TANTE ISABEL SUCHT EINE BLEIBE

Übte offen Kritik an Konventionen Die Sängerin Chavela Vargas (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Es war ein ganz normaler Tag im Leben des Umweltanwalts Paul Chaverri – damals, vor 28 Jahren. Da stand plötzlich seine Nachbarin Yisela Ávia Vargas mit ihrer Tante vor der Tür. Sie tranken Limonade zusammen, erzählten sich die Neuigkeiten aus dem Ort und Paul fragte nach ihrem Anliegen. Tante Isabel war gerade aus Mexiko heimgekehrt und suchte eine Bleibe in der Nähe ihrer Familie, in der beschaulichen Gemeinde (Kanton) Flores vor den Toren San Josés, der Hauptstadt Costa Ricas. Bevor die beiden Damen wieder gingen, überschaute die Tante Pauls weitläufiges, grünes, fast unbebautes Grundstück am Fluss. „Wenn ich wählen könnte“, sagte sie, „würde ich gerne auf einem solchen Grundstück alt werden“. Don Paul bewegt dieses Ereignis bis heute. Denn er wusste damals nicht, dass besagte Tante die berühmte Sängerin Isabel „Chavela“ Vargas war. Zwei Schlüsse zog er aus diesem Treffen: „Erstens, was für ein kulturloser Idiot ich war, Chavela Vargas nicht erkannt zu haben“, er lachte. „Und zweitens, was für eine schlichte Person sie eigentlich war.“ Im Oktober 2022, also 28 Jahre später, und zehn Jahre nach ihrem Tod im August 2012, ernannte das costa-ricanische Parlament jene Isabela „Chavela“ Vargas zur Benemérita de las Artes Patrias, zur verdienstvollen Künstlerin des Landes.

Berühmt wurde Isabel „Chavela“ Vargas gleich zweimal. Erst machte sie sich vor allem als Ranchera-Sängerin im Mexiko der 1960er Jahre einen Namen. Damals verkehrte sie mit den größten Künstler*innen der Zeit wie Cantinflas, Gabriel García Márquez, Elizabeth Taylor, Picasso, Ava Gardner oder Grace Kelly. Zwei Jahre lebte sie bei Diego Rivera und Frida Kahlo. Allerdings geriet die Karriere der extravaganten Dame nach und nach ins Stocken, da eine starke Alkoholsucht und der Machismo im Musikgeschäft ihr größere Engagements verwehrten. Dann, in den frühen 1990er Jahren, wurde sie eher zufällig wiederentdeckt. Zunächst gewann sie der deutsche Regisseur Werner Herzog für eine Rolle in seinem Film Cerro Torre. Anschließend verhalfen ihr der spanische Regisseur Pedro Almodóvar und der Sänger Joaquín Sabina zu einem fulminanten Comeback als Sängerin und Schauspielerin. Vargas’ Oeuvre umfasst geschätzt 40 Schallplatten und sechs Filme.

Neben ihren Erfolgen spielt der kulturhistorische Hintergrund ihres Lebens eine entscheidende Rolle für die Ernennung zur Ehrenbürgerin von Costa Rica. Die Abgeordnete Ada Acuña erklärte während der Abstimmung, die Ehrenbürger*innenwürde stehe stellvertretend „für all jene Künstlerinnen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, um als solche anerkannt zu werden“. Denn Chavela Vargas teilte das Schicksal zahlreicher vor allem weiblicher Kunstschaffender im Costa Rica des frühen 20. Jahrhunderts, die zur freien Ausübung ihrer Talente meist nach Mexiko auswanderten, darunter auch die heute als „Nationaldichterin“ gefeierte Carmen Lyra. „Diese großen Geister kämpften zuerst gegen ihre Heimat an, da sie nicht in die Grenzen der alten Traditionen passten“, kommentiert die Philologin und Vargas-Expertin Sonia Jones Leon diesen Ausbruch mit Blick auf die engmaschigen Institutionen Staat und Kirche im Costa Rica der 1930er und 1940er Jahre. Und so begründet auch die ehemalige progressive Abgeordnete Paola Vega ihre Initiative zur Ehrung von Isabel Vargas nicht nur damit, dass sie als „eine der wichtigsten Referenzen der lateinamerikanischen Musik, die in Costa Rica geboren wurde“ zähle, sondern auch „als eine Revolutionärin gegen den Machismo und die Homophobie ihrer Zeit.“

