Wechselspiel im Kabinett

Muss sich großen Herausforderungen stellen Präsident Boric bei der Eröffnung eines Theaterfestivals im Januar (Foto: Ministerio de las Culturas, las Artes y el Patrimonio)

Es war das Gegenteil eines Geschenks: Kurz vor dem ersten Jahrestag des Amtsantritts von Gabriel Boric Anfang März lehnte das chilenische Abgeordnetenhaus die Steuerreform der Regierung ab. Nur wenige Ja-Stimmen hatten gefehlt und ausgerechnet linke Parlamentarier*innen hätten den Unterschied machen können: Die Abgeordnete Viviana Delgado vom grünen Partido Ecologista Verde hatte aus Wut über einen Konflikt mit Borics Bildungsminister den Sitzungssaal verlassen, weitere Abgeordnete hatten sich angeschlossen.

Die Steuerreform war eines der großen Versprechen in Borics Wahlkampf gewesen und sollte wichtige Teile seines Regierungsprogramms finanzieren. Im Juli 2022 hatten er und Finanzminister Mario Marcel das Reformprojekt vorgestellt. Ziel war es, durch die höhere Besteuerung von Privat- und Unternehmensgewinnen Gelder für dringend nötige Sozialprogramme zu schöpfen, darunter ein Familienzuschuss sowie Verbesserungen im staatlichen Gesundheitssystem. Dass nur Chilen*innen mit höherem Einkommen und große Unternehmen sich im Zuge der Reform auf höhere Steuern hätten einstellen müssen, hatten auch linke Abgeordnete bezweifelt und deswegen gegen die Reform gestimmt, darunter Pamela Jiles. Nach der Entscheidung kann ein erneuter Anlauf erst 2024 diskutiert werden.

Finanzminister Marcel reagierte der Presse gegenüber verärgert. Feiern würden nun Rechte, „Steuerhinterzieher und jene, die sie beraten“. Abgesehen von der jüngsten Niederlage schlägt sich Borics Finanzminister nicht schlecht: Der chilenische Peso ist stabil und die Inflationsrate ging im März seit 27 Monaten zum ersten Mal leicht zurück. Das Wirtschaftswachstum ist derzeit zwar nur leicht positiv, werde sich aber weiter erholen, so Marcel gegenüber El País. Der Finanzminister gehört Cadem-Umfragen von Anfang März zufolge zu den beliebteren Minister*innen in Borics Kabinett.

Letzteres ist wohlbemerkt kein großes Kunststück. Sowohl Boric als auch viele seiner Minister*innen sind bei weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt. Der Präsident hält sich derzeit bei Zustimmungswerten von gerade einmal 35 Prozent – wobei diese über den Frühsommer noch deutlich niedriger lagen. Als dann auch noch die Steuerreform scheiterte, reagierte Boric mit einer umfassenden Kabinettsumstellung – bereits die zweite nach Amtsantritt. Fünf Ministerien werden nun von neuem Personal geführt.
Auch 15 Staatssekretär*innen wurden ersetzt, darunter Haydee Oberreuter, die bis zum 10. März Staatssekretärin für Menschenrechte war. Menschenrechtsorganisationen und Vereinigungen von Opfern der Diktatur, ehemaligen politischen Gefangenen und ihren Angehörigen kritisierten ihre Absetzung in einem offenen Brief an Boric. Oberreuter selbst hatte unter der Diktatur politische Haft und Folter erfahren und als Staatssekretärin einen landesweiten Aktionsplan zur Suche nach den Verschwundenen der Diktatur verkündet.

