Aktuell | Nicaragua | Nummer 550 – April 2020 – Onlineausgabe | Wahlen

WEG MIT ORTEGA IST NOCH KEIN PROGRAMM

Nicaraguanische Opposition bereitet sich auf die Wahlen 2021 vor

Zu Beginn des Jahres 2020 bietet Nicaragua ein Bild der Zerrissenheit. Wo genau der Riss verläuft, ist aber nicht eindeutig auszumachen. Jedes der beiden politischen Lager − Opposition und Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) − behauptet, die höheren Zustimmungswerte auf sich zu vereinigen. Unter dem faktisch bestehenden Ausnahmezustand haben Meinungsumfragen, auf die sich mal die einen, mal die anderen berufen, jedoch keinerlei Aussagekraft. Da die Opposition die inzwischen unrealistisch gewordene Forderung nach vorgezogenen Wahlen nicht mehr erhebt und die Zeit drängt, haben sich ihre zersplitterten Kräfte auf die Bildung einer Nationalen Koalition (CN) geeinigt. Allerdings wurden bisher noch keine Kandidat*innen benannt, die im November 2021 gegen Ortega antreten könnten.

Von Elisabeth Erdtmann

„Vergessen verboten” Teilnehmerin der Gründungsversammlung der Nationalen Koalition (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr CC BY 2.0)

Mit der Gründung der Nationalen Koalition (CN) am 25. Februar begann in Nicaragua der Wahlmarathon, der am 7. November 2021 enden wird. Die Gründungsversammlung fand vor der Drohkulisse massiver Polizeipräsenz rund um den Versammlungsort statt. Die CN wird von sieben Parteien und Bewegungen gebildet. Mit dabei sind die evangelikal geprägte Partei der demokratischen Restauration (PRD), die liberale konstitutionalistische Partei (PLC, dominiert vom ehemaligen Präsidenten Arnoldo Alemán, der wegen Veruntreuung von Staatsvermögen in Höhe von 10 Millionen US-Dollar zu 20 Jahren Haft verurteilt ist), die contra-Organisation nicaraguanische demokratische Kraft (FDN), die Bauernbewegung um den ehemaligen politischen Gefangenen Medardo Mairena und die indigene Partei Yatama.

Eine neue Generation führt den Widerstand an

Mitglieder ohne Parteiprofil sind die Bürgerallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) und das Einheitsbündnis Blau Weiß (UNAB), in dem soziale Bewegungen, Interessenverbände und zivilgesellschaftliche Gruppen mit großen politischen und ideologischen Unterschieden vertreten sind. Das Gründungsdatum der CN wurde in Anspielung auf die Wahlniederlage der sandinistischen FSLN am 25. Februar 1990 bewusst gewählt. Damals konnte ein Bündnis aus politischen Parteien und Organisationen der bewaffneten contra (UNO) die Wahlen für sich entscheiden. Auch jetzt ist mit der FDN wieder eine contra-Organisation dabei.

Zur Erinnerung: Die contra, vor 40 Jahren angetreten mit finanzieller und logistischer Ausstattung der USA, um die sandinistische Revolution zu vernichten, zwang dem Land einen Krieg auf und verübte unvorstellbare Verbrechen an der Zivilbevölkerung, was weltweit eine Welle der Solidarität auslöste.

Sein heutiges Verhältnis zur Vergangenheit beschreibt der FDN-Führer Luis Fley so: „Wir haben es mit dem gleichen Feind der 80er Jahre zu tun, mit einer raffinierteren Diktatur.”

Der Koordinator der oppositionellen Bürgerallianz ACJD, Juan Sebastian Chamorro, glaubt, sein Land habe der contra gegenüber eine historische Schuld. Schließlich habe der von ihr ausgeübte Druck 1990 die Wahlen ermöglicht. Er freue sich über die Entscheidung der FDN, sich der CN anzuschließen.

Das ultrarechte Narrativ der Gegenwart verleugnet jedoch einen wesentlichen Unterschied zur Situation von 1990: Die damalige Präsidentschaftskandidatin Violeta Barrios de Chamorro, Witwe des im Auftrag von Diktator Somoza ermordeten Zeitungsverlegers und Gegners der Diktatur Pedro Joaquín Chamorro, war aufgrund der Reputation ihres Ehemannes eine Art Galionsfigur der damaligen Opposition.