Ranchera singen, trinken, rauchen Chavela Vargas (Mitte) spaltet das recht konservative Costa Rica bis heute (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Denn was Chavela Vargas von anderen Künstler*innen ihrer Generation unterschied, war zweifelsohne die Radikalität ihres artistischen Ausdrucks. Schon in ihrer Jugend fiel sie in ihrem ländlich geprägten und streng konservativen Heimatort durch ihre rebellische und sonderbar maskuline Art auf. Als Tochter von Kaffeebauern lernte sie früh lesen und schreiben. „Aber anstatt sich auf ihre Zukunft als verheiratete Hausfrau vorzubereiten, folgte das junge Mädchen den Landarbeitern zu den Cantinas, jene verruchten Kneipen, in denen Schnaps getrunken und Gitarre gespielt wurde, das beeinflusste sie zweifelsohne“, erzählt Ana Castro, costa-ricanische Aktivistin für Gleichstellung, Musikerin der Band Claroscuro und Bekannte Chavelas.

Chavela Vargas als „eine Revolutionärin gegen den Machismo“

In einem Land, in dem es nicht einmal schicklich war, dass Frauen Gitarre spielten, trug Vargas entgegen der Konvention Hosen und Hut, jagte in ihrer Freizeit mit einem Revolver die Schlangen in den Kaffeeplantagen und kokettierte mit den Gerüchten über ihre gleichgeschlechtlichen Zuneigungen, indem sie Liebeslieder für Frauen sang. In jener Zeit wurde sie damit schnell zur Ausgeschlossenen. Weder in der traditionellen Gesellschaft noch in der mächtigen katholischen Kirche oder ihrem um Contenance bemühten Elternhaus war Platz für sie. „Es muss schrecklich für sie als queere Person gewesen sein“, kommentiert Ana Castro die Situation, „in der Dynamik eines Dorfes provoziert so etwas tägliche Beschimpfungen, Isolation und Scham innerhalb der eigenen Familie. Ich bin mir sicher: Wenn sie nicht geflohen wäre, hätte sie sich das Leben genommen.“ Mit 17 Jahren „floh“ Chavela über Kuba nach Mexiko. Dort führte sie einen noch exzentrischeren Lebensstil. Sang sie doch ausgerechnet die „Männermusik“ der Ranchera, trank, rauchte und wirkte aktiv mit an ihrem Legendenstatus, in dem sich die Wahrheit und das Phantastische immer mehr miteinander vermengten. Irgendwo zwischen den gefühlsüberladenen Welten ihrer Lieder, dem magischen Realismus der lateinamerikanischen Avantgarde jener Zeit und ihrem ungebrochenen Freiheitssinn entstanden Chavelas symbolreiche, poetische und interpretationsoffene Schilderungen ihres Lebens. Deshalb sind viele Ereignisse nach wie vor nur vage nachzuzeichnen, ihre Lebensdaten voller Unklarheiten und Widersprüche.

Dieses radikale Ausbrechen aus jeder gesellschaftlichen Ordnung und die offene Kritik an jeglichen Konventionen passt nicht in das noch immer etwas spießige Flores mit seinen alteingesessenen Familien. Bis heute wird Chavela Vargas in der Gemeindegeschichte mit keinem Wort erwähnt. Und auch dem Rest des Landes sind derartige Eskapaden eher fremd. Die Ernennung Chavela Vargas zur Benemérita wurde daher zum Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Der evangelikale Parlamentsabgeordnete Fabrizio Alvarado fasste die öffentliche Meinung bei der Begründung seiner Ablehnung etwa so zusammen: „Frau Vargas hatte keine Verbindung zu unserem Land, vielmehr leugnete und zweifelte sie unsere Kultur und Gewohnheiten an. Sie hat sich immer als Mexikanerin verstanden (…) und zudem äußerte sie sich unvorteilhaft negativ über ihr eigenes Vaterland, öffentlich und eindeutig.“ Ana Castro wundert diese Ansicht wenig. „Die Kritiker*innen sind letztendlich die gleichen Menschen, die sie damals aus ihrer Heimat vertrieben haben, sie ließen sie nie zur Ruhe kommen. Nur diese Leute hat sie direkt angegriffen. Und sie hatte alles Recht dazu! Chavela hat Costa Rica nie gehasst, sie war oft und gerne hier. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“

„Chavela hat Costa Rica nie gehasst. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“


