Befreiung Denken

Franz Josef Hinkelammert Ein bekannter Vertreter der Befreiungsideologie (Foto: Jim Finn via wikimedia commons, CC BY-SA 3.0)

Franz Josef Hinkelammert wurde 1931 im westfälischen Emsdetten geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin und promovierte mit einer grundlegenden Arbeit zur sowjetischen Planwirtschaft. In den 1960er Jahren entsandte ihn die Konrad-Adenauer-Stiftung nach Chile, wo er an der Katholischen Universität lehrte und an der Gründung des Zentrums für die Erforschung der Nationalen Realität CEREN teilnahm.

Als meine Frau Clarita und ich 1968 an einem Forschungsprojekt in der chilenischen Provinz Talca beteiligt waren, wurde uns von verschiedenen Seiten vorgeschlagen, ihn kennenzulernen. Wir lehnten das ab, weil wir ja Chileninnen und Chilenen kennenlernen wollten und keine Deutschen, noch dazu von der Adenauer-Stiftung! Ein schwerer Fehler! Umso größer war unsere Überraschung, als dieser Franz Josef Hinkelammert Ende 1971 in Berlin vor unserer Tür stand und mir eine Einladung des Rektors der Katholischen Universität überbrachte, an einem vom chilenischen Wirtschaftsministerium finanzierten Forschungsprojekt des CEREN zur Begleitung seines Umverteilungsprojekts mitzuwirken. Wir sagten zu, und im März 1972 flogen wir mit unseren beiden kleinen Kindern nach Santiago.

Im März 1973 kehrten wir nach Berlin zurück, wo ich meine Arbeit am Lateinamerika-Institut wieder aufnahm. Im Mai gründeten wir ein deutschlandweites Chile-Komitee, im Juni eine Zeitschrift namens Chile-Nachrichten, und im September putschte das chilenische Militär gegen den linken Präsidenten Salvador Allende. Der Traum von einem demokratischen Sozialismus war beendet.

Die Verfolgung der Linken und Demokraten in Chile war grausam, aber Franz gelang es, sich in die (west)deutsche Botschaft zu flüchten. Und wir schafften es, für ihn eine Gastprofessur am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin einzurichten. Für Franz war es eine Selbstverständlichkeit, an den Chile-Nachrichten mitzuarbeiten, und als 1974 das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) gegründet wurde, war es nur natürlich, dass Franz zu seinem Ersten Vorsitzenden gewählt wurde.

Als 1976 die Gastprofessur ausgelaufen und eine Berufung auf eine ordentliche Ökonomieprofessur aus politischen Gründen gescheitert war, zog es Franz doch wieder nach Lateinamerika, zumal sich ihm die Chance bot, zusammen mit dem chilenischen Theologen Pablo Richard und dem brasilianischen Theologen Hugo Assmann ein Ökumenisches Forschungsinstitut in Costa Rica aufzubauen, das bald zu einem der wichtigsten Zentren der lateinamerikanischen Befreiungstheologie wurde. Er hatte, was selten genug war, neben der Ökonomie auch in Münster Theologie studiert.

Franz widmete sich nicht nur der Redaktion der vom Institut herausgegebenen Zeitschrift Pasos, sondern publizierte im Laufe der Jahre auch mehrere Bücher, die ihn zum tonangebenden Befreiungstheologen und Kapitalismuskritiker werden ließen. An erster Stelle wäre hier zu nennen das Buch mit dem Titel „Die ideologischen Waffen des Todes. Zur Metaphysik des Kapitalismus“ aus dem Jahr 1981. Franz argumentiert hier, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Menschen ihr Subjektsein abgegeben haben und dem Wachstumszwang ausgeliefert werden, der vom Zwang zur Kapitalakkumulation angetrieben wird. Er verbindet die ökonomische Analyse der konkreten Entwicklungen der globalisierten kapitalistischen Weltwirtschaft mit einer theologischen Interpretation. Dem „Reich des Todes“ wird in einer Deutung des Paulus-Buches das „Reich des Lebens“ gegenübergestellt.