Mit der Kabinettsumstellung wendet sich Boric weiter der Mitte des politischen Spektrums zu. Drei der fünf neuen Minister*innen hatten bereits unter Michelle Bachelet politische Posten inne. Borics Gefährt*innen aus Zeiten der Studierendenproteste und langjährige Aktivist*innen wie Oberreuter rücken dahingegen weiter in den Hintergrund. Ob das Wechselspiel im Kabinett in der Bevölkerung auf Anklang stößt, ist bislang unklar. Fest steht, dass Boric sich weiter kompromissbereit und handlungsfähig zeigen muss. Pluspunkte machte er in den vergangenen Monaten vor allem durch seinen Kampf gegen die Folgen der großflächigen Waldbrände im Hochsommer. Angesichts einer betroffenen Waldfläche von 600.000 Hektar (fast sieben Mal so groß wie Berlin) und der Zerstörung von mindestens 1.500 Häusern hatte der Präsident seinen Urlaub abgebrochen, die betroffenen Regionen besucht und schnelle finanzielle Hilfen versprochen. Auch Borics Positionierung in Menschenrechtsfragen wie die Kritik an den Regierungen von Nicaragua und Venezuela stoßen in weiten Kreisen auf Zufriedenheit – bis hin ins rechte Lager.

Borics Misserfolge kann vor allem die rechte Opposition ausnutzen

Vom Kabinettswechsel nicht betroffen war unter anderem Bauminister Carlos Montes, der Anfang März einen Notfallplan für den sozialen Wohnungsbau vorlegte. In diesem Rahmen sollen in den kommenden zweieinhalb Jahren 260.000 Wohnungen fertiggestellt werden. Diese werden fünf Jahre lang unter Sozialbindung vergeben, gehen danach aber in den freien Markt über. Es bleibt also fraglich, ob das Programm dem Problem der Wohnungsnot in Chile langfristig Abhilfe verschaffen kann. Schätzungen zufolge fehlt es im Land derzeit an 640.000 Wohnungen.

Ein weiteres Regierungsprojekt hat mit der einstimmigen Annahme durch den Senat eine wichtige Hürde genommen. Bereits im Jahr 2017 hatte Camila Vallejo – die Politikerin der Kommunistischen Partei (PC) war damals noch Abgeordnete und ist inzwischen Regierungssprecherin – einen Gesetzentwurf zur Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit von 45 auf 40 Stunden vorgelegt. Arbeitsministerin Jeanette Jara griff das Projekt nun wieder auf. Dem Entwurf zufolge soll die Arbeitszeit innerhalb von fünf Jahren schrittweise erst auf 44, dann 42 und schließlich auf 40 Wochenstunden reduziert werden. Das Projekt geht nun ins Abgeordnetenhaus, wo es noch vor dem Internationalen Tag der Arbeit verabschiedet werden könnte: „Wir hoffen, dass die Arbeiter schon am 1. Mai die 40-Stundenwoche gesetzlich festgeschrieben haben“, sagte Jara nach der Abstimmung im Senat. Die wöchentliche Arbeitszeit war zuletzt vor 18 Jahren gesenkt worden: von 48 auf 45 Stunden.

Trotz dieser positiven Entwicklungen überwiegt dem Politikwissenschaftler Marco Moreno zufolge, ein Jahr nach Amtsantritt die Ansicht, die Regierung würde Schwierigkeiten haben, die größten Probleme des Landes anzugehen: öffentliche Ordnung, Sicherheit, Migration und Wirtschaft. Dabei ließen sich drei konkrete Schwierigkeiten erkennen, zuallererst „die mangelnde Erfahrung in der Regierung“, die nötig wäre, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Außerdem habe das Kabinett „bisher nicht bewiesen, dass es im Team spielen kann. Stattdessen verliert es sehr leicht die Kontrolle über die Agenda“. Drittens gebe es ein „Defizit an Regierungskommunikation“, so Moreno gegenüber der uruguayischen Zeitung la diaria. Auch die Politikwissenschaftlerin Mireya Dávila von der Universidad de Chile betont die Schwierigkeiten zweier Regierungskoalitionen und Borics Minderheit im Parlament. Außerdem laste das verlorene Verfassungsreferendum vom September noch immer auf der Regierung: Eine solche Niederlage gehöre „zu den Ereignissen, die die Politik eines Landes grundlegend prägen“, so Dávila bei la diaria.