Auch Paul Chaverri stieß auf mächtigen Widerstand, als er versuchte, die Beziehung zwischen Chavela und Costa Rica neu zu interpretieren. Auf seinem weitläufigen Grundstück in Flores hat er eine kleine Bühne – und er nutzt sie gerne, um sich mit Musiker*innen zu umgeben. Bei Recherchen mit besagter Nichte stießen sie zudem auf den vollständigen Nachlass von Chavela: ihre Gitarre, Ponchos, Fotos, signierte Bücher und sogar ihre Kinderschuhe. Die Idee war geboren, gemeinsam mit dem Musikkollektiv Sonamos Latinoamérica ein mehrtägiges Festival zu organisieren. Neben Konzerten sollten auch Workshops über lateinamerikanische Musik stattfinden. „Costa Ricas Schulden bei Chavela und Chavelas Schulden bei Costa Rica“, lautete das Motto. Es kamen Künstler*innen aus ganz Lateinamerika, um auf dem Festival zu spielen.

Während das mexikanische Kulturinstitut in Costa Rica dieses Vorhaben unterstützte, regte sich im Gemeinderat von Flores schnell hartnäckiger Widerstand. Die Idee, Musikworkshops für die Schüler*innen anzubieten, wurde umgehend untersagt. Ein öffentliches Konzert in der Turnhalle der lokalen Schule sollte einige Stunden vor der Aufführung auf Eis gelegt werden. Sogar die Polizei war vor Ort – ein sehr seltener Anblick im friedlichen Costa Rica. Angeblich verstoße das Konzert als Großveranstaltung gegen die Hygieneauflagen in der Coronapandemie. Ein zähes Argumentieren und Verhandeln war die Folge, das Konzert stand auf der Kippe. Künstler*innen aus Argentinien, Ecuador und anderen Ecken des Kontinentes wunderten sich über diesen harschen Widerstand der Gemeinde gegen die Würdigung einer seiner lateinamerikaweit gefeierten Töchter. Es ist dem beherzten Einsatz des Schulleiters zu verdanken, dass die Veranstaltung mit 50 Teilnehmer*innen im letzten Moment stattfinden konnte. Große Aufmerksamkeit erregte das Festival nicht. Das liegt wohl auch am Coldplay-Konzert, das zeitgleich im Nationalstadion stattfand – vor 20.000 Menschen. Als deren Sänger zum Abschluss des Großevents das patriotische Lied „Patriótica Costarricense“ sang, wurde das Konzert als Sternstunde der costa-ricanischen Kultur gefeiert. Don Paul lacht verächtlich, wenn er die Geschichte hört und nennt sein in den vergangenen 28 Jahren kaum verändertes Grundstück samt Bühne im Herzen der Gemeinde nun offiziell „Kulturzentrum Chavela Vargas“. Trotzdem sind sich Paul und seine Mitstreiter*innen sicher, dass es noch eine Weile dauern wird, bis Isabel Vargas in Costa Rica eine sichere Bleibe findet.

BIGOTTERIE STATT BEFREIUNG

Stimmen wie seine fehlen Oscar Romero war einer der wichtigsten Befreiungstheologen (Foto: Alison McKellar (CC-BY-2.0), Flickr)

Ein juristisch legaler Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Vergewaltigung eines zehnjährigen Mädchens zeigte Mitte August erneut die ungebrochene Macht konservativer Kreise in Politik und Kirche Brasiliens. Seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte der Onkel das Mädchen missbraucht und obwohl das brasilianische Gesetz einen Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung und bei Gefahr für das Leben der Mutter erlaubt, wurde dieser Vorfall in den sozialen Medien skandalisiert. Abbruch, ja oder nein? Evangelikale und die katholische Amtskirche vereinten sich in einem bedenklichen Schulterschluss. Walmor Oliveira de Azevedo, Erzbischof von Recife und Olinda sowie Vorsitzender der brasilianischen Bischofskonferenz, bezeichnete den Abbruch als Verbrechen. „Die Kirche verteidigt das Leben“, kommentierte er in einem Video. Gemeinsam mit Vertreter*innen der Evangelikalen wurde Stimmung gegen die Abtreibung gemacht.

