„DIE GUERILLAS BEGANNEN ALS SELBSTVERTEIDIGUNGSGRUPPEN“
Interview mit Luis Hernández Navarro über die sogenannten Autodefensas in Mexiko und andere Strukturen bewaffneter Selbstverteidigung
Wie muss man sich das Panorama der Selbstverteidigung in Mexiko vorstellen?
Es gilt zwischen Selbstverteidigungsgruppen, den sogenannten autodefensas, und Gemeinschaftspolizei zu unterscheiden. Unter Gemeinschaftspolizei verstehe ich Sicherheitskräfte, die in indigenen Gemeinden auftreten und die einem normativen System verpflichtet sind. Sie müssen sich vor den Gemeindeversammlungen verantworten. Selbstverteidigungsgruppen hingegen sind bewaffnete Zivilisten, die sich selbst organisieren, um ihre Gemeinden zu verteidigen. Sie sind aber nicht an ein normatives System gebunden oder Rechenschaft schuldig. Hinzu kommt als wichtiges Moment die indigene Identität der Gemeinschaftspolizei, um die einen von den anderen zu unterscheiden.
Treten Gemeindepolizei und Selbstverteidigungsgruppen parallel auf?
In zehn der 36 Bundesstaaten Mexikos existieren Selbstverteidigungsgruppen und Gemeinschaftspolizei nebeneinander. In Chiapas existieren sie natürlich in Form der Zapatisten. In Guerrero gibt es mit etwa 25 Gruppen die meisten bewaffneten Gruppen, fast in der Hälfte aller Landkreise. In Oaxaca existieren sie auf eine institutionelle Art und Weise und werden vom Staat akzeptiert. Zudem treten sie noch in Michoacán, San Luis Potosí, Chihuahua, Veracruz und Yucatán auf. In Puebla und Jalisco waren die Selbstverteidigungsgruppen und Gemeindepolizei nur von vorübergehender Natur.
Meinen Sie eingangs mit „normativen System“ das, was in Mexiko als indigene Usos y Costumbres (Sitten und Gebräuche) bezeichnet wird?
In Mexiko versteht man Usos y Costumbres vielmehr als eine juristische Extrawurst, eine indigene romantische Nostalgie, mit der jeder beliebige Sachverhalt gerechtfertigt wird. Im Bundesstaat Oaxaca haben die Usos y Costumbres jedoch einen positiven Wert und haben verfassungsrechtlichen Status. Wenn ich von normativem System spreche, dann geht es um eine Rechtspraxis. Es ist vergleichbar mit dem englischen Begriff des Common Law, ein Gewohnheitsrecht, das heute in den Gemeinden praktiziert wird. Es ist eben nicht nur ein kleiner Teil einer Tradition, auf die sich nostalgisch bezogen wird. Von den 520 Gemeinden in Oaxaca werden in 417 die Amtsträger nach den Usos y Costumbres bestimmt. In Guerrero gibt es ein spezielles Gesetz, das den Gemeinden zugesteht, ihre Gemeindepolizei aufzustellen. Aber das ist alles. Im Rest Mexikos gibt es keine anerkannte rechtliche Grundlage für die Usos y Costumbres. In Guerrero haben die Gemeindepolizisten jetzt auch einen juristischen Apparat entwickelt. Sie stehen also auf zwei Beinen: öffentliche Sicherheit und Rechtsprechung. Die Selbstverteidigungsgruppen handeln dagegen nur im Bereich öffentliche Sicherheit ohne Recht zu sprechen.
Was passiert dann, wenn die Selbstverteidigungsgruppen Leute festnehmen?
In Michoacán gab es verschiedene Fälle von Selbstjustiz. Aber normalerweise werden die Gefangenen den offiziellen Amtsträgern übergeben.
Kann man aus einer linken Perspektive zwischen „guten“ und „schlechten“ Selbstverteidigungsgruppen unterscheiden?