Franz zeigte, dass Neoliberalismus nur in Totalitarismus enden kann


Ein weiteres wichtiges Werk von Franz aus dieser Zeit ist die 1984 erschienene „Kritik der utopischen Vernunft“. In diesem Buch setzt er sich vor allem mit Friedrich August von Hayek, Milton Friedman, Arnold Harberger und Karl Popper, also den Vordenkern und Bewunderern des Neoliberalismus, auseinander. Friedman und Harberger hatten in den 1960er Jahren an der Universität von Chicago ein Stipendienprogramm für chilenische Ökonomiestudenten geschaffen. Absolventen dieses Programms, die sogenannten Chicago Boys, dienten sich nun nach dem chilenischen Putsch von 1973 der Militärregierung an, um die Ideen ihrer Lehrmeister in Chile umzusetzen. 1975 reiste Friedman nach Santiago und entwarf mit ihnen ein radikales „Schockprogramm“, das konsequent umgesetzt wurde. Was dann in Großbritannien unter Margaret Thatcher und in den USA unter Ronald Reagan stattfand, war im Grunde nur eine Kopie des chilenischen Beispiels. In dem Buch von Franz wird gezeigt, dass das neoliberale Privatisierungsprogramm gar nicht woanders hinführen kann als zu einem totalitären System.

2020 hat Franz noch einmal ein Buch geschrieben, das sich wie ein Fazit aller seiner Bücher liest. „Die Dialektik und der Humanismus der Praxis. Mit Marx gegen den neoliberalen kollektiven Selbstmord“ nennt sich das Werk. Es ist das Ergebnis eines fruchtbaren Kampfes für Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen. „Die Kritik der Religion endet also bei dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Dieser Satz von Marx bleibt für Franz Hinkelammert oberster Maßstab.

Zum Schluss soll nicht verschwiegen werden, dass Franz ein Familienmensch war. Er war dreimal verheiratet und hatte mehrere Kinder. So war immer etwas los im Hause Hinkelammert.

Mit dem zunehmenden Alter wurden die langen Flugreisen zwischen San José und Berlin zu beschwerlich. So haben wir uns zuletzt lange nicht mehr gesehen. Schade.


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EIN MENSCHLICHER KÄMPFER

Gefragt Albert Luther während der Besetzung der westdeutschen Botschaft in Nicaragua 1986 (Foto: Rob Brouwer)

Die Gedanken reisen zurück in die 1980er Jahre, nach Managua in Nicaragua: in Alberts Haus im Stadtteil El Dorado, auch Eldorado für viele Internationalist*innen. Es war Umschlagplatz für Informationen, Schwarzbrot und Käse, Briefe und Päckchen aus der fernen Heimat, zudem ausgestattet mit einem echten Telefon, ein Juwel in jener Zeit ohne Internet und Handy. Albert hat Haus, Kühlschrank, Auto, sein Leben mit uns geteilt. In seinem großen Herzen war Platz für die unterschiedlichsten Menschen. Als Pfarrer hatte er sich der Befreiungstheologie zugewandt. Er war ein radikaler Menschenfreund, ein menschlicher Kämpfer für eine gerechte Gesellschaft, die die Sandinist*innen damals den Nicaraguaner*innen versprachen. Faszinierend für Albert und für viele junge Menschen, die deshalb aus aller Welt nach Nicaragua kamen.

So bot sein Haus uns ein Zuhause und den Platz für leidenschaftliche politische Diskussionen über Revolution, Solidarität, die sandinistische Politik, die Rolle der Befreiungstheologie. Egal ob Brigaden-Koordination, ökumenische Delegationen oder Gewerkschafter*innen: sie alle debattierten auf den nicaraguanischen Schaukelstühlen seines Wohnzimmers. Über Alberts Telefon kamen gute und schlechte Nachrichten. Er wurde angerufen, wenn die von den USA finanzierten Contras Menschen entführten oder töteten. Bei ihm klingelte das Telefon, als eine deutsche Brigade entführt und auch als die Internationalisten Iwan, Joel und Bernd 1986 zusammen mit Nicaraguaner*innen in einem Hinterhalt der Contra umgebracht wurden. Albert wurde zum Seelsorger und „Pressesprecher“ zugleich. Er war nicht eitel, es ging ihm nie darum im Vordergrund zu stehen, und vielleicht war genau das der Grund, warum er im Mittelpunkt stand. Als 1986 die Contra eine deutsche Brigade entführte, wurde sein Haus zum Sitz des „Krisenstabs“ der Solidaritätsgruppen. Von dort liefen die Kontakte nach Deutschland: über das Informationsbüro in Wuppertal zu den Angehörigen der Entführten und zum Krisenstab in Bonn. Aktionen wurden geplant, mit denen Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden sollte, damit diese gegenüber der US-Regierung und der Contra für die Freilassung der Entführten aktiv wird. So wurde die deutsche Botschaft in Managua besetzt, Internationalist*innen ketteten sich vor der US-Botschaft und an zentralen Plätzen in Costa Rica und Honduras an, da die Contras in diesen Ländern Militärbasen unterhielten. In seiner ruhigen und gelassenen Art strukturierte Albert das Gewusel, hatte immer den Kontakt zur richtigen Ansprechperson in Regierung oder Presse. Nach drei Wochen wurden die acht Entführten freigelassen. Albert war Mitorganisator der großen Pressekonferenz mit den Freigelassenen, die weltweites Interesse fand.