Die evangelikale Familienministerin Damares Alves nutzte den Fall für eine politische Kampagne. Sie übte Druck auf das Mädchen und seine Familie aus, indem sie öffentlich versprach, nach der Geburt „zu helfen“, und schickte „Abgesandte“ in die Kleinstadt São Mateus im Bundesstaat Espírito Santo. Mit Erfolg: Die eigentlich zuständige Klinik weigerte sich, die Abtreibung durchzuführen, der Fall musste vor Gericht und das Mädchen nach Recife reisen, um zu seinem Recht zu kommen. Evangelikale Kreise veröffentlichten den Namen des Kindes und den der Klinik, in der die Abtreibung durchgeführt wurde. In Protesten vor dem Krankenhaus versuchten sie, sich dort gewaltsam Einlass zu verschaffen und griffen das Klinikpersonal und Frauenorganisationen an, die für die Rechte des Opfers demonstrierten.

Entstanden ist diese theologische Richtung in Reaktion auf die politischen Situation der 1960er und 1970er-Jahre in Lateinamerika

Vertreter*innen innerhalb der katholischen Kirche mit einer anderen Sichtweise hielten sich bedeckt. Nur der Befreiungstheologe Leonardo Boff sprach offen davon, dass es gelte, das Leben des Mädchens zu retten. Und Theolog*innen wie Boff werden in Brasilien immer weniger. Nur wenige Tage vor dem skandalisierten  Schwangerschaftsabbruch starb mit Pedro Casaldáliga eine der letzten und wichtigsten Stimmen der Befreiungstheologie.

Entstanden ist diese theologische Richtung in Reaktion auf die politischen Situation der 1960er und 1970er-Jahre in Lateinamerika, gekennzeichnet durch Militärdiktaturen und die Unterdrückung weiter Teile der Bevölkerung. Ausgehend von einem Treffen progressiver Bischöfe in Medellín im Jahre 1968 gelangte man zu einer Neuinterpretation der Bibel. Angesichts der herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse habe die Kirche die Aufgabe, die „Stimme der Armen“ zu sein. Theologie müsse die Lebenswirklichkeiten anerkennen und sich eindeutig auf der Seite der Armen gegen jegliche Form von Unterdrückung stellen: „Option für die Armen“ lautete das Schlagwort.

Die in Medellín formulierte Sichtweise der lateinamerikanischen Kirche basierte zum einen auf den bereits in den 1950er-Jahren entstandenen Basisgemeinden, denen die urchristliche Gemeinschaft als Vorbild diente. Ein weiterer Impuls war das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965. Hier wurde die Erneuerung der Kirche propagiert. Der brasilianische Bischof von Recife, Dom Helder Camâra, war im „Katakombenpakt“ – benannt nach einem Treffen von 40 Bischöfen in der Domitilla-Katakombe – bereits sehr aktiv und bereitete das Terrain für eine lateinamerikanische, nicht mehr eurozentristische Sichtweise in der Theologie.

Nach Medellín gewann die Befreiungstheologie viele Anhänger*innen. Der peruanische Theologe Gustavo Gutiérrez gab ihr mit seinem Buch Teología de la Liberación 1971 einen Namen, Vertreter*innen wie Ernesto Cardenal in Nicaragua oder Jon Sobrino in El Salvador versuchten die Umsetzung. Manch ein Priester, wie Camilo Torres in Kolumbien, schloss sich dem bewaffneten Widerstand an. Die Mehrzahl der Befreiungstheolog*innen vertrat aber eine Veränderung mit friedlichen Mitteln: Tausende sozialpolitisch engagierte Basisgemeinden entstanden und die Forderung nach strukturellen Veränderungen wurde lauter.

Was Casaldáliga damals schrieb, hat bis heute nichts an Bedeutung verloren


Die herrschenden Militärdiktaturen verfolgten beide Richtungen in der Befreiungstheologie. Der Mord am befreiungstheologisch ausgerichteten Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, im Jahre 1980 erregte internationale Aufmerksamkeit. Auch Pedro Casaldáliga wurde als Kommunist beschimpft und erhielt bis ins hohe Alter immer wieder Morddrohungen. Als er 1971 zum Bischof ernannt wurde, veröffentlichte er gleich zu Beginn ein Dokument, in dem er die Machenschaften der Großgrundbesitzer*innen im Zusammenspiel mit den Militärs anprangerte: „Eine amazonische Kirche im Konflikt mit dem Großgrundbesitz und der sozialen Marginalisierung“. Er analysierte die dramatische Situation der Kleinbauern und -bäuerinnen und Indigenen, stellte sich eindeutig auf deren Seite, prangerte die Großgrundbesitzer*innen und die Agrarindustrie an und forderte eine grundlegende Agrarreform.