Dass es Boric bislang kaum gelingt, mit eigenen Projekten und Erfolgen die öffentliche Agenda zu bestimmen, kann vor allem die politische Rechte ausnutzen, um Druck auf die Regierung aufzubauen und ihre Themen zu setzen: öffentliche Sicherheit, Kriminalität und Migration. Gegen Letztere geht die Mitte-links-Regierung nun aktiv vor: Seit Anfang März und voraussichtlich für 90 Tage ist das chilenische Militär an den Nordgrenzen zu Peru und Bolivien stationiert. Möglich macht das ein Gesetz zur Sicherung kritischer Infrastruktur, das rechte wie linke Parteien im Januar 2023 verabschiedeten.

Die Schwierigkeiten der Regierung verheißen nichts Gutes

Beim Thema Sicherheit ist die in Borics Wahlkampf angekündigte Reform der Militärpolizei Carabineros in den Hintergrund gerückt, stattdessen dominiert das Thema Verbrechen den medialen Diskurs. Seit einigen Wochen steht Boric außerdem wegen mehrerer Fälle getöteter Carabineros in der Kritik. Die Opposition nutzt die Aufmerksamkeit und stellt die Getöteten als Märtyrer dar. Boric und seine Regierung würden nicht genug tun, um die Kriminalität im Land zu bekämpfen und Mitglieder der Polizei zu schützen, heißt es.

Darüber hinaus wird der Sozialdemokrat Boric gerne in die linksextreme Ecke gerückt. So beherrschte Mitte März vor allem das Thema der Begnadigung der politischen Gefangenen der Revolte von 2019 die politische Debatte. Ende vergangenen Jahres hatte Boric zwölf politische Gefangene begnadigt, darunter auch den Ex-Guerrillero der Untergrundorganisation Frente Patriótico Manuel Rodríguez, Jorge Mateluna. Oppositionsparteien hatten gegen die Begnadigung in sieben Fällen Anklage vor dem Verfassungsgericht erhoben. Diese lehnte das, derzeit mit leichter linker Mehrheit besetzte, Gericht jedoch am 21. März ab. Ein Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus beschäftigt sich allerdings weiterhin mit dem Thema.

Auch nach einem Jahr bleibt Borics Präsidentschaft also von Schwierigkeiten geprägt. Die Ablehnung der Steuerreform hat erneut bewiesen, dass der Präsident keine Parlamentsmehrheit und auch die doppelte Regierungskoalition ihre Tücken hat. Nun braucht Boric schnell neue Finanzierungsmodelle und ein klares Regierungsprogramm, wenn er zeigen will, dass Chile ein sozialer Rechtsstaat sein kann, ohne in die wirtschaftliche Instabilität zu rutschen. Und auch wenn der Präsident derweil Distanz zum neuen Verfassungsprozess hält, verheißt dieser, gepaart mit den Schwierigkeiten der Regierung, nichts Gutes. Beide Themen beschäftigen seit Ende März auch ein Bündnis aus Akademiker*innen, Politiker*innen, Gewerkschaftsleuten und Aktivist*innen. Unter dem Slogan #YoAnulo rufen sie nicht nur dazu auf, bei der Wahl zum Verfassungsrat am 7. Mai ungültig zu wählen, sondern teilen auch gehörig gegen Boric aus: „Die Rechte hat alles dafür getan, Unternehmensgewinne zu schützen und das infrage gestellte ‚Chile der 30 Jahre‘ zu verteidigen. Nun hat sich die Regierung von Gabriel Boric den traditionellen Parteien angeschlossen“, heißt es in der Erklärung. Gemeint sind die 30 Jahre nach Ende der Diktatur, in der auch die Mitte-links-Regierungen der Concertación neoliberale Strukturen weiterführten. Diese sollten die Revolte und die neue Verfassung ein für alle Mal beenden. Dass der Präsident heute mit Vertreter*innen der ehemaligen Concertación regiert und rechtes Agendasetting einfach hinnehmen würde, verurteilen die Unterzeichnenden. Stattdessen rufen sie zur Selbstorganisation im Kampf gegen das „Chile der 30 Jahre“ und seine Vertreter*innen auf. Hoffnung in die Regierung setzen sie offenbar keine.

