DIE BEWEGUNG DER FRAUEN
Die Journalistin Marcela Turati über den Umgang mit Gewalt in Mexiko
MARCELA TURATI ist unabhängige Journalistin und beschäftigt sich seit langem intensiv mit Gewalterfahrungen und deren Auswirkungen auf Einzelne und die mexikanische Gesellschaft. Sie ist Mitgründerin des Netzwerkes Periodistas de a Pie (Journalisten auf den Beinen), einer Organisation welche die Qualitätsverbesserung des Journalismus in Mexiko zum Ziel hat. Für ihre Arbeit wurde sie mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Auf der Internetseite www.adondevanlosdesaparecidos.org gibt es eine interaktive Karte zu Fundorten von Verschwundenen, welche Frau Turati auf der Konferenz vorstellte.
Seit über einem Jahrzehnt berichten Sie über das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko, dabei betonen Sie die besondere Rolle von Frauen bei der Suche nach ihren Angehörigen. Was sind Ihre Erfahrungen als Journalistin?
Als ich im Jahr 2008 anfing mich mit der Gewalt in Mexiko zu beschäftigen, fiel mir auf, dass es immer Frauen waren, die sich organisierten, die auf die Straße gingen für die Ermordeten und heute auch für die 40.180 Verschwundenen. Wir Journalistinnen sind heute ebenfalls organisiert. Die Männer sind eingeladen, machen aber nicht mit oder sind in traditionellen Organisationen engagiert. In den neuen Kollektiven sind vor allem Frauen. Wir arbeiten zusammen mit Anthropologinnen, Psychologinnen, Anwältinnen und begleiten die Kollektive von Müttern auf der Suche nach ihren Angehörigen, wenn sie demonstrieren, Veranstaltungen organisieren oder wenn sie versuchen Gesetze zu ändern und die UNO oder den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Überall sind es Frauen. Für mich war das sehr beeindruckend, ich war bis dahin überhaupt keine Feministin.
Warum nehmen die Männer nicht teil?
Es gibt Männer. Als sich die Bewegung das erste Mal zeigte, war an der Spitze ein Mann, der Dichter Javier Sicilia (im Jahr 2011, Anm. d. Red.). Er hat einige weibliche Attribute. Es gibt auch ein paar Ausnahmen, aber die Frauen sind beständig da und organisieren sich.
Doch wir stellen uns die gleiche Frage. Was ich oft gehört und gesehen habe, ist, dass der Mann sich um die wirtschaftlichen Angelegenheiten kümmert, damit die teure Suche nach Verschwundenen finanziert werden kann. Er geht zur Arbeit und unterstützt sie damit. Für viele Frauen ist die Suche selbst zur Arbeit geworden. Ein anderer Zusammenhang ist der, dass Männer insgesamt häufiger Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen und Morden sind. Eine Mutter kann einem Auftragsmörder gegenüber treten oder um Erlaubnis bitten ein Gebiet zu betreten ohne derartiges zu provozieren. Mit der Anwesenheit eines Mannes stellt sich dagegen die Frage, wer die Kontrolle hat. Bei den regelmäßigen Treffen der Bewegungen gibt es eine sehr weibliche Dynamik, es wird auch geweint, dieser Teil fällt den Männern sehr schwer. Auf die ein oder andere Art nehmen sie also teil, aber nicht bei der regelmäßigen kollektiven Organisierung.
Wie schaut die mexikanische Gesellschaft auf die Frauenkollektive, welche nach ihren Angehörigen suchen?
Teil der Gewalt ist eine Stigmatisierung. Ob Mord oder Verschwindenlassen, ob Journalist oder wer auch immer, wenn sie dich umbringen oder dich verschwinden lassen, dann weil du etwas gemacht hast. Das ist es, was die Menschen glauben wollen und was die Regierung unterstützt: Die Bösen morden nur untereinander, also macht euch keine Sorgen.
Klar begann man zu sehen, dass es so nicht ist. Bei vielen Opfern ist das „Warum?“ ungeklärt. Und es gibt keine Justiz, die diese Frage stellt. Die Straflosigkeit in Mexiko liegt bei 98 Prozent, die Verbrechen werden von niemandem aufgeklärt. Deshalb hat das Narrativ auch lange funktioniert, bis heute. Obwohl es so viele Verschwundene gibt und es sehr wahrscheinlich ist, dass du jemanden davon kennst. Die Menschen beginnen zu sehen, dass das jedem passieren kann. Sie können dich verschwinden lassen für das Tragen eines Tattoos, weil sie denken du bist in einem Kartell. Das kann passieren, wenn jemand in einer anderen Region unterwegs ist, zum Beispiel in Sinaloa aber aus Michoacán stammt und dann angenommen wird, dass derjenige vom dortigen Kartell ist. Oder wenn eine Gruppe von Männern, Migranten oder Touristen mit einem gemieteten Truck unterwegs ist, die dann verdächtigt wird, zu einem verfeindeten Kartell zu gehören. Das haben wir sehr viel erlebt, bei Studenten oder Bauern und anderen. Es gibt also viele Möglichkeiten, dass etwas passiert. Jeder kann verschwinden.
Ich sehe, dass es Menschen gibt die darauf reagieren. Und ich würde gerne sagen, dass die mexikanische Gesellschaft sich dessen bewusst ist. Aber ich glaube es nicht. Es scheint eine gefährliche Normalisierung einzutreten. Wir erleben ständig diese Momente des Horrors und mir scheint, die Menschen sind jedes Mal etwas mehr daran gewöhnt: ‘Das passiert nun mal in Mexiko, es ist außer Kontrolle’. Ich sehe die Solidarität nicht, dass Menschen die Mütter auf der Suche nach ihren Verschwundenen unterstützen, mit ihnen auf die Straße gehen.