Was Casaldáliga damals schrieb, hat bis heute nichts an Bedeutung verloren. Dies zeigen nicht zuletzt die jährlich veröffentlichten Statistiken zu Landkonflikten und deren Opfern, herausgeben von der 1975 gegründeten Landarbeiterpastorale CPT, aus der 1985 die Landlosenbewegung MST hervorging. Die CPT war ebenso ein Ergebnis des Einsatzes von Pedro Casaldáliga wie der 1972 entstandene Indigenenmissionsrat CIMI. Dieser erhebt immer wieder deutlich die Stimme gegen die rechtsgerichtete Regierung Bolsonaro. Ein Einhalt des Eindringens in Indigenengebiete, Schutzmaßnahmen für die Indigenen – zuletzt gegen die Corona-Pandemie – und eine Anerkennung indigener Rechte sind ständig wiederkehrende Forderungen.

Sowohl Pedro Casaldáliga als auch andere Befreiungstheolog*innen sahen sich nach Medellín nicht nur von politischen Kreisen, sondern auch von der Amtskirche Kritik und nicht selten Verfolgung ausgesetzt. Der Vorwurf lautete Vernachlässigung der pastoralen Aufgaben sowie Verwendung marxistischer Terminologie. Die international bekanntesten Beispiele sind der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff, dem unter dem damaligen Papst Johannes Paul II. ein „Bußschweigen“ auferlegt wurde, sowie Ernesto Cardenal, der seines Priesteramtes enthoben wurde. Dom Pedro konnte dank des Rückhalts durch die brasilianische Bischofskonferenz weiter arbeiten. Vielen ging er jedoch, obwohl er immer für gewaltfreien Widerstand plädierte, in seinen Aussagen zu weit.

Mit dem Amtsantritt des Papstes Franziskus schöpften die Anhänger der Befreiungstheologie neue Hoffnung

Bereits in den Jahren der Amtszeit von Johannes Paul II. war spürbar, nicht zuletzt durch dessen Politik der Bischofsernennungen, dass die konservative Strömung wieder zunahm und die Bedeutung der Basisgemeinden schwand. Dennoch gibt es die Basisgemeinden noch in Brasilien. Nicht selten sind es einzelne Padres wie José im Maranhão oder Romulo in Paraíba, die das Anliegen der Befreiungstheologie weiterverbreiten, dabei jedoch von ihren Bischöfen in der Regel keine Unterstützung erfahren. Wo sie tätig sind, gelingt das Vordringen evangelikaler Gemeinden seltener. Das Eingehen auf die Lebenswirklichkeit und das Suchen nach gemeinsamen Lösungen verhindert die Abwanderung zu den Evangelikalen. Diese haben in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt deshalb einen solchen Aufschwung genommen, weil sich viele Menschen – gerade in unterprivilegierten Stadtteilen und Regionen – von ihnen angenommen fühlen. Laut dem staatlichen Statistikinstitut IBGE bekannten sich 1940 noch 95 Prozent der brasilianischen Bevölkerung zum Katholizismus. Mittlerweile liegt der Wert bei 45 Prozent mit stetig abnehmender Tendenz.

Mit dem Amtsantritt des derzeitigen Papstes Franziskus im Jahr 2013, seinen kapitalismuskritischen Äußerungen und einigen von ihm veranlassten Maßnahmen schöpften die Anhänger der Befreiungstheologie neue Hoffnung: Oscar Romero wurde zum Heiligen erklärt, Dom Helder Camâra bekam den Rang eines Seligen, mit Leonardo Boff erfolgte die Versöhnung. Die „Option für die Armen“ erhielt auf der Amazonassynode 2019 erneut Bedeutung. Dennoch: Skepsis ist angebracht, nicht zuletzt, da die Machtstrukturen im Vatikan fest zementiert scheinen. Es ist offen, ob die befreiungstheologische Strömung in der Praxis wieder einen sichtbaren Aufschwung nimmt und die noch bestehenden Basisgemeinden davon womöglich profitieren können.

Im brasilianischen Alltag unter Präsident Bolsonaro bedarf es mehr Menschen wie des Theologen Leonardo Boff, die in der Öffentlichkeit Stellung beziehen. Die eindeutig konservative Mehrheit innerhalb der katholischen Kirche scheint bei dem Thema Schwangerschaftsabbruch einer Meinung mit den Evangelikalen zu sein. Die katholische Kirche schwimmt – entgegen mancher päpstlicher Verlautbarung – weiter fest im konservativen Wasser. Eine notwendige öffentliche Hinterfragung von menschenrechtsverletzenden Sichtweisen und eine Befreiung von verkrusteten Strukturen findet zumindest derzeit nicht statt.

