Aktuell | Nicaragua | Nummer 533 - November 2018

DIE NEUE KLASSENÜBERGREIFENDE ALLIANZ?

Interview mit Max Jeréz über die heterogene Allianz gegen die Regierung Daniel Ortegas

Max Jeréz ist Mitglied der Nicaraguanischen Allianz der Universitäten, der Universitätskoalition sowie der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie. Im Interview mit den LN sprach er über die Akteur*innen und Ziele der Allianz gegen Ortega und die Rolle der Linken sowie des privaten Sektors und eine mögliche Demokratisierung nach Ortega.

Interview: Sergio Rakotozafy

Können Sie uns ein bisschen über die drei Bündnisse erzählen, bei denen Sie mitarbeiten? Wie sind sie entstanden, wer sind ihre Mitglieder und worin unterscheiden sie sich?

Die Studierendenbewegungen, die in den Prozess des Nationalen Dialogs involviert waren, sind im Aprilaufstand entstanden. Man muss bedenken, dass bis dahin der Nationale Studierendenverband von Nicaragua (UNEN) der einzig rechtlich gebildete Studierendenverband war. Dieser Verband verfolgte eine der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) oder allgemein dem Regierungsapparat treue Linie.
Die neuen Bewegungen sind unter ganz unterschiedlichen Bedingungen entstanden. Es sind fünf verschiedene Gruppen: die Studierendenbewegung 19. April, die in der Polytechnischen Universität (UPOLI) entstanden ist, die Universitätsbewegung 19. April, die ebenfalls in der UPOLI entstanden ist, das Komitee der Nationalen Agraruniversität (UNA), die Universitätskoordination für Demokratie und Gerechtigkeit (CUDJ), die hauptsächlich von Studierenden der Zentralamerikanischen Universität (UCA) gebildet wurde und zuletzt die Nicaraguanische Allianz der Universitäten (AUN), die Bewegung zu der ich gehöre und die hauptsächlich von jungen Menschen gebildet wurde, die am 19. April in der Kathedrale von Managua gefangen waren sowie zahlreiche andere Aktivist*innen, die bereits über eine längere Zeit im politischen Widerstand sind.
Aus diesen fünf Gruppen wurde am 5. Mai die Universitätskoalition (Coalición Universitaria) gebildet, was dringend nötig war um sich rasch zu organisieren und am Prozess des Nationaldialogs teilnehmen zu können. Es war ein Schritt um eine gewisse Einigung unter den Studierenden zu finden, die dann von der Bischofskonferenz zur Teilnahme am Nationaldialog aufgerufen wurden und innerhalb des Dialogs der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) angehören.

 

Worin unterscheiden sich diese fünf Studierendenbewegungen, die Sie genannt haben?

Hauptsächlich unterscheiden sie sich im Ort oder Kontext, in dem sie entstanden sind. Einige haben sich in der Verschanzung an den Universitäten entwickelt (s. LN 531/532), andere hatten einen organisierteren Entstehungsprozess außerhalb des Gewaltkontextes der Besetzung der Universitäten. Es gibt Bewegungen, die eher eine Vision der Gestaltung des Studierendenlebens haben und Fakultäten mitgestalten wollen. Andere haben eine viel politischere Vorstellung der Studierendenschaft als politische Akteurin, die sich nicht ausschließlich auf das Leben an den Universitäten beschränkt.

 

Welche anderen Gruppen sind in der Zivilallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (ACJD) vertreten?

Die Zivilallianz ist ein sehr einzigartiger Fall in Nicaragua. Als der Nationaldialog einberufen wurde, um eine Lösung für die gesellschaftspolitische Krise zu finden, hat die Bischofskonferenz auf Wunsch von Ortega unterschiedliche Bevölkerungsgruppen eingeladen. Politische Parteien waren nicht darunter, weil sie offensichtlich aus unterschiedlichen Gründen völlig delegitimiert und am Boden waren. Die Bischofskonferenz hat also unterschiedliche Sektoren eingeladen, u.a. Gewerkschaften, Studierende, Akademiker*innen, Vertreter*innen von indigenen und afrikanischstämmigen Völkern der Karibikküste und von Bäuer*innen, die Zivilgesellschaft, feministische Bewegungen sowie den Privatsektor.
Diese Bewegungen wurden zwar separat eingeladen, aber innerhalb des Dialogs haben sie entschieden eine gemeinsame Agenda zu übernehmen: Demokratisierung und Gerechtigkeit. Wahrscheinlich war dies einer der politischen Fehler Ortegas, zu denken, dass diese unterschiedlichen Sektoren mit eigenen Forderungen auftreten würden und dass es so kommen würde wie so oft zuvor in Nicaragua, nämlich zu einem Disput zwischen entgegengesetzten Gruppen innerhalb der Opposition.

