Kolumbien | Nummer 597 - März 2024

„Es ist keine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise“

Interview mit Juan Pablo Gutiérrez, Kohlegegner, Klimaaktivist und internationaler Sprecher der indigenen Gemeinschaft der Yukpa in Kolumbien

Die Abgrenzung (delimitación) ihres angestammten Territoriums ist für die indigenen Yukpa überlebenswichtig, da sie durch Kohletagebaue bedroht sind. Das kolumbianische Verfassungsgericht hat diese Abgrenzung seit 2017 wiederholt vom Staat eingefordert, sie wurde bisher jedoch nicht umgesetzt. Unter der linken Regierung von Gustavo Petro stehen die Chancen hierfür nun besser als je zuvor. Während der Rundreise einer Yukpa-Delegation durch Europa 2023 enstand daher die Idee, dass solidarische Europäer*innen verschiedenen kolumbia­nischen Botschafter*innen offene Briefe an Gustavo Petro übergeben sollten, um ihn an die Umsetzung der Gerichtsurteile zu erinnern. Im Januar 2024 wurde ein offener Brief in der Botschaft in Berlin übergeben, im Februar in Paris. Im März soll Belgien folgen, anschließend die Schweiz und England. Im Gespräch mit LN analysiert der internationale Sprecher der Yukpa ihre aktuelle Lage und erklärt ihre Strategie.

Interview und Übersetzung: Martin Schäfer

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Demonstrieren auch in Deutschland Juan Pablo Gutiérrez (vorne rechts) mit anderen Demonstrierenden vor der kolumbianischen Botschaft in Berlin
(Foto: Klaus Sparwasser)

Das Verfassungsgericht hat im Jahr 2009 erklärt, dass die Gemeinschaft der Yukpa unmittelbar von physischer und kultureller Auslöschung bedroht sei. Was sind die Gründe dafür?
Das hängt mit dem Verlust unseres angestammten Territoriums zusammen. Der Betrieb der Minen (siehe Infokasten unten) war nur möglich, weil paramilitärische Gruppen dieses Gebiet Bäuer*innen, Indigenen und Afrokolumbianer*innen gewaltsam entrissen haben, die dort seit langem gelebt haben. Diese Gruppen haben viele Menschen vertrieben und ermordet.
Als Halbnomad*innen konnten wir Yupka uns von jeher durch Jagd und Fischfang ernähren, aber die Bergbauunternehmen haben die Flüsse umgeleitet und verschmutzt. Jagd und Fischfang werden immer schwieriger, da wir immer weitere Entfernungen zurücklegen und Tage unterwegs sein müssen, um noch Tiere zu finden. Die Anstrengung lohnt sich immer weniger. Daher wachen bei den Yukpa heute häufig nachts die Kinder auf und weinen vor Hunger. Der Hunger und der in der Luft vorhandene Kohlenstaub verursachen jedes Jahr den Tod von etwa 40 Kindern. Da das Territorium auch unsere Kultur und Kosmovision prägt, sind diese ebenfalls bedroht. Viele Pflanzen und Tiere verschwinden aus unserem Wortschatz, weil sie aufgehört haben zu existieren. All das konnte nur geschehen, weil der Staat uns vernachlässigt und vergessen hat und aufgrund der Komplizenschaft der früheren Regierungen mit den Bergbaukonzernen, gestützt auf den Begriff „Fortschritt“ – unseres Erachtens nach das neue Gesicht des Kolonialismus.

Die Yukpa bemühen sich derzeit um die Abgrenzung ihres angestammten Territoriums, die auch das kolumbianische Verfassungsgericht seit 2017 fordert. Warum ist das so wichtig?
Sobald die dafür zuständige Nationale Landbehörde (ANT) die Urteile des Verfassungsgerichts umsetzt und unser Territorium abgrenzt, wird damit auch offiziell festgehalten, dass die Kohletagebaue auf Yukpa-Gebiet liegen. Das ist ein wichtiger, mächtiger Baustein für unsere juristische Strategie (siehe Infokasten unten). Es wird uns erlauben, nachträglich unser Recht auf eine vorherige Anhörung einzufordern, die vor Beginn des Minenbetriebs nicht stattgefunden hat. Es wird uns auch ermöglichen, unser Recht auf eine Nachkonsultation durchzusetzen, um eine Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden zu bekommen. Die Umsetzung der Abgrenzung ist also der Schlüssel für die Lösung der Probleme der Yukpa.

