HURRIKAN GEGEN MAPUCHE

Foto: Carpintero Libre (CC BY-SA 2.0) (https://www.flickr.com/photos/sinjefes/29252210044/)

117 Tage verweigerten vier Mapuche-Gefangene die Nahrungsaufnahme, um ihrer Forderung nach einem baldigen und fairen Prozess Nachdruck zu verleihen. Die Brüder Benito, Pablo und Ariel Trangol sowie der Lonko (politische Autorität der Mapuche) Alfredo Tralcal sind wegen Brandstiftung angeklagt und sitzen bereits seit 16 Monaten in Untersuchungshaft. Nach fast vier Monaten Hungerstreik kündigte die Regierung nun einen Kurswechsel im Umgang mit den Inhaftierten an und kommt damit zumindest einer ihrer Forderungen nach: Statt der Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes, einem Relikt aus der Militärdiktatur unter Pinochet, sollen die Häftlinge nach allgemeinem Recht behandelt werden. Benito und Pablo Trangol sowie Alfredo Tralcal entschieden sich daraufhin für die Beendigung ihres „Fastens“. Nur Ariel Trangol verharrte drei weitere Tage streikend, da er, laut seinem Sprecher Cristian Tralcal, den Versprechungen der Regierung vorerst nicht traute.

Mittlerweile befinden sich die vier Häftlinge in einem Krankenhaus in der Nähe Temucos in medizinischer Behandlung durch Ärzte und machis (spirituelle Autorität und Heiler*in). Der Forderung im Kontext des Hungerstreiks, die Untersuchungshaft in Hausarrest umzuwandeln, wurde nicht nachgegangen. Sonia Trangol, Schwester der drei inhaftierten Brüder erklärt, ihr gesundheitlicher Zustand sei immer noch gefährdet. Sie sähe das Einlenken der Regierung nicht als Sieg, denn es habe einen hohen Einsatz gefordert und schwere Schäden bei den Inhaftierten und ihren Familien hinterlassen. Um unparteiisch behandelt zu werden, müssten sie all das über sich ergehen lassen, „nur weil sie Mapuche sind“.

Im Interview mit Radio Universidad de Chile berichten die Inhaftierten über gesundheitliche Probleme während des Hungerstreiks und äußern Kritik an der Regierung. Pablo Trangol betont darin die unzureichende medizinische Behandlung und geht davon aus, dass Informationen über den schlechten Zustand der Häftlinge nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten: „Nachdem ich gewogen wurde, sagten sie öffentlich, ich hätte 16 Kilo abgenommen, obwohl es in Wirklichkeit 20 waren.“

Die Hintergründe der Anklage im „Caso Iglesias“ weisen Ungereimtheiten auf.

Die Hintergründe der Anklage im „Caso Iglesias“ weisen Ungereimtheiten auf. Die Inhaftierten sollen im Juni vergangenen Jahres eine evangelische Kirche in Padre Las Casas nahe der südchilenischen Stadt Temuco angezündet haben. Sprecher Tralcal glaubt jedoch an ihre Unschuld: „Sie wurden 100 Kilometer vom Tatort entfernt festgenommen. Ein Polizist nahm sie nach einer allgemeinen Verkehrskontrolle mit auf die Polizeiwache. Und es gibt Ungereimtheiten bei den Zeugenaussagen. Diesen zufolge hätten die Täter Spanisch gesprochen, dabei ist die Muttersprache der vier Angeklagten Mapudungun. Außerdem sagen die Zeugen, die Täter hätten Waffen bei sich getragen, aber im Auto wurden keine Waffen gefunden. Weil die Zeugen anonym sind, ändern sie ständig die Version.“

Gerade aktuell, etwa einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen, ist der Umgang mit den Mapuche ein Thema von höchster Brisanz und spaltet die politischen Lager. Der ehemalige Präsident und Mitte-rechts-Kandidat Piñera hält das Einlenken der Regierung für ein Zeichen der Schwäche und warnt vor der Verharmlosung des „Terrorismus“. Noch extremer äußerte sich der rechts-unabhängige Kandidat Kast, der in einer TV-Debatte die Mapuche als „Nomadenvolk“ und damit ohne Anspruch auf Land betitelte. Aus den Reihen des Regierungsbündnisses Nueva Mayoría sprechen sich kritische Stimmen indessen gegen den ungerechten Umgang mit den Mapuche und das Anti-Terror-Gesetz aus. Entwicklungsminister Barraza hatte die Präsidentin bereits mehrfach aufgerufen, die Inhaftierten nicht wie Verurteilte zu behandeln. Der derzeit entstehende, rassistische und diskriminierende Diskurs gegen die Mapuche bereite ihm Sorgen. Gegensätzlich zu rechten politischen Kräften erklärte er, im Süden Chiles gebe es zwar durchaus politisch motivierte Gewalttaten und Demonstrationen, aber keinen Terrorismus.