“DE FACTO EINE GROSSE KOALITION”

Hier soll sich bald einiges ändern Chiles neuer Präsident Boric bei seinem Vorgänger Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma)

Bei dieser Stichwahl habe Chile den pinochetismo zum zweiten Mal abgewählt, meint die chilenische Politologin Marta Lagos. „Es passierte zweimal in der Geschichte: am 5. Oktober 1988 und am 19. Dezember 2021“, so Lagos in einem Interview mit dem argentinischen Sender AM 750. Der Wahlsieg des Linkskandidaten Boric habe also das „Nein“ zu Pinochet von 1988 bestätigt. Denn Borics Kontrahent José Antonio Kast, ein bekennender Anhänger der Pinochet-Diktatur, war bei der Wahl im Dezember fast zwölf Prozentpunkte hinter Borics Ergebnis von 56 Prozent der Stimmen zurückgeblieben.

Mitte Januar hat der gewählte Präsident Boric das Kabinett vorgestellt, mit dem er am 11. März sein Amt antreten will. Bei der Vorstellung im Nationalmuseum für Naturgeschichte beschrieb er die Vielfältigkeit des Regierungsteams: Es handele sich um eine Gruppe „mit politischer Pluralität, unterschiedlichen Standpunkten und einer starken Präsenz von Unabhängigen und Aktivisten politischer Parteien“. Vielfalt gebe es auch unter den vertretenen Regionen und Generationen.

Nach Ansicht der Politologin Lagos war Boric bei der Benennung des künftigen Kabinetts mutig. „Was er getan hat, war vor einem Monat noch undenkbar“, so die Gründerin der Nichtregierungsorganisation Latinobarometro. Borics Team habe stets argumentiert, dass eine Erneuerung erforderlich wäre, um die Fehler der traditionellen Mitte-Links-Koalition Concertación auszubügeln. Denn seit seiner Zeit als führender Aktivist der Studierendenbewegung galt Boric als Kritiker der Concertación, die die Jahrzehnte nach der Pinochet-Diktatur politisch geprägt hatte. Doch nun bezieht er Vertreter*innen der Seite ein, die er zuvor angegriffen hatte. Mit der Entscheidung habe Boric „de facto eine große Koalition gebildet – so, wie parlamentarische Regierungen eben gemacht werden“, erklärt die Analystin Lagos.

Da Boric mit dem Wahlversprechen angetreten ist, das während der Diktatur eingeführte neoliberale Modell abzulösen, wird er bei der Umsetzung von Strukturreformen sehr wahrscheinlich viel Gegenwind erhalten. Seine Regierungsziele beinhalten die Einführung eines öffentlichen Rentensystems und einer universellen Kranken-
versicherung, eine Reform des Streikrechts, eine Steuerreform zur Finanzierung sozialer Projekte, mehr Anerkennung für Care-Arbeit und eine Strukturreform der Militärpolizei Carabineros: „Wir werden Schritt für Schritt alle von uns vorgeschlagenen Änderungen vornehmen, weil wir davon überzeugt sind, dass die große Mehrheit der Chilenen strukturelle Änderungen fordert“, sagte er am Tag des Wahlsiegs. 

Zehn Jahre nach den Protesten von Studierenden sitzen mehrere Aktivist*innen in der Regierung


Tatsache ist, dass Boric Allianzen mit dem traditionellen Mitte-links-Lager benötigt, um Mehrheiten in den zwei Kammern des Nationalkongresses zu erreichen. Borics Wahlbündnis Apruebo Dignidad hat in der Abgeordnetenkammer nur 37 von 155 Sitzen und im Senat fünf von 50 Sitzen. Durch die Berufung parteiunabhängiger Minister*innen und Vertreter*innen von Parteien außerhalb des Bündnisses erweitert der künftige Präsident nun seine Koalition. Dazu gehören die Sozialistische Partei (PS), die Partei für Demokratie (PPD), Radikale Partei (PR) und Liberale Partei (PL).