Ich sage es mal so: In den ländlichen Gemeinden gibt es die lange Tradition der bewaffneten Selbstverteidigung seit der Mexikanischen Revolution (1910 – 1919; Anm d. Red.). Die modernen linken Guerillas haben als Selbstverteidigungsgruppen begonnen. In Chihuahua gab es 1965 eine bewaffnete Guerrilla namens Grupo Popular Guerillero. Sie bildete sich als Reaktion auf Landraub durch Großgrundbesitzer. Es kam zur bewaffneten Selbstverteidigung, da das Militär äußerst brutal eingegriffen hatte. Später tauchten dann die Guerillas von Genaro Vázques und Lucio Cabañas in Guerrero auf, die auch aus einer bewaffneten Selbstverteidigung hervorgegangen waren. Genaro Vázquez leistete zuerst zivilen Widerstand gegen einen Wahlbetrug, auf den die Regierung mit Repression antwortete. Die Guerilla von Lucio Cabañas entstand als Antwort auf die Repression gegen unbequeme Lehrer. Danach flohen sie in die Berge und bildeten dort die Guerilla. Die Zapatisten entstanden als eine Gruppe der Selbstverteidigung gegen die Kaziquen. Ein Teil der Selbstverteidigungsgruppen, die zurzeit in Mexiko agieren, kann man auf diese Weise verstehen: Es sind Bewegungen, die eine Reaktion auf die Unsicherheit durch die organisierte Kriminalität und die Untätigkeit oder Komplizenschaft des Staates darstellen. Diese Bewegungen werden so zum Ausdruck einer Macht der Bevölkerung und eine Verteidigung der eigenen Interessen.
Wie sieht der Unterschied zwischen Gemeindepolizei und Bürgerwehr in Michoacán aus?
In Michoacán laufen Selbstverteidigungsgruppen und Gemeindepolizisten mittlerweile auf fast dasselbe hinaus. Es gab 2008 in unterschiedlichen indigenen Gemeinden Aufstände. Seit dieser Zeit gibt es dort Gemeindepolizei mit einem normativen System. 2014 traten die Selbstverteidigungsgruppen in zwei nicht-indigenen Gemeinden auf, wo große landwirtschaftliche Betriebe sind. In der ersten Zeit waren dort Berater des Militärs anwesend. Aber mit der Zeit schlossen sich andere Akteure im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen den Gruppen an, vor allem verarmte Kleinbauern. Und das gibt den Selbstverteidigungsgruppen dann eine andere Richtung und Dynamik. Sie entziehen sich der ursprünglichen Kontrolle.
Sie verändern sich?
Ja genau, das ist eine Veränderung, die auch in der Mexikanischen Revolution stattgefunden hat. Damals hat sich etwas gebildet, was man La bola – die Lawine – nennt. Eine Sache ist es, wenn bürgerliche Kräfte zum bewaffneten Aufstand gegen die Diktatur aufrufen. Aber wenn sich die Bauern erheben, dann können sie nicht mehr kontrolliert werden und es entstehen Phänomene wie die Revolutionsführer Zapata oder Pancho Villa. Ein bisschen ist das in Michoacán passiert.
Gab es in Michoacán eine besondere Unterstützung der Selbstverteidigungsgruppen durch die großen Unternehmer? Diese zahlen ja an die Mafia vielmehr als die armen Bauern?
Nun, auch die armen Bauern müssen Schutzgelder oder Steuern zahlen. In Michoacán hat sich ein Kartell etabliert, die sogenannten Tempelritter. Die haben nicht nur den Drogenhandel kontrolliert, sondern waren in verschiedenen Wirtschaftsfeldern aktiv. Sie exportierten Eisen nach China. Aus Südkorea wurden Reifen importiert, die der öffentliche Transport benutzen musste. Sie haben Kleidung aus China importiert und mit Markenetiketten versehen. Sie kontrollierten den Handel mit dem Edelholz Sangualica, das in den Armaturen von Rolls Royce und in anderen Luxusgütern verarbeitet wird. Sie hatten eine Armee von tausenden Männern. Sie hatten ein Steuerbüro und forderten Steuern von regionalen und lokalen Ämtern ein, aber auch von Erntehelfern.
Die ganze Bevölkerung musste Steuern zahlen?
