DIE ANDEREN VERSCHWUNDENEN
Das Verschwindenlassen von Menschen spielt im öffentlichen Diskurs in Mexiko eine immer größere Rolle, doch die Regierung reagiert nur halbherzig
„¡Hijo, escucha, tu madre está en la lucha!“ („Kind, hör zu, deine Mutter kämpft“) – immer wieder hallt der Schlachtruf durch den Innenhof des Stadtmuseums. Wo sonst Besucher*innen in andächtiger Stille Relikte aus der 700-jährigen Geschichte der mexikanischen Hauptstadt bewundern, drängen an diesem kalten Mittwochmorgen dutzende Reporter*innen und Schaulustige auf die wenigen freien Plätze im Hof des Museums. Transparente, Plakate und Bilder von verschwundenen Personen zieren jeden freien Zentimeter der Innenfassade des barocken Kolonialgebäudes.
Es ist der 9. September 2015, kurz vor dem ersten Jahrestag des Verschwindens der 43 Studenten aus Ayotzinapa. Zu hunderten sind sie gekommen – einzelne Familienangehörige, Vertreter*innen von Opferkollektiven und Nichtregierungsorganisationen – um den vergessenen Opfern des Drogenkrieges eine Stimme zu geben. Sie sind wütend und enttäuscht darüber, dass die Schicksale ihrer Familienangehörigen und Freund*innen weiterhin mit Resignation hingenommen werden, obwohl die Massenentführung in Iguala das Thema endlich auf politischen Agenda Mexikos katapultiert hatte. Der Anlass für die medienwirksame Protestveranstaltung ist der neueste Tiefschlag, den die Demonstrant*innen hinnehmen mussten: In kafkaesker Manier arbeitete die mexikanische Regierung einen Gesetzentwurf zum gewaltsamen Verschwindenlassen (Ley general de desaparición forzada) aus – eigentlich ein wichtiges Zugeständnis der Regierung an die Betroffenen. Er entstand auf Druck von Opferverbänden wie der Bewegung für den Frieden um den Dichter Javier Sicilia (s. LN 445/446) und wurde bereits in der Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Felipe Calderón erstellt. Die Ausarbeitung des Entwurfs geschah allerdings ohne die Zivilgesellschaft auch nur ein einziges Mal zu konsultieren. Nicht eine der 35 Opfer- und 41 Nichtregierungsorganisationen vor Ort war nach ihrer Meinung gefragt worden. Niemand durfte seine Geschichte erzählen, die zumeist von einem Klima der Angst und der Untätigkeit lokaler Behörden handelt. Im schlimmsten Fall waren Politiker*innen und Polizeibeamt*innen selbst in das Verschwinden ihrer Mitbürger*innen verstrickt, deren Schutz auf körperliche Unversehrtheit sie eigentlich garantieren sollten.
Wie ist es möglich, dass heute, 30 Jahre nach dem Ende der rechten Militärdiktaturen in Lateinamerika, Menschen systematisch entführt, gefoltert und getötet werden können, ohne dass die Regierung eine Antwort auf diese Menschenrechtsverletzungen findet und diese auch noch mit zu verantworten hat? Was hat es auf sich mit dieser rohen, von Gewalt durchdrungenen Welt, die sich im toten Winkel des wirtschaftlichen Aufstiegs Mexikos ausgebreitet hat wie ein Krebsgeschwür? Welche Schicksale ereilen die Angehörigen, die abseits des Medienrummels um die verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa für ihre vermissten Familienmitglieder kämpfen?
Seit dem Fall Ayotzinapa ist die Problematik der Verschwundenen in Mexiko präsenter denn je. Die Porträts neuer und alter Verschwundener sind überall zu finden – in den sozialen Netzwerken, in Zeitungen und im Straßenbild. Dies bedeutet nicht, dass auch auf staatlicher Ebene nach ihnen gesucht wird. Allerdings zeigt sich, dass der Druck auf die Regierung seitens der Zivilbevölkerung immer größer wird.