„Die Zusammensetzung dieses Kabinetts ist in mehrfacher Hinsicht etwas Außergewöhnliches“, meint die chilenische Psychoanalytikerin Constanza Michelson. Es gehe vor allem darum, „das Ende einer Phase von Kämpfen zu besiegeln, in der der Feminismus am Rande der Macht stand, um nun an die Macht zu kommen“, so Michelson in einem Interview mit der argentinischen Tageszeitung Página 12. Mehrere Schlüsselressorts werden künftig Frauen übernehmen: Die Außenpolitik leitet ab März die parteiunabhängige Rechtsanwältin Antonia Urrejola. Verteidigungsministerin wird, fast 50 Jahre nach dem Militärputsch von 1973, die Allende-Enkelin Maya Fernández, die für die Sozialistische Partei in der Hauptstadtregion in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde. Von Ministerinnen geführt werden außerdem die Ressorts für Arbeit und Soziales sowie Gesundheit und auch Bergbau: Die designierte Ministerin Marcela Hernando Pérez (PR) soll zwei wichtige Vorhaben in Bezug auf die Bergbaupolitik umsetzen, wie das chilenische Onlinemedium El Ciudadano berichtete. Zum einen die Einführung einer Steuer im Kupferbergbau, die Zusatzeinnahmen im Umfang von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts einbringen soll. Zum anderen die Gründung eines staatlichen chilenischen Lithiumunternehmens, bei dem die Interessen betroffener Gemeinden im Mittelpunkt stehen.

Mit der Benennung der parteiunabhängigen Klimatologin und Mitautorin des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats, Maisa Rojas, hat Boric eine Expertin in Sachen Klimawandel für das Amt der Umweltministerin benannt. Rojas‘ Nominierung deutet an, dass der Kampf gegen die Klimakrise – wie schon im Wahlkampf angekündigt – künftig einen hohen Stellenwert haben könnte. Im Interview mit The Guardian kündigte die Klimawissenschaftlerin, die die chilenische Regierung bereits bei der COP25 beraten hat, grundlegende Veränderungen an: „Wir müssen uns mit den strukturellen Elementen unserer Gesellschaft befassen, was auch bedeutet, dass wir unseren Pfad der Entwicklung ändern müssen.“

Auch drei der fünf Positionen im comité político (innerer Entscheidungszirkel im Kabinett, Anm. d. Red.) – Inneres, Finanzen, Frauen, Regierungssprecher*in und Generalsekretariat der Präsidentschaft – werden ab dem 11. März Frauen leiten. Als wichtigster Kabinettsposten gilt in Chile das Innenministerium. Diese Rolle fällt nun zum ersten Mal einer Frau zu, der künftigen Innen- und Sicherheitsministerin Izkia Siches. Sie leitete Borics Wahlkampagne und war von 2017 bis 2021 Vorsitzende des Berufsverbands der Ärzt*innen. Die künftige Ministerin für Frauen und Geschlechtergleichheit ist die Feministin und Journalistin Antonia Orellana von der Convergencia Social (CS), Gabirel Borics Partei. Karina Nohales, Vertreterin der feministischen Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M, begrüßte ihre Benennung auf Twitter: „Sie ist eine engagierte Feministin, die sich für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, für das Recht auf legale, freie und sichere Abtreibung und würdevolle Arbeitsbedingungen einsetzt.“