// WIRRGLAUBEN

„Cloroquina, Cloroquina, ich weiß, dass du mich heilst, im Namen von Jesus!“ Dieses Liedchen wird zurzeit häufig auf Demonstrationen gesungen, die den brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro unterstützen und sich gegen die von Gouverneur*innen und Bürgermeister*innen verhängten Ausgangsbeschränkungen richten. Die Demonstrant*innen spielen dabei auf das Malariamedikament Hydroxychloroquin an, das möglicherweise eine therapeutische Wirkung gegen das SARS-CoV-2-Virus hat. Doch während an dem Medikament, das für seine heftigen Nebenwirkungen bekannt ist, noch geforscht wird, preist es der brasilianische Präsident als Wundermittel an (siehe S. 20). Damit ist er nicht der einzige, der kluge Ratschläge zur Heilung von Covid-19 parat hat: Héctor Aníbal Giménez zum Beispiel, Gründer der Kirche Cumbre Mundial de los Milagros und populärer evangelikaler Prediger in Argentinien, empfiehlt die Salbung mit Desinfektionsmitteln und Pflanzenölen, andere raten zu verschiedensten Teeaufgüssen und – natürlich – zum Gebet zur Stärkung der Abwehrkräfte.

Im evangelikalen Milieu ist die Skepsis an den Wissenschaften ebenso weit verbreitet wie Verschwörungstheorien, bis hin zum Glauben an die flache Erde. Das bestätigt auch eine gemeinsame Recherche von OjoPúblico, Agencia Pública und PopLab unter dem Namen „Poderes no santos“ (Unheilige Mächte) von Anfang Juni, die Reden und Aktionen von evangelikalen Organisationen und Personen untersucht hat. Ihre Nachforschungen zeigen, dass die Krise für fundamentalistische Evangelikale eine willkommene Gelegenheit bietet, die gesellschaftliche Ohnmacht und Unsicherheit für ihre Agenda zu instrumentalisieren.

Zu Beginn der Einschränkungen des öffentlichen Lebens missachteten evangelikale Gemeinden die entsprechenden Regelungen in mehreren lateinamerikanischen Ländern, darunter Chile, Peru und Kolumbien. Neben dem Seelenheil ihrer Anhänger*innen dürften sich einige Glaubensgemeinschaften auch wegen handfester ökonomischer Interessen dazu durchgerungen haben. Wenn sich Evangelikale ebenso wie Neoliberale in Zeiten der Pandemie auf die Freiheit berufen, dann bedeutet dies bei beiden die Freiheit, Superspreader-Ereignisse zu organisieren, sei es die Arbeit an Nähmaschinen in engen und stickigen Räumen oder eben Gottesdienste. Das Ausbleiben der Kollekten macht jedenfalls erfinderisch: Miguel Arrázola, ein rechter kolumbianischer Prediger, forderte die Mitglieder seiner Gemeinde auf, ihren Zehnten weiterhin zu entrichten, um vor dem Virus geschützt zu sein. In Peru können Gemeindemitglieder derweil für bescheidene Summen von umgerechnet bis zu 30 Euro Gottesdiensten per Zoom beiwohnen.

Gepredigt wird: Corona sei entweder eine Laborerfindung, um die Menschheit mit bei Impfungen implantierten Mikrochips gefügig zu machen, eine Strategie Satans höchstpersönlich – oder eben Gottes Strafe für vermeintliche Sünden der Menschheit wie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und die Öffnung der Ehe für alle. Das kommt bei den Evangelikalen nicht von ungefähr: Seit Jahren polarisieren diese Themen weit über religiöse Kreise hinaus.