Wir sind traurig, dass Albert am 4. April 2021 an Corona gestorben ist. Uns bleiben viele Erinnerungen und existentielle Politik- und Lebenserfahrungen mit Albert. Seine Großzügigkeit und Herzlichkeit haben unsere gemeinsame politische Arbeit geprägt.


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BIGOTTERIE STATT BEFREIUNG

Stimmen wie seine fehlen Oscar Romero war einer der wichtigsten Befreiungstheologen (Foto: Alison McKellar (CC-BY-2.0), Flickr)

Ein juristisch legaler Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Vergewaltigung eines zehnjährigen Mädchens zeigte Mitte August erneut die ungebrochene Macht konservativer Kreise in Politik und Kirche Brasiliens. Seit ihrem sechsten Lebensjahr hatte der Onkel das Mädchen missbraucht und obwohl das brasilianische Gesetz einen Schwangerschaftsabbruch nach einer Vergewaltigung und bei Gefahr für das Leben der Mutter erlaubt, wurde dieser Vorfall in den sozialen Medien skandalisiert. Abbruch, ja oder nein? Evangelikale und die katholische Amtskirche vereinten sich in einem bedenklichen Schulterschluss. Walmor Oliveira de Azevedo, Erzbischof von Recife und Olinda sowie Vorsitzender der brasilianischen Bischofskonferenz, bezeichnete den Abbruch als Verbrechen. „Die Kirche verteidigt das Leben“, kommentierte er in einem Video. Gemeinsam mit Vertreter*innen der Evangelikalen wurde Stimmung gegen die Abtreibung gemacht.

Die evangelikale Familienministerin Damares Alves nutzte den Fall für eine politische Kampagne. Sie übte Druck auf das Mädchen und seine Familie aus, indem sie öffentlich versprach, nach der Geburt „zu helfen“, und schickte „Abgesandte“ in die Kleinstadt São Mateus im Bundesstaat Espírito Santo. Mit Erfolg: Die eigentlich zuständige Klinik weigerte sich, die Abtreibung durchzuführen, der Fall musste vor Gericht und das Mädchen nach Recife reisen, um zu seinem Recht zu kommen. Evangelikale Kreise veröffentlichten den Namen des Kindes und den der Klinik, in der die Abtreibung durchgeführt wurde. In Protesten vor dem Krankenhaus versuchten sie, sich dort gewaltsam Einlass zu verschaffen und griffen das Klinikpersonal und Frauenorganisationen an, die für die Rechte des Opfers demonstrierten.

Entstanden ist diese theologische Richtung in Reaktion auf die politischen Situation der 1960er und 1970er-Jahre in Lateinamerika

Vertreter*innen innerhalb der katholischen Kirche mit einer anderen Sichtweise hielten sich bedeckt. Nur der Befreiungstheologe Leonardo Boff sprach offen davon, dass es gelte, das Leben des Mädchens zu retten. Und Theolog*innen wie Boff werden in Brasilien immer weniger. Nur wenige Tage vor dem skandalisierten  Schwangerschaftsabbruch starb mit Pedro Casaldáliga eine der letzten und wichtigsten Stimmen der Befreiungstheologie.

Entstanden ist diese theologische Richtung in Reaktion auf die politischen Situation der 1960er und 1970er-Jahre in Lateinamerika, gekennzeichnet durch Militärdiktaturen und die Unterdrückung weiter Teile der Bevölkerung. Ausgehend von einem Treffen progressiver Bischöfe in Medellín im Jahre 1968 gelangte man zu einer Neuinterpretation der Bibel. Angesichts der herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse habe die Kirche die Aufgabe, die „Stimme der Armen“ zu sein. Theologie müsse die Lebenswirklichkeiten anerkennen und sich eindeutig auf der Seite der Armen gegen jegliche Form von Unterdrückung stellen: „Option für die Armen“ lautete das Schlagwort.

Die in Medellín formulierte Sichtweise der lateinamerikanischen Kirche basierte zum einen auf den bereits in den 1950er-Jahren entstandenen Basisgemeinden, denen die urchristliche Gemeinschaft als Vorbild diente. Ein weiterer Impuls war das Zweite Vatikanische Konzil von 1962 bis 1965. Hier wurde die Erneuerung der Kirche propagiert. Der brasilianische Bischof von Recife, Dom Helder Camâra, war im „Katakombenpakt“ – benannt nach einem Treffen von 40 Bischöfen in der Domitilla-Katakombe – bereits sehr aktiv und bereitete das Terrain für eine lateinamerikanische, nicht mehr eurozentristische Sichtweise in der Theologie.

