ORTEGAS SKANDALÖSES DESINTERESSE
Regierung verliert wertvolle Zeit bei der Bekämpfung der Ausbreitung von COVID-19
Propaganda gegen Masken. In Nicaragua wird Masketragen zum zivilen Ungehorsam (Foto: flickr.com/mejiaperalta (CC BY 2.0))
Seit dem Ausbruch der Corona-Krise ist wertvolle Zeit verloren gegangen. Das Leugnen der Gefahr und die daraus folgende Untätigkeit der nicaraguanischen Regierung, der COVID-19-Pandemie zu begegnen, hat verunsicherte Bürger*innen dazu veranlasst, in das nahegelegene El Salvador zu blicken. Dort propagierte der salvadorianische Präsidente Nayib Bukele in den sozialen Netzwerken die soziale Distanzierung und die Verwendung von Alkoholgel und Masken, was auch von den Menschen in Nicaragua übernommen wurde. Mit Verordnungen wie einer 30-tägigen Quarantäne und Kompensationszahlungen von je 300 US-Dollar für einkommensschwache Familien, die von der Aussetzung ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten betroffen sind, hat sich Bukele auch bei einigen Nicaraguaner*innen Sympathien erworben. In Nicaragua, wo die politische Führung mit abwiegelnder Informationspolitik agiert und unbeirrt weiter Aufmärsche organisiert, staatliche Schulen und Universitäten nach wie vor geöffnet bleiben und Anwesenheitspflicht gefordert wird, kommt ein Bukele gut an, wenn auch seine Polizeistaatmethoden denen des Diktators im eigenen Land nur allzu sehr gleichen.
Seit dem Ausbruch der Corona-Krise ist durch das Leugnen und die Untätigkeit der Regierung wertvolle Zeit verloren gegangen.
Angesichts einer Situation, in der zu befürchten ist, dass bei steigenden Infektionszahlen sowohl die öffentlichen als auch die privaten Gesundheitsdienste überfordert sein werden, erscheint es umso zynischer, dass die Ressourcen der öffentlichen Hand für die von Rosario Murillo befohlenen, samstäglichen Märsche der Staatsangestellten, für Kultur- und Sportveranstaltungen und Paraden verschwendet werden. Harsche Kritik erntete ihr karnevalesker Umzug unter dem Motto „Liebe in Zeiten von COVID-19″, García Marques paraphrasierend, am 14. März. Die Volksbelustigung mitten in der Corona-Krise veranlasste den Schriftsteller und Publizist Onofre Guevara López zu dem Kommentar, dass Murillo mit ihrem Karneval beweise, „dass es Arten der Liebe gibt, die töten!”
Zur Belebung des eingebrochenen Tourismus gab das sandinistische Tourismusinstitut Nicaraguas (INTUR) anlässlich der Sommerferien für den Monat April einen umfangreichen Veranstaltungskalender heraus, der neben Volksfesten und Musikfestivals an den Küstenstränden und im Landesinnern den Empfang eines europäischen Kreuzfahrschiffes im Hafen von Corinto vorsah. Noch am 14. März legte in diesem Hafen ein Schiff an. Zur Begrüßung der 800 Passagiere, die sich anschließend über mehrere, als touristische Hochburgen ausgewiesene Städte verteilten, wurden Kinder mobilisiert.
Für den 21. und 22. März kündigte Murillo die Entsendung Tausender Brigadist*innen in die nicaraguanischen Haushalte an, wo sie über Verhaltensregeln wie häufiges Händewaschen aufklären sollten. Das verteilte Informationsmaterial verschleiert jedoch, dass es sich um eine von einem lebensbedrohlichen Virus ausgelöste Krankheit handelt und spricht stattdessen verharmlosend von einer Atemwegsinfektion. Die Aktion wurde aus dem Gesundheitssektor und von der nicaraguanischen Menschenrechtsorganisation (CENIDH) scharf verurteilt, da sie nicht nur eine Gefahr für die besuchten Familien darstelle, sondern auch für die Brigadist*innen, da sie ohne jede Schutzausrüstung arbeiteten und Abstandsregeln nicht eingehalten wurden.
In Zeiten der Pandemie auf seine Gesundheit zu achten, ist in Nicaragua zu einem Akt des Widerstands geworden.