Eine ähnlich integrative Figur, worauf sich breite Teile der Bevölkerung verständigen könnten, ist dieses Mal nicht in Sicht. Im Gegenteil, die in der CN vertretenen traditionellen Parteien haben jegliches Vertrauen verspielt. Sie stehen für Privatisierung, den Ausverkauf des Landes und Korruption im großen Stil.

„Nichts, was nach Sandinismus oder nach links riecht”

Innerhalb des Establishments ist die Linke vielen ein Dorn im Auge. Mitglieder der Bürgerallianz ACJD, wie die Bürger für die Freiheit (CxL), äußern deutliche Vorbehalte gegen die Beteiligung linker Gruppen an der CN.

Der neu gegründete Mitte-Rechts-Block unter der Führung von Noel Vidaurre und Alfredo Cesar von der fast eingeäscherten konservativen Partei (PC) versteht sich gar als Anti-Links-Bewegung. „Wir wollen eine echte Einheit der Opposition, aber wir wollen nichts, was nach Sandinismus oder nach links riecht”, sagte der konservative Ex-Präsidentschaftskandidat Vidaurre der Tageszeitung La Prensa.

Auf der anderen Seite lehnen linke Gruppen die Teilnahme derjenigen ab, die vor dem Beginn der staatlich organisierten Gewaltexzesse gegen die Studierendenproteste am 18. April 2018 von Ortegas Diktatur profitierten: Das betrifft vor allem die Unternehmer, vor ihrem Seitenwechsel wichtigste Partner des Regimes, und diejenigen, die der liberalen konstitutionellen PLC von Arnoldo Alemán angehörten, weil ihr Pakt mit Ortega 2007 dessen Rückkehr an die Macht begünstigte.

Die Rückwärtsgewandtheit der wirtschaftlichen Eliten und traditionellen Parteien, inklusive der Regierungspartei FSLN, ist Ausdruck davon, dass sie nicht verstanden haben, dass eine neue Generation den Widerstand anführt. Der Zusammenprall unterschiedlicher Agenden ereignet sich sowohl in der ACJD als auch im Einheitsbündnis UNAB, wo traditionelle Politiker*innen Einfluss haben.

Vermummt und mit Nationalfahne In der CN prallen unterschiedliche politische Agenden aufeinander (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr CC BY 2.0)

Auch in Nicaragua ist die Jugend für Themen sensibilisiert, die sich nie auf der Agenda der etablierten politischen Eliten fanden: der Kampf der Indigenen und der Bauern und Bäuerinnen, Feminismus und sexuelle Selbstbestimmung, Umweltschutz und Rentner*innenrechte, Demokratiedefizite und das Hinterfragen der Privilegien einiger weniger. Alles Themen, die ein Gefühl der Ungerechtigkeit hervorrufen und neue jugendliche Akteur*innen auf den Plan riefen.

Nach jahrelang unterdrücktem Protest sind sie am 18. April 2018 explodiert. In einem Interview mit dem Online-Medium Trinchera de la Noticia erklärt die studentische Aktivistin Yaritzha Rostrán, es bestehe eine Diskrepanz zwischen den Generationen: „Die alte politische Schule hat andere Formen als unsere, wir sind offener, wir arbeiten mehr im Dialog und versuchen, uns demokratisch auf Positionen zu einigen.”

Der Polizeistaat bleibt voraussichtlich intakt

Alle Beteiligten sind sich zwar darüber einig, dass das System Ortega/Murillo überwunden werden muss, doch bedeutet ein Wahlprozess, Kandidat*innen und Führungspersonal auszuwählen oder abzulehnen, eine Einigung zu erzielen und auf persönliche Bestrebungen und Ambitionen zu verzichten. Die Umtriebigkeit insbesondere konservativer Politiker*innen die Opposition zu spalten, um sich der linken Kräfte in der CN zu entledigen, erinnert allzu sehr an die Politikstile der Vergangenheit.

Ob es dem politischen Establishment darum zu tun ist, ein demokratisch erneuertes Nicaragua herbeizuführen oder nur die Wiederbelebung ihrer Geschäfte, wird sich erst noch zeigen.

Der Polizeistaat bleibt bis zu den Wahlen im November 2021 voraussichtlich intakt, die Paramilitärs bleiben aktiv, bewaffnet und unbehelligt.

Unter diesen Bedingungen wird es kaum einen fairen Wahlkampf geben können. Dagegen spricht schon das gegenwärtige Wahlsystem: Es muss nicht nur umfassend reformiert werden, das System insgesamt ist katastrophal. Wohin man auch blickt − Behörden, Wähler*innenverzeichnis, Wahlzentren, Datenübertragung, Veröffentlichung der Ergebnisse − alles ist unbrauchbar für einen transparenten Wahlprozess.