Nach Medellín gewann die Befreiungstheologie viele Anhänger*innen. Der peruanische Theologe Gustavo Gutiérrez gab ihr mit seinem Buch Teología de la Liberación 1971 einen Namen, Vertreter*innen wie Ernesto Cardenal in Nicaragua oder Jon Sobrino in El Salvador versuchten die Umsetzung. Manch ein Priester, wie Camilo Torres in Kolumbien, schloss sich dem bewaffneten Widerstand an. Die Mehrzahl der Befreiungstheolog*innen vertrat aber eine Veränderung mit friedlichen Mitteln: Tausende sozialpolitisch engagierte Basisgemeinden entstanden und die Forderung nach strukturellen Veränderungen wurde lauter.

Was Casaldáliga damals schrieb, hat bis heute nichts an Bedeutung verloren


Die herrschenden Militärdiktaturen verfolgten beide Richtungen in der Befreiungstheologie. Der Mord am befreiungstheologisch ausgerichteten Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, im Jahre 1980 erregte internationale Aufmerksamkeit. Auch Pedro Casaldáliga wurde als Kommunist beschimpft und erhielt bis ins hohe Alter immer wieder Morddrohungen. Als er 1971 zum Bischof ernannt wurde, veröffentlichte er gleich zu Beginn ein Dokument, in dem er die Machenschaften der Großgrundbesitzer*innen im Zusammenspiel mit den Militärs anprangerte: „Eine amazonische Kirche im Konflikt mit dem Großgrundbesitz und der sozialen Marginalisierung“. Er analysierte die dramatische Situation der Kleinbauern und -bäuerinnen und Indigenen, stellte sich eindeutig auf deren Seite, prangerte die Großgrundbesitzer*innen und die Agrarindustrie an und forderte eine grundlegende Agrarreform.

Was Casaldáliga damals schrieb, hat bis heute nichts an Bedeutung verloren. Dies zeigen nicht zuletzt die jährlich veröffentlichten Statistiken zu Landkonflikten und deren Opfern, herausgeben von der 1975 gegründeten Landarbeiterpastorale CPT, aus der 1985 die Landlosenbewegung MST hervorging. Die CPT war ebenso ein Ergebnis des Einsatzes von Pedro Casaldáliga wie der 1972 entstandene Indigenenmissionsrat CIMI. Dieser erhebt immer wieder deutlich die Stimme gegen die rechtsgerichtete Regierung Bolsonaro. Ein Einhalt des Eindringens in Indigenengebiete, Schutzmaßnahmen für die Indigenen – zuletzt gegen die Corona-Pandemie – und eine Anerkennung indigener Rechte sind ständig wiederkehrende Forderungen.

Sowohl Pedro Casaldáliga als auch andere Befreiungstheolog*innen sahen sich nach Medellín nicht nur von politischen Kreisen, sondern auch von der Amtskirche Kritik und nicht selten Verfolgung ausgesetzt. Der Vorwurf lautete Vernachlässigung der pastoralen Aufgaben sowie Verwendung marxistischer Terminologie. Die international bekanntesten Beispiele sind der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff, dem unter dem damaligen Papst Johannes Paul II. ein „Bußschweigen“ auferlegt wurde, sowie Ernesto Cardenal, der seines Priesteramtes enthoben wurde. Dom Pedro konnte dank des Rückhalts durch die brasilianische Bischofskonferenz weiter arbeiten. Vielen ging er jedoch, obwohl er immer für gewaltfreien Widerstand plädierte, in seinen Aussagen zu weit.

Mit dem Amtsantritt des Papstes Franziskus schöpften die Anhänger der Befreiungstheologie neue Hoffnung

Bereits in den Jahren der Amtszeit von Johannes Paul II. war spürbar, nicht zuletzt durch dessen Politik der Bischofsernennungen, dass die konservative Strömung wieder zunahm und die Bedeutung der Basisgemeinden schwand. Dennoch gibt es die Basisgemeinden noch in Brasilien. Nicht selten sind es einzelne Padres wie José im Maranhão oder Romulo in Paraíba, die das Anliegen der Befreiungstheologie weiterverbreiten, dabei jedoch von ihren Bischöfen in der Regel keine Unterstützung erfahren. Wo sie tätig sind, gelingt das Vordringen evangelikaler Gemeinden seltener. Das Eingehen auf die Lebenswirklichkeit und das Suchen nach gemeinsamen Lösungen verhindert die Abwanderung zu den Evangelikalen. Diese haben in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt deshalb einen solchen Aufschwung genommen, weil sich viele Menschen – gerade in unterprivilegierten Stadtteilen und Regionen – von ihnen angenommen fühlen. Laut dem staatlichen Statistikinstitut IBGE bekannten sich 1940 noch 95 Prozent der brasilianischen Bevölkerung zum Katholizismus. Mittlerweile liegt der Wert bei 45 Prozent mit stetig abnehmender Tendenz.