Das evangelikale Christentum hat in den vergangenen Jahren in Lateinamerika an gesellschaftlicher Bedeutung und politischem Einfluss gewonnen. Knapp ein Fünftel der Bevölkerung der gesamten Region bekennt sich mittlerweile zu einer der verschiedenen evangelikalen Strömungen. Dabei lassen sich nicht alle Prediger*innen und Gemeinden in gleichem Maße als religiös-konservative Hardliner beschreiben, nur sind es eben solche, die ihre Ideologie gerade jetzt wieder am lautesten verkünden – und gehört werden. Die Igreja Universal do Reino de Deus des brasilianischen Unternehmers Edir Macedo, der das Coronavirus als eine Strategie Satans bezeichnet, zählt mehrere tausend Kirchen im Land und hat nach eigenen Angaben über acht Millionen Gläubige. Wie auch andere evangelikale Prediger*innen unterstützte Macedo Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro im Wahlkampf und hat mit der republikanischen Partei einen eigenen politischen Arm mit 30 Abgeordneten, die im Parlament mit Bolsonaro an einem Strang ziehen. Wie dramatisch es sich auswirken kann, auf Evangelikale zu hören und mit ihnen Politik zu machen, offenbart sich dieser Tage: 40.000 Menschen sind in Brasilien bis Mitte Juni an den Folgen von Coronavirus-Infektionen gestorben, inzwischen stirbt fast jede Minute ein*e Brasilianer*in an Covid-19. Angesprochen auf die hohen Todeszahlen durch Corona im April, sagte Bolsonaro: „Sou Messias, mas não faço milagres“ (Ich heiße Messias, aber ich kann keine Wunder bewirken). Auch das „Cloroquina“-Singen und die Gebete der Evangelikalen werden dieses Wunder für die brasilianische Bevölkerung nicht herbeiführen.

DIE MUMIEN SIND ZURÜCK

Foto: julia viajando CC BY 2.0

Hupend und mit singenden Insass*innen fahren immer mehr SUVs und Oberklassenwagen die Alameda bergab. Die Richtung ist klar: Hin zum Grand Plaza Hotel, wo Chiles zukünftiger Präsident, Sebastián Piñera seinen Wahlsieg feiert. Woher die Leute kommen ist auch klar, aus dem Barrio Alto, aus Las Condes, Vitacura und anderen reichen Vierteln Santiagos. Mag sein, dass der Präsident der Konservativen viele Stimmen aus allen Klassen bekommen hat, diejenigen, die hier feiern, kommen jedoch mehrheit-lich aus der Oberschicht. Manche haben schon die obligatorische Chile-Fahne oder eine Piñera-Fahne, die sie aus den Fenstern schwenken, andere decken sich bei den Straßenhändler*innen ein, die gut vorbereitet zur Plaza Italia gekommen sind und ihre Waren anpreisen: Fahnen, Vuvuzelas in blau-weiß-rot und „Piñera-Wasser“, wie einer von ihnen scherzhaft anmerkt. Ein Mann ruft den Piñera-Fans hinterher: „Ihr seid doch alle Idioten!“ Gut 100 Meter weiter wird schnell eine Bühne aufgebaut, auf der Sebastián Piñera später reden wird. Immer mehr Leute trudeln ein und skandieren „Nos Salvamos!“ („Wir haben uns gerettet!“) und „Chile se salvó!“ („Chile hat sich gerettet!“). Gerettet vor „Chilezuela“, Zuständen wie in Venezuela, eine Angstkampagne der Rechten, die in den sozialen Netzwerken massiv an Schwung gewonnen hat. Ein Mann hält eine Büste von Augusto Pinochet in die Kameras, dem Diktator, der Chile von 1973 bis 1990 beherrschte, Oppositionelle hinrichten und ermorden ließ, zehntausende Chilen*innen ins Exil trieb und Chile mit seiner Militärjunta und den zivilen Helfer*innen zu dem neoliberalen „Musterland“ gemacht hat, das es heute ist.

Bereits kurz nach der Wahl, noch bevor Piñera überhaupt eine Amtshandlung getätigt hat, wurde seine Präsidentschaft schon von einem ersten Skandal überschattet. Der Chefökonom der Weltbank Paul Romer hatte zunächst eingeräumt, dass der jährliche „Doing-Business-Report“ aus politischen Gründen manipuliert worden sei, um die Chancen des konservativen Präsidentschaftskandidaten zu erhöhen. Die Kriterien des Index seien absichtlich geändert worden, um die wirtschaftliche Situation Chiles in ein schlechteres Licht zu rücken.

Wenn Piñera von Opfern spricht, meint er Großgrundbesitzer*innen und Forstunternehmen.

Piñera selbst hatte per Twitter im Wahlkampf auf den Report verwiesen, in dem Chile vom 37. auf den 55. Rang gefallen war. Ohne die Änderung der Kriterien wären es nur fünf Ränge gewesen. Mittlerweile sind alle Beteiligten zurückgerudert, die Weltbank erklärte, die Änderung der Kriterien sei aus rein wissenschaftlichen Gründen erfolgt. Dennoch wirft der Skandal ein schlechtes Licht auf die Kampagne Piñeras, waren doch die Drohkulisse von „Chilezuela“ und die Ankurbelung der Wirtschaft sein zentrales Programm.