Am 27. März meldete sich ein sich als unabhängig verstehendes „Interdisziplinäres wissenschaftliches Komitee” mit einem Kommuniqué zu Wort. Das von Mediziner*innen verschiedener Fachrichtungen und Gesundheits- und Bildungsexpert*innen unterzeichnete Dokument enthält sowohl Empfehlungen für notwendig einzuleitende Präventivmaßnahmen an die Adresse der Regierung als auch Anleitungen für Verhaltensregeln der Bevölkerung. Es stellt einen weiteren Versuch dar, die Regierung zum Handeln zu bewegen. Eine zivilgesellschaftliche COVID-19-Beobachtungsstelle begann ebenfalls im März Daten über mögliche Infektionszahlen auf der Grundlage von Betroffenenberichten zu erheben, die von Epidemiolog*innen und Gesundheitsexpert*innen überprüft werden. Sie kam im Gegensatz zu den bis Anfang Mai offiziell durch das Gesundheitsministerium ermittelten 16 Fälle auf 781 Infizierte.
In Zeiten der Pandemie auf seine Gesundheit zu achten, ist in Nicaragua zu einem Akt des Widerstands geworden: Da das Regime den Unterricht in den staatlichen Schulen nicht aussetzte, hörten viele Familien auf, ihre Kinder in die Klassenzimmer zu schicken. Auch in den Hörsälen der Universitäten lichten sich die Reihen. Als das Regime eine Massenversammlung nach der anderen abhielt, begann man die sozialen Kontakte einzuschränken. Und weil keine Quarantäne veranlasst wurde, begannen die Menschen in ihren Häusern zu bleiben. In den Straßen Managuas nahm der Verkehr ab, und die Straßen in Dörfern und Gemeinden begannen sich zu leeren.
Ortega war mehr als einen Monat von der Bildfläche verschwunden.
Nach 34 Tagen Abwesenheit meldete sich Daniel Ortega am 15. April 2020 mit einer Fernsehansprache zurück. Wer einen konkreten Pandemie-Aktionsplan erwartet hatte, wurde enttäuscht. Stattdessen der Appell an seine Landsleute weiter ihrer Arbeit nachzugehen. Dass Ortega zum ersten Mal offiziell das Wort Pandemie in den Mund nahm, scheint anzuzeigen, dass er den Ernst der Situation erfasst hat, was jedoch nicht bedeutet, dass sich an dem Geheimhaltungskurs seiner Regierung etwas ändert. Über die Verwendung der von der Zentralamerikanischen Bank für wirtschaftliche Integration (BCIE) erhaltenen 26.000 Corona-Schnelltests schweigt sich die Regierung ebenso aus wie über die Einstellung des Flugverkehrs nach Managua und die Schließung der Grenzen am 17. und 18. April. Viele Nicaraguaner*innen, die sich vorübergehend im Ausland aufhielten, wurden von der Entscheidung überrascht und standen vor verschlossenen Grenzen.
Ein existierender Notfallplan wird als Geheimsache behandelt.
Gleichwohl würden Maßnahmen wie eine totale Quarantäne die Rezession, unter der das Land schon im dritten Jahr leidet, noch weiter verschärfen. Nicaragua hat das zweitgeringste Pro-Kopf-Einkommen in Lateinamerika, die Stilllegung der wirtschaftlichen Aktivitäten, wie in den reichen Industrienationen, ist schlicht nicht durchführbar. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ernährt sich von der Arbeit im informellen Sektor − sie ist der verletzlichste Teil der Gesellschaft. Wer nicht arbeiten kann, muss hungern. Das gilt auch für die überwältigende Mehrheit der Arbeitslosen, die schutzlos und ohne jede Absicherung sind. Für den Soziologen Oscar René Vargas besteht indes die eigentliche Krise in der Inkompetenz des Regimes und im Fehlen echter Vorschläge zur Eindämmung der Rezession und des Coronavirus: „Ein Land in der Krise braucht eine Politik, die zielführend auf diese Krise reagiert.” Ob die oppositionelle nationale Koalition (CN) einer solchen Herausforderung gewachsen wäre, steht gleichwohl in Frage. Die in ihr vertretenen unterschiedlichen Strömungen und Parteien vermitteln eher ein Bild der Zerrissenheit als der Einigkeit (s. LN 550).
Da aber das Virus zwischen Regimeanhänger*innen und seinen Gegner*innen nicht unterscheidet, sind alle gleichermaßen betroffen. Das skandalöse Desinteresse Ortegas für die Gesundheitsgefahren, denen die Menschen ausgesetzt sind und mit ihren bescheidenen Mitteln versuchen zu entgehen, könnte zur Folge haben, dass das Fundament seiner Macht zu bröckeln beginnt.