Die Vereinten Nationen gehen von 27.000 verschwundenen Menschen in Mexiko aus – aller-dings ist unklar, ob diese Personen Opfer von gewaltsamem Verschwindenlassen unter Beteiligung staatlicher Akteur*innen wurden, ob sie durch nichtstaatliche Akteur*innen verschwunden worden sind und wie viele Menschen aus freien Stücken ihren Wohnort verlassen haben. Allerdings lässt die Tatsache, dass die Generalstaatsanwaltschaft (Procuraduría General de la República, PGR) bei ihrer Suche nach den verschwundenen Studenten allein in der Region um Iguala rund 60 Massengräber fand, vermuten, dass die Mehrheit der Verschwundenen nicht auf Strandurlaub in Cancún ist. Mittlerweile werden einige Teile Mexikos in diplomatischer Rhetorik als „Räume begrenzter Staatlichkeit“ bezeichnet, um damit subtil auf das Fehlen des staatlichen Gewaltmonopols hinzuweisen. Die Profile der Betroffenen sind vielfältig, niemand kann sich wirklich sicher sein, nicht eines Tages verschwunden zu werden. Der öffentliche Diskurs hat sich verändert: während es einst üblich war, davon auszugehen, dass Verschwundene in illegale Machenschaften verwickelt gewesen sein müssen – frei nach dem Motto „algo habrán hecho“ („irgendetwas müssen sie ja getan haben“) – ist mittlerweile offensichtlich, dass es jede*n treffen kann – auch Kinder. Was mit den Opfern passiert, ist nicht immer so klar, wie es die vielen Massengräber vermuten lassen. Auch Menschenhandel, Prostitution und Zwangsarbeit sind lukrative Geschäfte.
Nur selten scheinen die mexikanischen Behörden ihre Ermittlungen darauf auszurichten, die Wahrheit darüber herauszufinden, was passiert ist. Die Situation ist paradox: Strafrechtliche Untersuchungen werden in der Regel von lokalen Institutionen durchgeführt. Diese haben aber kaum Interesse daran, gegen ihre eigenen Bediensteten zu ermitteln – obwohl in der überwiegenden Anzahl der nachgewiesenen Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen Teile der lokalen Exekutive involviert waren. Folglich beschränken sich die Behörden darauf, wenig brauchbare Maßnahmen einzuleiten, die zumindest den Anschein ernsthafter Ermittlungen und rechtsstaatlicher Prinzipien vortäuschen sollen.
Xalapa, die Hauptstadt des Bundesstaats Vera-cruz, im März 2016. Die Stadt der Blumen, wie sie genannt wird, ist eines der Epizentren der Gewalt in der Region. Ángeles Fernández pendelt zwischen der südöstlich gelegenen Provinz und der 300 Kilometer entfernten Landeshauptstadt. Auch sie demonstrierte am 9. September im Stadtmuseum von Mexiko City. Ángeles ist eine der zahlreichen Aktivist*innen, die ihr Leben der Suche nach den Vermissten gewidmet haben. Sie ist eine elegante, zierliche Frau mit den Gesichtszügen eines Menschen, der schon früh viel gearbeitet hat. Es wird schnell deutlich, dass Ángeles zu denjenigen gehört, die ihre Worte mit Bedacht wählen. Sie hat diese abwägende, wohlüberlegte Art, die vielen Leuten eigen ist, die ihren Kampf vor allem mit Worten und der Macht der Sprache führen. „In Xalapa“, erzählt sie, „beruhen alle relevanten Informationen auf Ermittlungen, die von den Familien und den Opferkollektiven bereitgestellt wurden. Die Beweise werden von Angehörigen zusammengetragen, die Opfer eigenständig gesucht.“
Man sieht es Xalapa nicht an. Die Stadt unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von anderen in der Gegend. Doch gleich drei Kartelle kämpfen hier um die Vorherrschaft: Los Zetas, Jalisco Nueva Generación und das Golf-Kartell. Die Grenzen zwischen organisierter Kriminalität und lokalen Eliten sind oftmals fließend, die Korruption hoch. Wer sich auf die Suche nach der Wahrheit macht, wird schnell zum Ziel von Repressalien. Ángeles und ihre Mitstreiter*innnen halten diese Hürden nicht auf. Sie zeigt die lange Liste mit den Namen von Vermissten aus Veracruz – 950 Personen sind es momentan. Unentwegt berichtet sie von dem langen Weg, den sie noch vor sich haben: „Die Opfer und ihre Angehörigen müssen eine angemessene Entschädigung erhalten, die ihnen die Wiederherstellung ihrer verletzten Rechte erleichtert.