Was stellen sich die Yukpa unter Wiedergutmachung vor?
Wir in Kolumbien bemühen uns seit 2016 (Abschluss des Abkommens mit der FARC-Guerilla, Anm. d. Red.) um Frieden. Dabei haben wir gelernt, dass dafür drei Dinge nötig sind: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die Autoritätspersonen der Yukpa vor Ort werden sich zu gegebener Zeit zum Thema Wiedergutmachung äußern. Persönlich glaube ich, dass die Behebung der Umweltschäden dabei zentral wäre: die Befreiung und Säuberung der Flüsse, die Wiederansiedlung von Fischen, anderen Tieren und Pflanzen. Letzten Endes würde das auch das Hungerproblem angehen.

Wie ist es zu erklären, dass der Konzern Glencore 2021 seine Bergbaulizenen in der Region Cesar an die Regierung zurückgegeben hat, während er die große und bekanntere Cerrejón-Mine in der Region La Guajira weiter ausbeutet?
Nachdem das Verfassungsgericht uns im Jahr 2021 zum zweiten Mal Recht gab, hat Glencore seinen vollständigen Rückzug aus unserem Gebiet angekündigt. Als Begründung nannten sie den gefallenen Kohlepreis. Dass gleichzeitig die Cerrejón-Mine auf dem Gebiet der indigenen Gemeinschaft der Wayuu noch in Betrieb ist, zeigt jedoch, dass das nicht der wahre Grund ist. In Wirklichkeit haben sie Angst bekommen, da wir Yukpa sie durch unsere juristische Arbeit in die Ecke getrieben haben. Sie haben gemerkt, dass sie gehen müssen, um der Verantwortung zu entgehen.

Die linke Regierung von Gustavo Petro respektiert die indigenen Rechte und möchte aus der Kohlegewinnung aussteigen. Warum habt ihr euch dafür entschieden, gemeinsam mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft in kolumbianischen Botschaften einen offenen Brief zu übergeben?
Die Verantwortung für die Probleme, die wir in dem Brief ansprechen, liegt bei den früheren Regierungen, nicht bei der von Petro. Seine Regierung entstand auch aus sozialen und indigenen Bewegungen heraus. Wir Yukpa unterstützen die Regierung, die indigenen Gemeinschaften regieren zum Teil sogar in den Institutionen mit. Wir haben Organisationen aus verschiedenen Ländern zur Übergabe des offenen Briefes aufgerufen, um die Regierung daran zu erinnern, dass es dieses Urteil gibt. Wir sind uns nämlich sicher, dass sie das Urteil gar nicht kennt, denn es ist nur eins von sehr, sehr vielen Gerichtsurteilen, die von früheren Regierungen nicht umgesetzt wurden.
Ich spreche manchmal mit Regierungsbeamten und mit Petros Ministern und ihnen ist ganz klar, dass die Herausforderung darin besteht, die Abhängigkeit Kolumbiens von fossilen Energien zu beenden. Für uns heißt es daher: jetzt oder nie.

Deutschland importiert aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine nun mehr Kohle aus Kolumbien als zuvor. Was erwartest du von den Aktivist*innen in Europa?
Der Kohleexport aus Kolumbien ist infolge des Kohleembargos der EU gegen Russland um über 200 Prozent angestiegen, ohne dass die sterbenden Kinder der Yukpa oder der Wayuu von den Einnahmen etwas hätten. Deutschland wird Kolumbien unter Druck setzen, nicht aus der Kohle auszusteigen. Daher ist es wichtig, dass der Ausstiegswille der kolumbianischen Regierung gestärkt wird. Andererseits sollte die deutsche Zivilgesellschaft auch ihre eigene Regierung an die Notwendigkeit des Ausstiegs aus den fossilen Energien erinnern. Ich fände es sehr wichtig, dass die Aktivist*innen hier ihr Narrativ über die Krise mehr auf das fokussieren, was sie für uns ist: nicht eine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise. Lösen muss sie die Handvoll Länder, die sie auch verursacht haben. Wenn weiter nur von einer Klimakrise die Rede ist, wird die zentrale Forderung sein, ein CO2-ausstoßendes Modell der Landausbeutung durch eines zu ersetzen, bei dem kein CO2 freigesetzt wird. Und für uns wird sich dabei nichts ändern, denn die Energiewende wird weiter auf der Ausbeutung unserer Territorien beruhen, nur in Zukunft dann eben mit grünem Wasserstoff oder Solarzellen anstatt mit Kohle.
Ein anderer Punkt ist, dass der Kampf ums Klima hier noch aus verschiedenen Nischen und Gruppen heraus geführt wird. Das kommt der Regierung und den Unternehmen entgegen. Eine Masse von Menschen, die entschieden und entschlossen sind, die Dinge zu verändern, ist unaufhaltsam. Daran fehlt es hier noch. 2024 sollte das Jahr sein, um eine Bewegung von Bewegungen zu schmieden, unter Einschluss der Gewerkschaften – auch angesichts der Tatsache, dass der Faschismus in Europa auf dem Vormarsch ist.
Das sage ich aus der Perspektive der organisierten indigenen Gemeinschaften in Kolumbien heraus. Seitdem wir uns auf nationaler Ebene als ONIC organisiert haben, sind wir Indigene ein Machtfaktor. Hätten wir Yukpa allein weitergemacht, wären wir längst verschwunden.