Trotz Kritik aus den eigenen Reihen, startete die Regierung an Tag 109 des Hungerstreiks eine Großrazzia gegen weitere Mapuche-Aktivist*innen. Scheinbar inspiriert von den Naturkatastrophen, die in den vergangenen Wochen in vielen lateinamerikanischen Ländern eine Spur der Verwüstung hinterlassen haben, stürmte die Polizei im Rahmen einer sogenannten „Operation Hurrikan“ mit gepanzerten Fahrzeugen und Maschinengewehren zeitgleich verschiedene indigene Gemeinden, durchsuchte Wohnhäuser und nahm acht Personen fest.
Die Festgenommen sind Aktivist*innen der Mapuche-Organisationen Coordinadora Arauco Malleko (CAM) und Weichan Aukan Mapu sowie Mitglieder der Autonomen Gemeinde Temucuicui, die sich für die Wiederaneignung von Land und Autonomie im Mapuche-Gebiet einsetzen. Ihnen werden die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Brandanschläge auf Lastwagen vorgeworfen. Als einzigen Beweis präsentierte die Staatsanwaltschaft Telefongespräche und Whatsapp-Unterhaltungen, in denen die Beschuldigten angeblich über Attentate, Geld und Waffen sprachen.

Entwicklungsminister Barraza meint, insbesondere die Verhaftung des CAM-Sprechers Héctor Llaitul hätte ohne die mediale „Effekthascherei“ stattfinden können, die seiner Meinung nach Radikalisierung begünstige. Auch Präsidentschaftskandidat Alejandro Guillier von der aktuell regierenden Nueva Mayoría erachtet die unterschiedliche Behandlung gleicher Delikte durch das Anti-Terror-Gesetz als absurd. Er verstehe nicht, „wieso das Anzünden eines Lastwagens in Santiago ein gewöhnliches Verbrechen, in Araukanien aber Terrorismus“ sei.
Seit einigen Jahren erregt die Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes gegen Mapuche auch international Aufsehen. 2013 kam eine unabhängige Untersuchung der Vereinten Nationen zu dem Ergebnis, dass das Gesetz „willkürlich und unklar“ eingesetzt werde. Aktuell appellierten erneut UN-Vertreter*innen sowie die Internationale Liga für Menschenrechte an die chilenische Regierung, das Gesetz nicht gegen weitere Mapuche einzusetzen. Auch Ana Llao, ehemalige Beraterin für Angelegenheiten der Mapuche bei der Indigenenbehörde CONADI, tadelt: „Für die Mapuche-Bevölkerung hat sich die Verfolgung und die Angst aus Zeiten der Diktatur in keinster Weise verändert“.

Viele Aktivist*innen glauben nicht an unabhängige Ermittlungen.

Viele Aktivist*innen glauben nicht an unabhängige Ermittlungen. Pamela Pezoa, Ehefrau des inhaftierten CAM-Sprechers, befürchtet, dass durch die Verhaftung die Ausreise ihres Mannes zu einem Kongress der Vereinten Nationen unterbunden werden solle. Für die Beschuldigten handelt es sich bei der „Operation Hurrikan“ um eine Montage, mit der die Mapuche-Bewegung und ihre Forderungen delegitimiert werden sollen, und um politische Rache an den Anführer*innen der Mapuche-Bewegung für die vielfältigen Aktionen und Proteste in den vergangenen Monaten. Mit Märschen und zahlreichen Besetzungen politischer Institutionen in Santiago und im Süden des Landes zeigten nicht nur Mapuche in den letzten Wochen Solidarität mit den Gefangenen und erhöhten den Druck auf die Regierung.

Neben der Debatte um kostenlose Bildung, um das Rentensystem und eine neue Verfassung ist der Umgang mit den Mapuche zentrales Wahlkampfthema. Die Wahl am 19. November wird den politischen Kurs der nächsten Jahre in dieser Angelegenheit maßgeblich beeinflussen. Nach der Enthüllung der Wahlkampffinanzierung Piñeras durch den Chemiekonzern SQM war nochmal Spannung in den Wahlkampf gekommen. Seine stärksten Konkurrent*innen Guillier und Sánchez hatten in Umfragen zugelegt. Zeitweise lag die Kandidatin des erst im vergangenen Jahr gegründeten Linksbündnisses Frente Amplio sogar auf Platz zwei nach Piñera. Sánchez kündigte an, das Anti-Terror-Gesetz im Falle ihrer Wahl nicht anzuwenden. Aktuelle Umfragen sehen sie jedoch weit abgeschlagen hinter Guillier und Favorit Piñera, der mit 45 Prozent der Stimmen momentan die besten Chancen auf das Amt hat.

Das radikal- und basisdemokratische Bündnis Frente Amplio hat seine Wurzeln in den Studierendenbewegungen und neuen politischen und sozialen Strömungen der letzten Jahre. Es tritt nicht nur als Kraft gegen rechts an, sondern gegen das seit der Diktatur bestehende neoliberale System insgesamt, das vom gesamten politischen Establishment unterstützt wird. Für die chilenische Bevölkerung und die Mapuche wäre eine innovative Politik mit echten politischen Alternativen, die sich von der Vergangenheit distanziert, ein lang benötigter Umbruch.


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