Mit dem Amtsantritt des derzeitigen Papstes Franziskus im Jahr 2013, seinen kapitalismuskritischen Äußerungen und einigen von ihm veranlassten Maßnahmen schöpften die Anhänger der Befreiungstheologie neue Hoffnung: Oscar Romero wurde zum Heiligen erklärt, Dom Helder Camâra bekam den Rang eines Seligen, mit Leonardo Boff erfolgte die Versöhnung. Die „Option für die Armen“ erhielt auf der Amazonassynode 2019 erneut Bedeutung. Dennoch: Skepsis ist angebracht, nicht zuletzt, da die Machtstrukturen im Vatikan fest zementiert scheinen. Es ist offen, ob die befreiungstheologische Strömung in der Praxis wieder einen sichtbaren Aufschwung nimmt und die noch bestehenden Basisgemeinden davon womöglich profitieren können.

Im brasilianischen Alltag unter Präsident Bolsonaro bedarf es mehr Menschen wie des Theologen Leonardo Boff, die in der Öffentlichkeit Stellung beziehen. Die eindeutig konservative Mehrheit innerhalb der katholischen Kirche scheint bei dem Thema Schwangerschaftsabbruch einer Meinung mit den Evangelikalen zu sein. Die katholische Kirche schwimmt – entgegen mancher päpstlicher Verlautbarung – weiter fest im konservativen Wasser. Eine notwendige öffentliche Hinterfragung von menschenrechtsverletzenden Sichtweisen und eine Befreiung von verkrusteten Strukturen findet zumindest derzeit nicht statt.


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Sterben muß, wer an Götzen rührt.

Am 16.November 1989 wurden sechs Mitglieder der Jesuitenkommunität in San Salvador, allesamt Professoren und Seelsorger an der zen­tralamerikanischen Universität (UCA), darunter der Rektor Ignacio Ellacuría, sowie die Haushälterin und deren Tochter von einem – wie inzwischen feststeht- Kommando der salvadorianischen Armee brutal ermordet. Das Institut “Monseñor Romero” mit seiner Biblio­thek und unersetzliche Quellensammlungen wurde dabei vollständig verwüstet.
Der Befreiungstheologe Jon Sobrino, Mitglied dieser Jesuitenge­meinschaft, wäre gleichfalls unter den Toten gewesen, hätte er nicht eine Lehrverpflichtung im Ausland gehabt. Nun schreibt er sich von der Seele, was die Nachricht von diesem Massaker in ihm ausgelöst hat. Er stellt dar, was jeder seiner sechs Brüder und die beiden Frauen mit ihrer Arbeit und ihrem Glauben verkörperten und worin sie lebendig bleiben werden.Er reflektiert ihre Ermor­dung im Zusammenhang mit dem Tod weiterer 70 000 Salvadorianer­Innen in den letzten anderthalb Jahrzehnten: Warum müssen so viele unbekannte Arme und ihre Verteidiger wie Erzbischof Romero und nun seine Jesuitenbrüder sterben ? – Er kommt zu dem Schluß, daß es letzlich die “Götzen des Todes” – Geldgier, Kapitalinteressen und Machterhalt um jeden, aber auch jeden Preis – sind, die solche Menschenopfer fordern und verschlingen.
Pater Ellacuría und seine Mitbrüder haben mitgearbeitet an dem aufrüttelnden dritten Kairosdokument: “Der Weg nach Damaskus – Kairos und Bekehrung”. Am 16. November 1989 haben sie es als Mär­tyrer mit ihrem Leben bezahlt. Jon Sobrinos Buch läßt sich auch als Kommentar des Damaskuspapiers lesen. Für Christen im konzilia­ren Prozeß und theologisch interessierte Menschen ein sehr zu empfehlendes Buch.

Jon Sobrino: Sterben muß, wer an Götzen rührt. Das Zeugnis der ermordeten Je­suiten in San Salvador, Fakten und Überlegungen. Edition Exodus: Freiburg 1990 ISBN.3-905575-04-3


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