JUAN PABLO GUTIÉRREZ

ist internationaler Sprecher der indigenen Gemeinschaft der Yukpa und ihr Delegierter in der Nationalen Indigenen Organisation Kolumbiens (ONIC). Nach zwei gescheiterten Mordanschlägen auf ihn lebt er seit fünf Jahren im Exil in Paris. Er ist Lehrer für dekoloniale Studien und Teil der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung. Er widmet sich der Dekolonisierung der Klimabewegung und der Festigung einer Bewegung der Bewegungen, die dem neoliberalen und kolonialen System des Kapitalismus etwas entgegensetzt.

Foto: Leonard Mikoleit

DIE KOHLEMINEN IM TERRITORIUM DER YUKPA

Die Yukpa sind eine indigene Gemeinschaft von etwa 15.000 Menschen, die beidseits des Gebirgszugs der Serranía del Perijá in Kolumbien und Venezuela wohnt. Auf der kolumbianischen Seite ihres Territoriums, in der Region Cesar, befinden sich fünf Kohletagebaue. Zwei davon wurden bis 2021 vom Schweizer Konzern Glencore über sein Tochterunternehmen Prodeco ausgebeutet: Calenturitas (67 km² ) und La Jagua (28 km²). Drei weitere werden weiterhin vom US-Konzern Drummond ausgebeutet: La Loma/Pribbenow (66 km²), El Descanso (428 km²) und El Corozo (60 km²). Als die Firmen die Lizenzen für die Minen bekamen, erklärten die damaligen Regierungen, dass es in den Gebiet keine indigenen Gemeinschaften gäbe und daher keine vorherige Konsultation durchgeführt werden müsste.

DER JURISTISCHE ERFOLG DER YUKPA

Nachdem Autoritäten der Yukpa eine Klage eingereicht hatten, wies das kolumbianische Verfassungsgericht im Jahr 2017 die Nationale Landbehörde (Agencia Nacional de Tierras, ANT) an, das angestammte Gebiet der Yukpa innerhalb eines Jahres abzugrenzen, unter anderem, um festzustellen, ob ein Konsultationsprozess durchgeführt werden müsse. Im Jahr 2020 erklärte die ANT, nicht über genügend Ressourcen zu verfügen, um die Abgrenzung umzusetzen. Sie wies dabei auch darauf hin, dass diese die Bergbauaktivität im Gebiet beeinträchtigen könne.

Im Jahr 2021 bestätigte das Verfassungsgericht sein Urteil aus 2017 und forderte dringend, einen Zeitplan für einen Entscheidungsprozess hinsichtlich des Yukpa-Gebietes aufzustellen. Im September 2023 bezeichnete das Verfassungsgericht die Verzögerung bei der Abgrenzung als besorgniserregend und wies die ANT an, diese innerhalb eines Jahres abzuschließen. Anderenfalls würden den Beamt*innen der ANT Disziplinar- und sogar Strafverfahren drohen. Die Unternehmen Drummond und Glencore wurden angewiesen, innerhalb eines Monats Konsultationsverfahren mit den Yukpa zu beginnen, die auch die Frage nach einer möglichen Wiedergutmachung behandeln sollten.

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