Genau, aber sie verliehen auch Geld, zum Beispiel um eine Krankenhausrechnung zu bezahlen, oder sie verschenkten es. Es war eine Art Sozialhilfe-Agentur mit religiösem Überbau. Sie brachten evangelikale Prediger aus den USA nach Michoacán. Sie rekrutierten Leute von den Anonymen Alkoholikern und aus den Institutionen des Drogenentzugs und beeinflussten die Menschen mit ihrer Mystik. So entstand ein Netz, das alle in der Gesellschaft beeinflusste, geprägt von zahllosen Verbrechen, vielen Vergewaltigungen von Müttern und Töchtern. Viele Menschen sind in die USA geflüchtet. Also bildete sich eine Selbstverteidigungsgruppne gegen das Kartell der Tempelritter, ordnete sich in die Logik der Gewalt ein und wurde zu etwas, das man nicht klar definieren kann.
Wie hat die mexikanische Regierung in Michoacán reagiert?
Von den Selbstverteidigungsgruppen wurden viele offiziell in die Fuerza Rural (Landpolizei unter staatlicher Kontrolle; Anm. d. Red.) integriert. Wen die Regierung nicht disziplinieren konnte, wurde ins Gefängnis gesteckt. Sie haben die Anführer bestochen und gekauft. Sie haben sie bedroht, unterdrückt und eingesperrt. 300 Personen von den Selbstverteidigungsgruppen sind festgenommen. Zehn lokale Anführer wurden ermordet. Es war eine regelrechte Säuberung.
Von wem wurden sie ermordet? Von der Polizei, vom Militär oder …
Oder von wer weiß wem! Es waren lokale Anführer, die eine Scharnierfunktion zwischen dem Staat und den Selbstverteidigungsgruppen erfüllten. Als ein neues Kartell in Michoacán auftrat –Jalisco Nueva Generación – agierte das Kartell der Tempelritter wieder stärker und es traten weitere Selbstverteidigungsgruppen auf. Die Regierung verneint das, da die Selbstverteidigungsgruppen relativ leise auftreten. Aber sie sind da. Die Regierung musste also eingreifen, um die Kontrolle über die Selbstverteidigungsgruppen zurück zu gewinnen. Mehr oder weniger hat die Regierung es geschafft, die Selbstverteidigungsgruppen zu kontrollieren. Nicht aber die Kräfte der indigenen Gemeindepolizei, die haben ihren eigenen Weg weiterverfolgt.
Ein Paradebeispiel der Zusammenarbeit von Staat und Organisiertem Verbrechen sind die 43 verschwundenen Studenten. Was ist Ihre Theorie dazu?
Der Preis, den der mexikanische Staat dafür zahlen muss, dass der Fall nicht glaubwürdig aufgeklärt wird, ist immens hoch, im Inland sowie im Ausland. Die Frage ist doch: Was wird verheimlicht, was diesen hohen Preis rechtfertigt? Da kann es nicht nur um die Vertuschung von verantwortungslosem Handeln gehen, sondern um etwas viel Größeres. Wahrscheinlich ging es um Drogen. Iguala ist ein Schlüsselort des Heroinhandels. Ein Großteil der Heroinproduktion kommt aus Cocula nach Iguala und wird von dort aus weitertransportiert. Die Studenten aus Ayotzinapa kamen ja eher zufällig nach Iguala, sie waren auf dem Weg zu einer Demonstration. In Iguala suchten sie nach Transportmöglichkeiten und beschlagnahmten dann fünf Busse. Davon wurden vier von der Polizei völlig zerschossen. Den fünften Bus hingegen mussten die Studenten verlassen und dieser Bus konnte dann ohne Probleme Iguala verlassen. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Bus mit Heroin bestückt war.
Luis Hernández Navarro ist als investigativer Journalist der Tageszeitung La Jornada und Buchautor landesweit bekannt. In den 1970er Jahren war er Mitbegründer unabhängiger Gewerkschaften, später Berater kleinbäuerlicher Organisationen. Im Jahr 1995 nahm er als Berater der Zapatist*innen an den Dialogrunden von San Andrés teil. Sein jüngstes Buch widmet sich den bewaffneten Selbstverteidigungsgruppen in Mexiko (siehe S. 53).