Im Jahr 2011 gab es die große Bewegung mit Javier Sicilia.
Das hat viel Aufmerksamkeit erregt. Als die Menschen das erste Mal im Fernsehen davon erfuhren und sahen, dass Präsident Calderón sich mit der Bewegung traf, wurde ihnen bewusst dass es überhaupt Verschwundene gibt. Mit Ayotzinapa (43 im Jahr 2014 verschwundene Student*innen, Anm. d. Red.) wurden sie wieder daran erinnert, weil die Bewegung sehr stark war. Es scheint mir aber, dass dies nicht zu den Prioritäten der Leute gehört.
Ähnlich ist es mit den ermordeten Journalisten. Diejenigen, die sich der Rolle des Journalismus bewusst sind, sorgen sich. Die Mehrheit ist jedoch weder solidarisch noch denkt sie darüber nach, es wird zur Normalität.
Welche Maßnahmen ergreifen Journalist*innen um sich zu schützen?
Das kommt darauf an, in welcher Region du arbeitest und was du recherchierst. Einige Dinge haben sich geändert, zum Beispiel wie wir an die Informationen der Polizei kommen. Früher sind wir zum Tatort gefahren, haben uns einfach Notizen gemacht und mit der Polizei gesprochen. In den Regionen wo es heute gefährlich ist, geht niemand mehr allein zum Tatort. Es gibt ein Netzwerk von Beobachtern, die darauf achten, dass alle zusammen rein und wieder raus gehen. Manchmal kann die Nachricht nicht veröffentlicht werden, weil Anrufer ihnen das sagen oder die Journalisten das so einschätzen. Für manche Zonen erstellen wir Sicherheitsprotokolle, eins ist dafür da, sich in regelmäßigen Zeitabständen zu melden, bleibt der Anruf aus, wird nach der Person gesucht. Es gibt vieles. Wir informieren uns über die neuesten Apps und so weiter.
Gibt es Hilfe von der Regierung und hat die neue Regierung von López Obrador etwas geändert?
Ich denke es ist noch zu früh dazu etwas zu sagen. Seit Obrador Präsident ist, ist die Zahl der ermordeten Journalisten exponentiell gestiegen. Es gibt zwei verschiedene Register, eins sagt es wären 17, das andere 9 ermordete Journalisten. Das hängt von der Methode der Erhebung ab, wir haben darüber eine interne Diskussion. Manche sagen, es sollten nur die gezählt werden, die wegen ihrer Arbeit umgebracht werden.
Die Regierung sagt, sie würde sich um die Presse kümmern, aber wir sehen verschiedene Dinge, die uns Sorgen machen. Zum Beispiel hält Obrador jeden Morgen eine Pressekonferenz ab und alle paar Tage spricht er dabei von der Presse als dem Feind. Er spricht von einigen bestimmten Medien, aber er verspottet sie. Wenn sie eine Frage stellen, sagt er, sie würden lügen. Er leugnet die Informationen, die ihm nicht passen, streitet sich mit den Journalisten, die er nicht mag oder droht ihnen. Es ist sehr schlecht in einem Land, in dem so viele Journalisten umgebracht werden, den Präsidenten dabei im Fernsehen zu sehen, wie er sie beschimpft. Das ist wie eine Einladung für andere Politiker, uns zu beschimpfen. Obrador mochte die Presse noch nie, vor allem die, die er konservativ nennt, betrachtet er als Feinde. Er erkennt die Arbeit der Medien nicht an und fühlt sich angegriffen. Obrador befasst sich mehr mit Baseball als mit dem Schutz von Jounalisten.
Sie schreiben viel über jegliche Art von Gewalt, welche Form der Sprache benutzen Sie?
Manchmal fehlen mir die Worte. Die Perioden der Gewalt wiederholen sich immer wieder. Ich versuche die Sprache der Narcos nicht zu kopieren, das wäre sehr einfach und ist verbreitet unter Journalisten. Wenn die Mafia zum Beispiel einen Platz in der Stadt besetzt, wird das in deren Ausdrücken wiedergegeben, die das verharmlosen oder legal aussehen lassen. Wenn jemand verschwunden gelassen wird, wird stattdessen gesagt, die Mafia habe ihn ‘hochgenommen’. Das nimmt den Taten das Gewicht. Auch die Regierung verwendet bestimmte Begriffe in dem Zusammenhang, wie ‘kollaterale Opfer’ für im Kreuzfeuer erschossene Menschen. Wir diskutieren auch darüber, ob wir das Wort ‘Kartell’ benutzen oder nicht, denn das ist eine Konstruktion der Regierung. Was ist mit den organisierten kriminellen Banden, die sich nicht unter diesen Begriff fassen lassen?
Eine lange Zeit habe ich Zeugenaussagen aufgeschrieben, um zu erzählen was passiert ist, welche Auswirkungen die Gewalt auf die Familie und die Gemeinde hat, was die Täter und Opfer denken. Heute bin ich damit beschäftigt Daten aus Statistiken auszuwerten und sie mit den Regionen in Verbindung zu bringen. Das hilft mir Zusammenhänge zu verstehen und über die Einzelfälle hinaus zu gehen. So habe ich für meine Berichterstattung verschiedene Untersuchungsmethoden angewendet.