 

In Deutschland, vor allem in der deutschen Linken, fragt man sich oft, ob es eine linke Alternative in Nicaragua geben könnte, wenn Ortega morgen zurücktreten würde. Gibt es innerhalb der Zivilallianz Gruppen, die einen linken Diskurs und linke politische Ziele verfolgen? Welche Rolle spielen emanzipatorische Bewegungen wie die feministische, LGTBI* oder Bäuer*innenbewegungen innerhalb dieser Zivilallianz?

Innerhalb der Zivilallianz gibt es Gruppen, die sich klar in einem linken Spektrum positionieren und zugleich seit April an den Protesten beteiligt waren. Viele davon sind Gruppen, die sich vom Sandinismus abgespaltet haben. In Nicaragua gibt es die Besonderheit, dass „die Linke” immer sehr eng mit der Figur von Sandino verbunden ist. Und in diesem konkreten Fall haben wir Gruppen, die linke ideologische Werte teilen und trotzdem eine wichtige Rolle in den politischen Aufständen gespielt haben. Bewegungen, von denen ich denke, dass das auf sie zutrifft, sind die Artikulation der Sozialen Bewegungen (Articulación de Movimientos Sociales) und die Zivilgesellschaft sowie andere politische Alternativen, die eine gute Beziehung zur Zivilallianz haben. Wir sind in ständiger Kommunikation und in einem Prozess der gemeinsamen Mitgestaltung, der sich bislang als sehr effektiv erwiesen hat. Aber auch innerhalb der Zivilallianz haben Studierende und viele der Studierendenbewegungen ein linkes Profil, andere nicht, aber das ist normal. Wir kämpfen derzeit um die Demokratisierung eines Landes, in dem die Probleme, die ideologischen oder Interessenkonflikte nach demokratischen Regeln zu lösen sind. Es gibt auch emanzipatorische Bewegungen innerhalb der Zivilallianz. Es gibt feministische Bewegungen, die eine wichtige Rolle innerhalb der Allianz übernommen haben. Die LGTBI*-Community spielt auch eine wichtige Rolle und ihre Interessen spiegeln sich in der Zivilallianz wider. Sie haben sich bereit erklärt, den Abgang Ortegas als Priorität zu setzen. Nach Ortega, so sagen wir oft, werden wir die Konflikte im Dialog zwischen uns lösen, aber unter neuen Bedingungen.

 

Aus den dogmatischen Sektoren der internationalen Linken gibt es große Skepsis gegenüber den oppositionellen Gruppen, die aus den Aprilprotesten und der darauf folgenden Repression entstanden sind. Einige bezeichnen sie sogar als „Putschist*innen”. Dass Mitglieder einer der Studierendenbewegungen der Universitätskoalition sich mit Abgeordneten der reaktionären Rechten aus den USA und El Salvador getroffen haben, verstärkt diese Skepsis. Wie hat sich AUN zu diesen Treffen positioniert und was ist eure Antwort auf die Vorwürfe, eine putschistische Bewegung zu sein?

