder als Teil der Regierung. Wir regieren. Unsere Klasse wird gehört und wir werden für unsere Arbeit, die wir für die Gesellschaft ausüben, Anerkennung erhalten. Die Arbeit der Catadores bedeutet soziale Inklusion – die meisten von uns sind Frauen und Schwarze Personen. Gleichzeitig bilden wir als Catadores auch einen Raum, in dem Menschen aus der queeren Community willkommen sind. Ich sehe, dass die Menschen unsere Arbeit in Zukunft respektieren werden.”

Die Herausforderung, den Fortschritt des Landes und die Überwindung seiner ideologischen Spaltung miteinander in Einklang zu bringen, gilt es zu meistern. Trotzdem gibt es Gründe optimistisch zu sein, besonders für diejenigen, die sich von der brasilianischen Politik lange Zeit ausgeschlossen gefühlt haben. Bei Lulas Amtseinführung kam die Botschaft an: Frauen, Indigene, Schwarze, Kinder und Menschen mit Behinderungen, werden wieder eine Priorität auf der politischen Agenda einnehmen.

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