Aber auch die tiefgreifendsten Reformen werden nicht ausreichen, wenn die Bevölkerung nicht ihr verfassungsmäßiges Recht auf Demonstrationen, Versammlungs- und Organisationsfreiheit zurück erhält.

„Ohne diese Voraussetzungen werden wir nicht zu den Wahlen gehen”, sagen bereits Mitglieder der ACJD und der UNAB, worunter verstanden werden kann, dass es nicht allein um die geforderte Wahlrechtsreform geht, sondern es Garantien geben muss. Ohne Garantien wird gemeinsam zu entscheiden sein, ob man am Wahlprozess überhaupt teilnimmt.

Unterdessen schreitet der wirtschaftliche Niedergang unaufhaltsam voran. Die wirtschaftliche Abnutzung betrifft nicht nur die Familie an der Macht infolge der gegen sie verhängten US-Sanktionen. Weil Ortega jede politische Einigung verweigert, trifft sie alle − auch diejenigen, die noch mit ihm sympathisieren.

Schon jetzt nimmt die Arbeitslosigkeit dramatisch zu und stürzt viele Menschen in Existenznöte. Manche fürchten, dass es aufgrund der Repression und der zunehmend erstickenden, unerträglichen wirtschaftlichen Lage zu einer gewalttätigen sozialen Explosion kommen könnte.

Der wirtschaftliche Niedergang schreitet voran

Das Regime musste den Haushalt kürzen, die Beschäftigung im öffentlichen Sektor, mehrere Subventionen sowie Transferleistungen an die Gemeinden. Gleichzeitig erhöhte sie die Steuern und vervielfachte zu zahlende Bußgelder für alle möglichen „Vergehen“. Der einzige Wirtschaftszweig, der weiterhin wächst, besteht aus den Überweisungen aus der Arbeit und den Ersparnissen der Emigrant*innen und Exilant*innen.

Stark beschädigt vom wirtschaftlichen Abschwung werden auf Unternehmer*innenseite bereits Stimmen laut, die sich einen Ausweg aus der Krise auch als Wahlprozess mit oder ohne Wahlrechtsreform vorstellen können.

Hat die FSLN nach dem 18. April 2018 noch eine Zukunft? Fände ein freier und fairer Wahlkampf statt, würde Ortega trotz allem einen zur Zeit nicht vorhersehbaren Anteil der Stimmen erhalten. Die Marginalisierten und die Armen könnten sich fragen, was sie von der ihnen angebotenen Alternative zu erwarten haben.

Der Umgang mit COVID-19 könnte die Wahl entscheiden

Die Älteren werden die lange neoliberale Umbauphase der Vorgängerregierungen seit 1990 noch in Erinnerung haben, als Arme nur eine Mahlzeit am Tag hatten und sie bei einer Operation sogar die OP-Handschuhe ins Krankenhaus mitbringen mussten. Sie könnten sich bei den kommenden Wahlen 2021 sagen, dass ihnen mit Ortega/Murillo wenigstens die kostenlose Gesundheitsversorgung und der Zugang zu Bildung erhalten bliebe.

Ein veritables Wirtschaftswachstum während des letzten Jahrzehnts plus der Einsatz venezolanischer Gelder für Hunderte von Projekten hatte einen, wenn auch vergleichsweise bescheidenen Wohlstand für die ärmeren Schichten zur Folge. Eine niedrige Wahlbeteiligung für den Fall, dass die Opposition keine Kandidat*innen mit glaubwürdigen Ambitionen präsentieren kann, wird dem Regime in die Hände arbeiten. Dann kann es auch ohne Wahlbetrug fraglich werden, ob der Urnengang eine Verschiebung der Machtverhältnisse ermöglichen wird.

Vorstellbar ist auch, dass der unverantwortliche Umgang mit der Coronavirus-Pandemie einen Regimewechsel begünstigt. Während die Nachbarländer ihre Grenzen schließen, ruft die nicaraguanische Regierung entgegen aller Vernunft und unter wochenlangem Leugnen der Verbreitung des Virus in Nicaragua weiter zu Massenmobilisierungen seiner Anhänger*innen auf. So zuletzt am 14.3.2020 unter dem Motto: „Liebe in Zeiten von COVID-19. Ein Volk mit Glauben, Leben und Hoffnung”.


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