Wir haben die Putschvorwürfe, die auch von Daniel Ortega oft vorgebracht wurden, zurückgewiesen. Wie wir schon am ersten Tag des Nationaldialogs betont haben, den eigentlichen Putsch hat Ortega gegen die Institutionen des Landes ausgeübt.
Hinsichtlich der Beziehung zur reaktionären Rechten und ihren Implikationen muss ich sagen, dass die Universitätskoalition, wie bereits erwähnt, in ihren Interessen nicht homogen ist. Einige Mitglieder haben sich öffentlich der extremen Rechten angenährt und wir haben klargestellt, dass sie zwar das Recht haben diese Kontakte zu knüpfen, aber auch, dass sie keinesfalls die Universitätskoalition als Ganzes vertreten. In dieser Koalition geht es viel mehr um unterschiedliche Bewegungen und Perspektiven. Jede Bewegung hat eigene Formen der Vernetzung. Im Fall von AUN haben wir die besagten Treffen mit der reaktionären Rechten mit großer Besorgnis verfolgt. Das ist nicht produktiv für unsere Ziele, sondern hat im Gegenteil für Kritik gesorgt und dem Diskurs Ortegas, dass die internationale Rechte einen Putsch gegen die nicaraguanische Revolution ausübt, Vorschub geleistet. Das gehört aber dazu, wenn man Teil einer so breiten Koalition ist. Jede Bewegung kann sich den Gruppen annähern, die sie für geeignet hält.

 

Einer der Sektoren, die in der Zivilallianz vertreten sind, ist der Private, allen voran vertreten durch den Unternehmerverband (COSEP), der bis zum 18. April einer der engsten Alliierten von Daniel Ortega war. Wie schafft man es, Gruppen, die zum Teil sehr widersprüchliche Interessen vertreten, wie z.B. COSEP und die Bäuer*innenbewegung oder die Kirche und feministische Bewegungen, in einer Allianz zu verbinden?

Die Position des Unternehmerverbands wurde sehr skeptisch gesehen. Sie waren Teil des sogenannten „Dialog und Konsens” zwischen Regierung und Privatsektor, von denen beide Seiten in den letzten elf Jahren erheblich profitiert haben. Dieses Verhältnis hatte sich schon verschlechtert und erlitt einen definitiven Bruch durch die Sozialreform, die Ortega einseitig entschied. Mit dem ersten Todesopfer wurde dieser Bruch unumkehrbar. Heute wird der Privatsektor als ein strategischer Alliierter innerhalb der Zivilallianz betrachtet und genauso wie alle Teil dieser Allianz hat auch er eigene Interessen. Es ist eine Frage des Willens und der politischen Reife, den Herausforderungen zu begegnen und uns darauf zu einigen, dass Ortega definitiv die Regierung verlassen muss.

 

Die Zivilallianz hat sich auf die Demokratisierung und die Gerechtigkeit Nicaraguas sowie auf den Rücktritt der Regierung Ortega-Murillo als gemeinsames Ziel geeinigt. Was bedeutet die Demokratisierung des Landes für AUN? Wie würdet ihr sie gestalten?

Diese Begriffe, die sehr allgemein klingen mögen, haben unterschiedliche Bedeutungen für die verschiedenen Gruppen, die in der Zivilallianz vertreten sind. Im Fall von AUN sind wir uns bewusst, dass es nicht nur kleiner Reformen oder Wahlprozesse bedarf, sondern dass tiefgreifende Transformationen notwendig sind. Wirtschaftlich heißt das, dass ein gewisser Wohlstand gewährleistet werden muss, der es erlaubt, sich auch mit dem politischen Leben auseinanderzusetzen. Eine Bevölkerung, die um ihre Existenz kämpfen muss, hat wenig Zeit dafür. In Nicaragua herrschte bisher ein Modell des Klientelismus. Wir wollen hin zu einem Modell, das es den Bürger*innen ermöglicht, am politischen Leben im Land teilzuhaben. Solch ein Modell sowie die vollkommene Unabhängigkeit der Justiz von politischen Parteien sind unerlässliche Veränderungen für die Zukunft.

MAX JERÉZ

studiert Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Polytechnischen Hochschule in Nicaragua. Er ist Gründungsmitglied der Allianz der Universitäten Nicaraguas (Alianza Universitaria Nicaraguense). Diese ist Teil der Studierendenbewegung Coalicíon Universitaria sowie des politischen Expertenkomitees für das Bündnis der Bürger*innen für Gerechtigkeit und Demokratie als politische Sammlungsbewegung für den Nationalen Dialog.
(Foto: Sergio Rakotozafy)

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren