Nur noch Tropfen aus dem Hahn

Gegen Wassermangel und patriarchale Rollenbilder Aktivist*innen der Acción Comunitaria an der Plaza de la Solidaridad (Foto: Alea Rentmeister)

„Einen Tag lang kein Wasser zu haben ist schrecklich. Man kann nichts tun, es ist eine Qual. Ich muss dann Wasser kaufen und das bringt mein ganzes Haushaltseinkommen durcheinander“, sagt Carmen Trejo. Die Rentnerin lebt im Süden von Mexiko-Stadt in einem Viertel, in dem es seit Jahren immer wieder an Wasser mangelt. Etwa 70 Prozent des Wassers für die mexikanische Hauptstadt kommen aus dem Boden, aus einem unterirdischen Grundwasserleiter. Das restliche Wasser wird aus dem komplexen Lerma-Cutzamala-System aus Stauseen und Wasseraufbereitungsanlagen, das gut 100 Kilometer entfernt liegt, in die Stadt gepumpt. Doch derzeit sind die Stauseen fast ausgetrocknet, erklärt Luis Zambrano, Biologe an der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) gegenüber LN: „Wir haben drei Jahre schwere Dürre hinter uns. Das vergangene Jahr war aufgrund des El-Niño-Phänomens besonders intensiv. Wir haben versucht, den Wassermangel zu kompensieren, indem wir noch mehr Wasser aus dem Grundwasserleiter gefördert haben. Das führt aber kurz- oder mittelfristig zu noch größeren Problemen, weil wir so auch den Grundwasserleiter erschöpfen.“ Der Klimawandel beschleunige die Wasserkrise, denn dadurch regne es weniger, aber heftiger, erklärt Zambrano: „Die großen Wassermengen in sehr kurzer Zeit führen einerseits zu Überschwemmungen. Andererseits können wir das Wasser nicht effektiv sammeln, weil wir es so schnell wie möglich ableiten müssen, um Menschenleben und Infrastruktur zu schützen.”

Luis Zambrano sieht schlechtes Wassermanagement als einen Hauptgrund für die Wasserknappheit: „Das Problem ist, dass die Wasserpolitik nachfrage- und nicht angebotsorientiert ist: Wenn ein Unternehmen oder ein Gebäude viele Kubikmeter Wasser benötigt, wird das bewilligt, weil es die wirtschaftliche Entwicklung ankurbelt, auch wenn es dieses Wasser gar nicht gibt oder die Wasserbilanz darauf hindeutet, dass wir den Grundwasserleiter oder das Cutzamala-System übermäßig ausnutzen. Das schafft kurz-, mittel- und langfristig viele Probleme.”

Die Wasserkrise als Klassen- und Geschlechterfrage


Mexiko-Stadt ist mit ihren 22 Millionen Einwohner*innen die sechstgrößte Stadt der Welt. Die Wasserkrise trifft aber nicht alle von ihnen in gleichem Maße. „Der Wassermangel ist ein sehr komplexes Problem, das mit Fragen der Bildung, Kultur, Geschlechter und Ungleichheit zusammenhängt”, erklärt die Psychologin und Sozialanthropologin Paulina Uribe gegenüber LN. Sie ist Teil der Koordination für Geschlechtergerechtigkeit an der UNAM und forscht unter anderem zu Umweltbildung. Der Zugang zu Wasser ist unter anderem eine Frage der sozialen Klasse: Während die Menschen in einkommensschwachen Vierteln den Wassermangel schon jetzt zu spüren bekommen, kommt in den reicheren Vierteln nach wie vor Wasser aus dem Hahn. Denn die Viertel, in denen Menschen mit hoher Kaufkraft wohnen, haben mehr Macht, die Wasserversorgungsunternehmen zu zwingen, ihnen auch bei geringem Wasserdruck weiterhin Wasser zu liefern, sagt Zambrano. Eines der Viertel, die solche Privilegien nicht haben, ist Santa Úrsula Coapa im Stadtteil Coyoacán im Süden der Stadt. Carmen Trejo hat sich daher mit anderen Nachbar*innen zusammengeschlossen und die Nachbarschaftsinitiative Acción Comunitaria gegründet, um gemeinsam für das Recht auf Wasser zu kämpfen. Mit dabei ist auch die Hausfrau und Aktivistin Marta Elizalde: „Ich habe mich dieser Gruppe angeschlossen, weil es in unseren Häusern täglich zu wenig Wasser gibt. Wir haben nicht genug Wasser, um Geschirr zu spülen, manchmal haben wir nicht einmal genug für das Bad, die Kleidung. Ich lebe mit älteren Menschen zusammen, die gewaschen werden müssen. Es ist besorgniserregend, weil wir uns ohne Wasser nicht sauber halten können”, erzählt sie.

Auch Natalia Lara gehört zu den Aktivist*innen von Acción Comunitaria. Sie hat Politikwissenschaften und Wassermanagement studiert, arbeitet als Universitätsdozentin und kennt die alltäglichen Probleme, die durch den Wassermangel entstehen: „Man hört oft von Leuten, die nicht schlafen, weil sie nachts die Wasserfässer füllen, um tagsüber Wasser zu haben. Viel Zeit geht auch dabei drauf, auf die Tankwagen mit Wasser zu warten oder diese zu suchen. Da wird viel unbezahlte Zeit investiert, vor allem von Frauen, und das wirkt sich in gewisser Weise auch auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen aus”, berichtet sie.

In der patriarchalen Rollenverteilung wird Frauen und Mädchen die unbezahlte Arbeit im Haushalt und damit auch die Aufgabe, Wasser zu beschaffen, zugeschrieben. Mexiko ist damit allerdings keine Ausnahme: Laut UN Women sind in etwa 80 Prozent der Haushalte weltweit, in denen das Wasser knapp ist, Frauen und Mädchen für das Wasserholen zuständig. Eine Menstruationstasse auswaschen, aber auch duschen, waschen, putzen, spülen, Pflanzen gießen oder Gemüse waschen: Das geht ohne Wasser nicht.

Die gemeinsame Organisierung der Nachbar*innen in Santa Úrsula Coapa begann vor gut zehn Jahren, als es drei Monate lang gar kein Wasser mehr gab und die Menschen auf Wasserlieferungen durch Tankwagen angewiesen waren. „Das war schon sehr beunruhigend, da haben sich einige von uns Frauen organisiert“, erinnert sich die Geografielehrerin und Aktivistin Norma Piñon im Gespräch mit LN. Als die Wasserlieferungen ausblieben, blockierten die Nachbar*innen Straßen, bis die Behörden ihnen zuhörten. Und tatsächlich zeigte der Protest Wirkung: Die Stadt schickte neue Tankwagen mit Wasser, bildete Arbeitskreise und ermöglichte Gespräche mit dem Regierungschef von Mexiko-Stadt und der Wasserbehörde Sacmex.

Seitdem trifft sich Acción Comunitaria jeden Freitagnachmittag um fünf Uhr nachmittags auf der kleinen Plaza de la Solidaridad. Der Platz ist hübsch: Blütenblätter liegen auf dem Boden, am Rand stehen lila gestrichene, verschnörkelte Metallbänke. Und der Platz ist laut: Alle paar Minuten schlängeln sich Motorräder durch, Hundegebell vermischt sich mit Reggaeton aus einem Lautsprecher. Unter einem großen Baum steht ein Tisch mit weißen Klappstühlen. Dort sitzen Carmen Trejo, Marta Elizalde, Natalia Lara, Norma Piñon, Paz Gutiérrez und Adolfo Lara. Auf dem Tisch liegen Stoffreste und alte Zeitungen, denn die Gruppe bietet regelmäßig Recycling-Workshops für Kinder an. Vier Kinder kommen diesmal zum Basteln, sie bemalen Pappschachteln mit bunten Farben. Das hat auf den ersten Blick nichts mit dem Wassermangel zu tun – auf den zweiten aber schon, denn es stärke den Zusammenhalt in der Nachbarschaft, erklärt Natalia Lara.

Organisierung zeigt Wirkung

Auf den Druck der Gruppe hin haben die Behörden neue Brunnen in Coyoacán gebaut. Mit der Zeit hat Acción Comunitaria immer mehr Informationen über die Wasserinfrastruktur in ihrem Viertel gesammelt und eine Karte der Brunnen erstellt. Inzwischen haben die Aktivist*innen außerdem ein Regelwerk erarbeitet – für Zeiten, in denen es lange kein Wasser gibt. Natalia Lara erläutert: „Wir gehen dann durch die Straßen, um zu sehen, wie es um die Brunnen bestellt ist. In letzter Zeit gibt es zum Beispiel mehr Bauvorhaben und Neubauten. Wir schauen das Verteilungssystem genau an, denn wir stellen fest, dass die Immobiliengesellschaften uns in den Arbeitervierteln das gesamte Wasser wegnehmen. Also machen wir uns die Arbeit, nachzuforschen. Wenn wir dabei feststellen, dass wir mit unseren Vermutungen Recht haben und klar wissen, was unsere Forderungen sind, dann organisieren wir uns, rufen zu Demonstrationen auf oder treten mit der Regierung in Kontakt.”

Dass sich mehr Frauen als Männer gegen den Wassermangel organisieren, ist laut Paulina Uribe nicht nur in Santa Úrsula Coapa so: „In fast allen Umweltbewegungen sind es die Frauen, die sich am meisten beteiligen und für diese Rechte kämpfen.” Den meisten Frauen sei bewusst, dass es eine ungerechte Belastung ist und wenn sie könnten, engagierten sie sich in sozialen und kollektiven Kämpfen, um die Rollenverteilung zu verändern und die Aufgaben gerechter zu verteilen. Das allein reiche aber nicht, findet Paulina Uribe. Damit sich etwas ändert, müssten auch Männer und Entscheidungsträger verstehen, wie wichtig es ist, die Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit in allen Bereichen miteinzubeziehen. Um die Rollenverteilung zu ändern und damit die Arbeitsbelastung zwischen Männern und Frauen fairer zu verteilen, ist in den Augen von Paulina Uribe Bildung das wichtigste Instrument: „Wir müssen neue Narrative schaffen, durch Bildungsprogramme, aber auch massive Kommunikationskampagnen, in denen wir alle diese Geschlechterrollen in Frage stellen.”

Konkrete politische Maßnahmen, um das Problem der Geschlechterungleichheit beim Thema Wasser anzugehen, fehlten aber bislang, sagt Uribe. Zwar gebe es sehr breit angelegte Programme, die darauf abzielen, die Wasserinfrastruktur zu verbessern und zu sanieren. Die Regierung der Stadt investiere aber vor allem in technische Verbesserungen – die sozialen Ungleichheiten würden dabei bislang nicht adressiert.

Auf der Plaza de la Solidaridad dämmert es inzwischen, die Aktivist*innen klappen die Stühle zusammen, räumen die Bastelsachen auf und tragen den Tisch weg. Für heute. Nächsten Freitag werden sie wieder hier sein und für ihr Wasser kämpfen. Davon, dass sich das Dranbleiben lohnt, ist Carmen Trejo überzeugt: „Es ist schwierig, aber wir gehen Schritt für Schritt. Ich glaube an die Magie des Sandkorns: Dass wir mit jedem kleinen Stückchen, das wir tun, vorankommen.”


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TANTE ISABEL SUCHT EINE BLEIBE

Übte offen Kritik an Konventionen Die Sängerin Chavela Vargas (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Es war ein ganz normaler Tag im Leben des Umweltanwalts Paul Chaverri – damals, vor 28 Jahren. Da stand plötzlich seine Nachbarin Yisela Ávia Vargas mit ihrer Tante vor der Tür. Sie tranken Limonade zusammen, erzählten sich die Neuigkeiten aus dem Ort und Paul fragte nach ihrem Anliegen. Tante Isabel war gerade aus Mexiko heimgekehrt und suchte eine Bleibe in der Nähe ihrer Familie, in der beschaulichen Gemeinde (Kanton) Flores vor den Toren San Josés, der Hauptstadt Costa Ricas. Bevor die beiden Damen wieder gingen, überschaute die Tante Pauls weitläufiges, grünes, fast unbebautes Grundstück am Fluss. „Wenn ich wählen könnte“, sagte sie, „würde ich gerne auf einem solchen Grundstück alt werden“. Don Paul bewegt dieses Ereignis bis heute. Denn er wusste damals nicht, dass besagte Tante die berühmte Sängerin Isabel „Chavela“ Vargas war. Zwei Schlüsse zog er aus diesem Treffen: „Erstens, was für ein kulturloser Idiot ich war, Chavela Vargas nicht erkannt zu haben“, er lachte. „Und zweitens, was für eine schlichte Person sie eigentlich war.“ Im Oktober 2022, also 28 Jahre später, und zehn Jahre nach ihrem Tod im August 2012, ernannte das costa-ricanische Parlament jene Isabela „Chavela“ Vargas zur Benemérita de las Artes Patrias, zur verdienstvollen Künstlerin des Landes.

Berühmt wurde Isabel „Chavela“ Vargas gleich zweimal. Erst machte sie sich vor allem als Ranchera-Sängerin im Mexiko der 1960er Jahre einen Namen. Damals verkehrte sie mit den größten Künstler*innen der Zeit wie Cantinflas, Gabriel García Márquez, Elizabeth Taylor, Picasso, Ava Gardner oder Grace Kelly. Zwei Jahre lebte sie bei Diego Rivera und Frida Kahlo. Allerdings geriet die Karriere der extravaganten Dame nach und nach ins Stocken, da eine starke Alkoholsucht und der Machismo im Musikgeschäft ihr größere Engagements verwehrten. Dann, in den frühen 1990er Jahren, wurde sie eher zufällig wiederentdeckt. Zunächst gewann sie der deutsche Regisseur Werner Herzog für eine Rolle in seinem Film Cerro Torre. Anschließend verhalfen ihr der spanische Regisseur Pedro Almodóvar und der Sänger Joaquín Sabina zu einem fulminanten Comeback als Sängerin und Schauspielerin. Vargas’ Oeuvre umfasst geschätzt 40 Schallplatten und sechs Filme.

Neben ihren Erfolgen spielt der kulturhistorische Hintergrund ihres Lebens eine entscheidende Rolle für die Ernennung zur Ehrenbürgerin von Costa Rica. Die Abgeordnete Ada Acuña erklärte während der Abstimmung, die Ehrenbürger*innenwürde stehe stellvertretend „für all jene Künstlerinnen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, um als solche anerkannt zu werden“. Denn Chavela Vargas teilte das Schicksal zahlreicher vor allem weiblicher Kunstschaffender im Costa Rica des frühen 20. Jahrhunderts, die zur freien Ausübung ihrer Talente meist nach Mexiko auswanderten, darunter auch die heute als „Nationaldichterin“ gefeierte Carmen Lyra. „Diese großen Geister kämpften zuerst gegen ihre Heimat an, da sie nicht in die Grenzen der alten Traditionen passten“, kommentiert die Philologin und Vargas-Expertin Sonia Jones Leon diesen Ausbruch mit Blick auf die engmaschigen Institutionen Staat und Kirche im Costa Rica der 1930er und 1940er Jahre. Und so begründet auch die ehemalige progressive Abgeordnete Paola Vega ihre Initiative zur Ehrung von Isabel Vargas nicht nur damit, dass sie als „eine der wichtigsten Referenzen der lateinamerikanischen Musik, die in Costa Rica geboren wurde“ zähle, sondern auch „als eine Revolutionärin gegen den Machismo und die Homophobie ihrer Zeit.“

Ranchera singen, trinken, rauchen Chavela Vargas (Mitte) spaltet das recht konservative Costa Rica bis heute (Foto: Paul Chaverri & Ana Castro)

Denn was Chavela Vargas von anderen Künstler*innen ihrer Generation unterschied, war zweifelsohne die Radikalität ihres artistischen Ausdrucks. Schon in ihrer Jugend fiel sie in ihrem ländlich geprägten und streng konservativen Heimatort durch ihre rebellische und sonderbar maskuline Art auf. Als Tochter von Kaffeebauern lernte sie früh lesen und schreiben. „Aber anstatt sich auf ihre Zukunft als verheiratete Hausfrau vorzubereiten, folgte das junge Mädchen den Landarbeitern zu den Cantinas, jene verruchten Kneipen, in denen Schnaps getrunken und Gitarre gespielt wurde, das beeinflusste sie zweifelsohne“, erzählt Ana Castro, costa-ricanische Aktivistin für Gleichstellung, Musikerin der Band Claroscuro und Bekannte Chavelas.

Chavela Vargas als „eine Revolutionärin gegen den Machismo“

In einem Land, in dem es nicht einmal schicklich war, dass Frauen Gitarre spielten, trug Vargas entgegen der Konvention Hosen und Hut, jagte in ihrer Freizeit mit einem Revolver die Schlangen in den Kaffeeplantagen und kokettierte mit den Gerüchten über ihre gleichgeschlechtlichen Zuneigungen, indem sie Liebeslieder für Frauen sang. In jener Zeit wurde sie damit schnell zur Ausgeschlossenen. Weder in der traditionellen Gesellschaft noch in der mächtigen katholischen Kirche oder ihrem um Contenance bemühten Elternhaus war Platz für sie. „Es muss schrecklich für sie als queere Person gewesen sein“, kommentiert Ana Castro die Situation, „in der Dynamik eines Dorfes provoziert so etwas tägliche Beschimpfungen, Isolation und Scham innerhalb der eigenen Familie. Ich bin mir sicher: Wenn sie nicht geflohen wäre, hätte sie sich das Leben genommen.“ Mit 17 Jahren „floh“ Chavela über Kuba nach Mexiko. Dort führte sie einen noch exzentrischeren Lebensstil. Sang sie doch ausgerechnet die „Männermusik“ der Ranchera, trank, rauchte und wirkte aktiv mit an ihrem Legendenstatus, in dem sich die Wahrheit und das Phantastische immer mehr miteinander vermengten. Irgendwo zwischen den gefühlsüberladenen Welten ihrer Lieder, dem magischen Realismus der lateinamerikanischen Avantgarde jener Zeit und ihrem ungebrochenen Freiheitssinn entstanden Chavelas symbolreiche, poetische und interpretationsoffene Schilderungen ihres Lebens. Deshalb sind viele Ereignisse nach wie vor nur vage nachzuzeichnen, ihre Lebensdaten voller Unklarheiten und Widersprüche.

Dieses radikale Ausbrechen aus jeder gesellschaftlichen Ordnung und die offene Kritik an jeglichen Konventionen passt nicht in das noch immer etwas spießige Flores mit seinen alteingesessenen Familien. Bis heute wird Chavela Vargas in der Gemeindegeschichte mit keinem Wort erwähnt. Und auch dem Rest des Landes sind derartige Eskapaden eher fremd. Die Ernennung Chavela Vargas zur Benemérita wurde daher zum Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Der evangelikale Parlamentsabgeordnete Fabrizio Alvarado fasste die öffentliche Meinung bei der Begründung seiner Ablehnung etwa so zusammen: „Frau Vargas hatte keine Verbindung zu unserem Land, vielmehr leugnete und zweifelte sie unsere Kultur und Gewohnheiten an. Sie hat sich immer als Mexikanerin verstanden (…) und zudem äußerte sie sich unvorteilhaft negativ über ihr eigenes Vaterland, öffentlich und eindeutig.“ Ana Castro wundert diese Ansicht wenig. „Die Kritiker*innen sind letztendlich die gleichen Menschen, die sie damals aus ihrer Heimat vertrieben haben, sie ließen sie nie zur Ruhe kommen. Nur diese Leute hat sie direkt angegriffen. Und sie hatte alles Recht dazu! Chavela hat Costa Rica nie gehasst, sie war oft und gerne hier. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“

„Chavela hat Costa Rica nie gehasst. Sie fühlte sich nur nie wirklich zu Hause hier.“


Auch Paul Chaverri stieß auf mächtigen Widerstand, als er versuchte, die Beziehung zwischen Chavela und Costa Rica neu zu interpretieren. Auf seinem weitläufigen Grundstück in Flores hat er eine kleine Bühne – und er nutzt sie gerne, um sich mit Musiker*innen zu umgeben. Bei Recherchen mit besagter Nichte stießen sie zudem auf den vollständigen Nachlass von Chavela: ihre Gitarre, Ponchos, Fotos, signierte Bücher und sogar ihre Kinderschuhe. Die Idee war geboren, gemeinsam mit dem Musikkollektiv Sonamos Latinoamérica ein mehrtägiges Festival zu organisieren. Neben Konzerten sollten auch Workshops über lateinamerikanische Musik stattfinden. „Costa Ricas Schulden bei Chavela und Chavelas Schulden bei Costa Rica“, lautete das Motto. Es kamen Künstler*innen aus ganz Lateinamerika, um auf dem Festival zu spielen.

Während das mexikanische Kulturinstitut in Costa Rica dieses Vorhaben unterstützte, regte sich im Gemeinderat von Flores schnell hartnäckiger Widerstand. Die Idee, Musikworkshops für die Schüler*innen anzubieten, wurde umgehend untersagt. Ein öffentliches Konzert in der Turnhalle der lokalen Schule sollte einige Stunden vor der Aufführung auf Eis gelegt werden. Sogar die Polizei war vor Ort – ein sehr seltener Anblick im friedlichen Costa Rica. Angeblich verstoße das Konzert als Großveranstaltung gegen die Hygieneauflagen in der Coronapandemie. Ein zähes Argumentieren und Verhandeln war die Folge, das Konzert stand auf der Kippe. Künstler*innen aus Argentinien, Ecuador und anderen Ecken des Kontinentes wunderten sich über diesen harschen Widerstand der Gemeinde gegen die Würdigung einer seiner lateinamerikaweit gefeierten Töchter. Es ist dem beherzten Einsatz des Schulleiters zu verdanken, dass die Veranstaltung mit 50 Teilnehmer*innen im letzten Moment stattfinden konnte. Große Aufmerksamkeit erregte das Festival nicht. Das liegt wohl auch am Coldplay-Konzert, das zeitgleich im Nationalstadion stattfand – vor 20.000 Menschen. Als deren Sänger zum Abschluss des Großevents das patriotische Lied „Patriótica Costarricense“ sang, wurde das Konzert als Sternstunde der costa-ricanischen Kultur gefeiert. Don Paul lacht verächtlich, wenn er die Geschichte hört und nennt sein in den vergangenen 28 Jahren kaum verändertes Grundstück samt Bühne im Herzen der Gemeinde nun offiziell „Kulturzentrum Chavela Vargas“. Trotzdem sind sich Paul und seine Mitstreiter*innen sicher, dass es noch eine Weile dauern wird, bis Isabel Vargas in Costa Rica eine sichere Bleibe findet.


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ÜBERKOCHENDE MILCH

Foto: Berlinale

Eine Frau, Rosa, bestreitet den Lebensunterhalt für die Familie. Sie kümmert sich um ihre Kinder, um ihre Eltern, um den Haushalt. Ihrer eigentlichen Berufung als Theaterautorin kann sie nicht nachgehen. Stattdessen arbeitet sie als Werbetexterin für Badkeramik, während von ihrem Mann, der ständig auf Forschungsreisen fährt, „um den Urwald zu retten“, kaum Unterstützung zu erwarten ist. Kein Wunder, wenn da mal die Milch auf dem Herd überkocht, während die vorpubertäre Tochter mit ihrer Mutter einen Streit ausficht.

Rosa ist Ende 30 und lebt mit ihrer Familie in São Paulo. Sie ist unglücklich über ihren Beruf und überfordert von den vielen Aufgaben. Ihr Mann beklagt sich über zu wenig Sex, bringt von sich aus aber kein Verständnis für Rosas Situation auf. Ein Eheleben, wie es der heutigen Gesellschaft entspricht? Es ist ihre eigene Frauengeneration, mit der sich Regisseurin Laís Bodanzky in ihrem vierten Spielfilm beschäftigt. In einer sehr natürlichen Form schildert sie die Konflikte ihrer Protagonistin Rosa mit sich selbst und ihrem Umfeld. Eine plötzliche Enthüllung ihrer Mutter bringt sie dann so sehr aus dem Gleichgewicht, dass sie die Rollenverteilung in ihrer Familie in Frage stellt.

Schon am Anfang des Films kündigt ein Gewitter, das die versammelte Großfamilie beim Essen im Garten überrascht, die Krise in der bisherigen Konstellation an. Die Kamera bleibt für einen Moment auf den verwaisten, regenüberströmten Tisch gerichtet. Ebenso ruhig hält sie später vor dem aufsteigenden Qualm einer Zigarette im Aschenbecher inne. Stillleben wie diese sind die besonderen ästhetischen Momente des Films, eine Unterbrechung des lauten, quirligen, von allen Seiten Aufmerksamkeit fordernden Lebens. Dem Publikum von Como nossos pais offenbart sich nach und nach, welche Einstellung zu diesem Leben sich die gleichzeitig so normalen und so einzigartigen Charaktere des Films erworben haben. Allein Rosa ist diejenige, die sich auf die Suche begibt, Neues ausprobiert und dabei zum Beispiel in einem Vater aus der Klasse ihrer Tochter einen zugewandten Zuhörer findet. Ja, Como nossos pais sei tatsächlich vom berühmten Songtitel der Sängerin Elis Regina, „Königin“ der Música Popular Brasileira“, inspiriert, allerdings nur von der bittersüßen Melodie und nicht vom Text, räumt Bodanzky ein. Die Suggestivformel „wie unsere Eltern“ lässt sich indes nicht wortwörtlich darauf übertragen, dass Mutter und Tochter einander sehr ähneln würden. Die beiden zanken sich fortwährend, bis Rosa ihrer Mutter einmal recht und diese prompt zu verstehen gibt: „Da habe ich ja endlich mal was richtig gemacht.“ Ein Perspektivenwechsel, der die Frage aufwirft, warum Rosa sich fortwährend von ihrer Mutter provoziert fühlt.

Die Verbindung der beiden Frauen liegt offensichtlich mehr als im Charakter in ihrem Bedürfnis, sich nicht ein Leben lang für die Familie aufzuopfern und äußeren Bestimmungen zu fügen – ganz wie moderne Seelenverwandte von Ibsens Nora, auf die der Film wiederholt Bezug nimmt. Rosas Mutter, nikotinsüchtig, selbstbewusst, beinahe extravagant, ist zufrieden mit ihrem auch nicht makellosen Leben. Sie hat sich irgendwann von ihrem Mann scheiden lassen, dem liebenswerten, aber permanent mittellosen Künstler, der es immer wieder schafft, sich von den Frauen aushalten zu lassen. Ist es ein Zeichen von Stärke oder von Schwäche, die eigenen Bedürfnisse für die der anderen hintanzustellen? Was gilt umgekehrt für den Ausbruch aus den gefestigten Verpflichtungen? Am Ende von Como nossos pais entpuppt es sich, dass Vertrauen füreinander die unerlässliche Basis ist, um in der Beziehung die nötigen Kompromisse zwischen Familie, Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung zu schließen.


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