59 Prozent sind laut Umfragen mit dem Kabinett Boric zufrieden

Neuer Finanzminister wird der bisherige Chef der chilenischen Zentralbank, der parteiunabhängige Mario Marcel, der bereits an allen Regierungen der Concertación beteiligt war. Seine Ernennung löste bei Vertreter*innen sozialer Bewegungen ungläubiges Entsetzen und Unverständnis aus. Für Luis Mesina aus der No+AFP-Bewegung, die das derzeitige chilenische Rentenversicherungssystem ablösen will, stellt die Ernennung Marcels eine Wiederbelebung der 2017 abgewählten Concertación dar. „Dafür haben die Wähler*innen nicht gestimmt, sie wollen Veränderungen“, betont er. Auch Ramón López, ehemaliger Wirtschaftsberater von Daniel Jadue (Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei), kritisierte die Personalentscheidung und die Botschaft dahinter scharf: So behaupte die Regierung, tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen zu befürworten, benenne dann jedoch einen Finanzminister, der sich alledem widersetze. „Wo bleibt die Glaubwürdigkeit?“, fragt sich López.

Doch auch zwei bekannte Gesichter aus der Studierendenbewegung hat Boric ins Kabinett geholt. Regierungssprecherin wird Camila Vallejo (Kommunistische Partei), Präsidentschaftssekretär wird Giorgio Jackson von der Partei Revolución Democrática, neben der CS die führende Partei im Parteienbündnis Frente Amplio. Beide Personen führten mit Boric die studentischen Proteste von 2011 und 2012 an, die bis dahin größten Demonstrationen in Chile seit Ende der Diktatur. Ihre nun zehn Jahre alten Forderungen nach bezahlbarem Studium für alle und ihre Kritik am privatisierten Bildungssystem sind noch heute aktuell. Als Mitglieder der neuen Regierung haben die drei ehemaligen Aktivist*innen nun die Möglichkeit, sie in die Tat umzusetzen.

Die künftigen Minister für Wohnen und Urbanistik (Carlos Montes), Verkehr und Telekommunikation (Juan Carlos Muñoz) sowie für Öffentliche Baumaßnahmen (Juan Carlos García) gelten alle als Experten auf ihrem Gebiet. Laut dem Magazin The Clinic seien die Erwartungen an diese Minister daher besonders hoch. García fordert etwa, das Zugnetz zu erweitern und die verschiedenen Verkehrsträger besser zu koppeln.

Mit Borics Wahlsieg und Kasts Niederlage erhält außerdem der aktuelle verfassunggebende Prozess Rückenwind. Für das Regierungsmandat Borics wird die Unterstützung des Verfassungskonvents eine wichtige Etappe zu Beginn der Amtszeit sein. Seine Präsidentschaft könnte den verfassunggebenden Prozess stützen. Bis Juli 2022 soll im Verfassungskonvent eine progressive, neue Verfassung erarbeitet werden. Wenn die Mehrheit der chilenischen Wähler*innen dafür stimmt, wird die alte Verfassung, ein Erbe aus Diktaturzeiten, nach vier Jahrzehnten abgelöst. Boric hat angekündigt, die Unabhängigkeit der Arbeit des Verfassungskonvents zu sichern und besuchte seine Mitglieder bereits kurz nach der Wahl, um ihnen seine Unterstützung auszusprechen.

Mit der Wahl Borics hat die Mehrheit der Chilen*innen gezeigt, dass sie sich entschlossen gegen den pinochetismo stellen. Eine Woche, nachdem der gewählte Präsident sein Regierungskabinett vorgestellt hatte, veröffentlichte das private chilenische Meinungsforschungsinstitut Cadem aktuelle Umfrageergebnisse. Demnach bewerteten 59 Prozent der Befragten die Personalauswahl als positiv. Es sind sieben Punkte mehr als beim vergangenen Kabinett Piñera (2018) und sogar 30 Punkte mehr als beim Kabinett Bachelet II (2014). Die Hoffnung der Bevölkerung auf einen Wandel scheint also da zu sein. Ob das Regierungsteam es schaffen wird, politische Mehrheiten zu erhalten und gleichzeitig seiner Linie, mit den Relikten der Vergangenheit aufzuräumen, treu zu bleiben? Die nächsten vier Jahre werden das zeigen.

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