Piñeras Regierung, dessen Kabinett bis zum Redaktionsschluss noch nicht feststand, wird in der Legislaturperiode von 2018 bis 2022 viele Brücken bauen müssen. Seine Koalition verfügt in keiner der Kammern über eine eigene Mehrheit und muss darauf bauen, einzelne Abgeordnete für Gesetzesprojekte gewinnen zu können oder Zugeständnisse an die Oppositionsfraktionen vom Mitte-links-Bündnis Nueva Mayoría und dem Links-Bündnis Frente Amplio zu machen. Ein hundertprozentig neoliberales Programm wird es also nicht geben. Um sich die Unterstützung des Senators Manuel José Ossandón der konservativen Partei Renovación Nacional aus dem armen Randbezirk Puente Alto der Haupstadt zu sichern, musste er bereits kleine Zugeständnisse in der Bildungspolitik machen.

Ökonomische Interessen haben in Chile Verfassungsrang, indigene Rechte hingegen nicht.

Ossandón rang ihm das Versprechen ab, den kostenlosen Zugang zu Bildung auszuweiten. Piñera kündigte an, dieses Versprechen wahr zu machen und bei den Institutos Profesionales (IP), Institutionen, die in etwa die Rolle des Berufsausbildungssystems in Deutschland innehaben, für mehr kostenlosen Zugang zu sorgen. Von Seiten des Studierendenverbandes CONFECH hagelte es prompt Kritik: „Piñera verspricht 90 Prozent kostenlosen Zugang zu den IP, weil das das nächste Geschäft mit der Bildung ist.“ Denn die IPs sind oft privat betrieben und sind, wie so vieles im chilenischen Bildungssektor, eine weitere Möglichkeit Profit zu machen.

Ganz andere Töne schlug Piñera in Bezug auf Wallmapu an, ein zu großen Teilen von Mapuche besiedeltes Gebiet in den südlichen Regionen Chiles. Er kündigte an, weiterhin das Antiterrorgesetz gegen Mapuche anzuwenden, um so „klar und deutlich legitime Forderungen indigener Völker von gewalttätigen Handlungen oder Terrorismus“ zu trennen, so Piñera gegenüber der Tageszeitung El Mercurio. Dafür will er der Militärpolizei Carabineros den Rücken stärken und abschließend feststellen lassen, wie viel Territorium der chilenische Staat den indigenen Gemeinden überlassen muss.
Außerdem will er die Nationale Agentur für indigene Entwicklung CONADI durch eine „Entwicklungsagentur“ ersetzen und die Opfer im Konflikt unterstützen. Wenn er von Opfern spricht, ist allerdings klar, dass damit nicht Opfer von rassistischer Polizeigewalt, wie Brandon Hernández (s. Interview auf Seite 40) oder immer wieder vor Gericht gezerrte indigene Aktivist*innen wie Francisca Linconao oder die Angehörigen von ermordeten Aktivist*innen wie Macarena Valdés gemeint sind (siehe Kurznachrichten). Sondern es geht um die Großgrundbesitzer*innen und Forstunternehmen, die wegen des Widerstandes von Mapuche-Gemeinden nicht mehr ungestört agieren können. Ökonomische Interessen haben in Chile schließlich Verfassungsrang, indigene Rechte hingegen nicht.

Auf die sozialen Bewegungen Chiles dürften nicht nur im Wallmapu harte Zeiten zukommen. Schon der Papstbesuch Mitte Januar machte deutlich, dass die Repressionsorgane, allen voran die Carabineros, mit der vermeintlichen Unterstützung der neuen Regierung härtere Bandagen anlegen werden. Bei feministischen Protesten gegen die Stippvisite des Pontifex, gab es allein in Santiago mehr als 40 Festnahmen. Auf der Wache kam es wie üblich zu Misshandlungen. „Die Carabineros sagten uns, dass sie sich mit der kommenden konservativen Regierung sicher fühlen und dass wir uns Sorgen machen sollen, weil es nach dem 11. März schlimmer werden würde. Eine Polizistin sagte, dass sie alle ‚Scheißkommunisten‘ hasse“, so Millaray Hermosilla, eine der festgenommenen Aktivist*innen in der Onlinezeitschrift eldesconcierto. Auch wenn das Kabinett von Piñera noch nicht feststeht, ist klar: Chile erwartet wie schon während der ersten Amtszeit Piñeras turbulente Zeiten.

Newsletter abonnieren