“ Es brauche einen systematischen Mechanismus zur Kontrolle des Ermittlungsstandes sowie Sanktionierungsmöglichkeiten bei Untätigkeit der Behörden, meint Ángeles. Bisher sei keine dieser Forderungen umgesetzt worden. Es gäbe noch nicht einmal eine einheitliche Liste aller Verschwundenen in Mexiko, geschweige denn ein strafrechtlich verfolgbares Delikt für gewaltsames Verschwindenlassen. Dazu kommt noch, dass der Etat der PGR für die Spezialeinheit zur Suche von verschwundenen Personen für 2016 um 30 Prozent reduziert wurde. Im März dieses Jahres veröffentlichte Amnesty International einen Bericht aus dem deutlich wird, dass der Staat nicht den Eindruck vermittelt, das Problem in den Griff kriegen zu wollen. Die Mutter eines Verschwunden fasste das Verhalten der Behörden in einem Satz zusammen: „Eine gleichgültige Behandlung, wie ein weiteres Stück Papier, denn das sind die verschwundenen Personen für sie, eine weitere Akte, die sie abheften.“
Veracruz ist landesweit trauriger Spitzenreiter, wenn es um gewaltsames Verschwindenlassen geht. Erst am 11. Februar 2016 wurden hier fünf junge Menschen von lokalen Polizeikräften gemeinsam mit Mitgliedern des Kartells Jalisco Nueva Generación entführt und umgebracht. Das Opferkollektiv El Solecito de Veracruz, dem auch Ángeles angehört, hat allein zwischen 2010 und 2013 zwanzig Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen dokumentiert. „Das gewaltsame Verschwinden eines Menschen verletzt nicht nur die Rechte der Opfer, sondern auch die ihrer Angehörigen“ sagt Ángeles. Ein Aspekt, der oftmals vergessen wird: Der Grad der Betroffenheit durch das Verschwinden naher Angehöriger ist so gravierend und tiefgreifend, das von einer Verletzung der persönlichen Unversehrtheit gesprochen werden muss. Darüber hinaus sehen sich viele Angehörige ernsthaften wirtschaftlichen Problemen ausgesetzt, da sie sich durch die Suche nach den Verschwundenen ihren Anstellungen nur noch in geringem Maße widmen können. Besonders schwerwiegend wird es, wenn die verschwundene Person Geldschulden hatte, die nun von den Verwandten getragen werden müssen. Ángeles erklärt, dass viele Familien vor dem Ruin stünden, weil ihnen die finanziellen Mittel ausgingen. Die momentane Gesetzgebung sieht keinerlei Rechtsschutz für eine solche Situation vor.
Seit dem Beginn des Drogenkrieges unter Präsident Felipe Calderón im Jahr 2006 hat sich das Phänomen des gewaltsamen Verschwindenlassens in nahezu allen Teilen des Landes ausgebreitet. Selbst wenn der mexikanische Staat seiner Pflicht nachkäme und ausführliche Suchen nach den Verschwunden durchführte, die Fakten untersuchte sowie für eine angemessene und umfangreiche Entschädigung der Opfer bürgte, würde das Verschwinden von Personen auch zukünftig voraussichtlich nicht verhindert werden. Sinnvolle Lösungsansätze gibt es zwar, allerdings liegen wesentliche Ursachen des gewaltsamen Verschwindenlassens außerhalb des Einflussbereichs der mexikanischen Politik – zum Beispiel im Verbot von Drogen in den USA und Europa. Erst diese Prohibitionspolitik ermöglicht die astronomischen Gewinne, mit denen die Kartelle ihre militärische Aufrüstung und das Netzwerk von Korruption und Bestechung finanzieren.
Vor diesem Hintergrund finden Forderungen nach einer Liberalisierung des Drogenkonsums ihre Berechtigung. Doch wird allein ein Paradigmenwechsel der Drogenpolitik nicht ausreichen, da die Kartelle ihre Einnahmequellen bereits stark diversifiziert haben. Manche Gruppierungen verdienen mehr Geld mit Aktivitäten wie Menschenhandel, Erpressung, Waffenschmuggel und Produktpiraterie als mit dem Drogengeschäft. Weiterhin haben einige Organisationen wie das Sinaloa-Kartell des mittlerweile verhafteten „El Chapo“ riesige Summen ins Ausland oder in die legale Wirtschaft des Landes transferiert. Wenn es gelänge, diese Vermögen einzufrieren, könnte eine tiefgreifende Schwächung des organisierten Verbrechens in Mexiko realisiert werden. Dies allerdings scheitert oftmals am politischen Willen der Eliten, denn die Netzwerke aus legalen Unternehmen tragen einen erheblichen Teil zur mexikanischen Wirtschaft bei und finanzieren nicht zuletzt den Wahlkampf von Politiker*innen. Es handelt sich um einen Teufelskreis: Da die Kontrolle über die staatlichen Akteur*innen nur bei ihnen selbst liegt, ist im Falle des gewaltsamen Verschwindenlassens keine Strafe zu erwarten, da kaum Beweise existieren werden. Somit sind die Fälle nur sehr schwer zu erfassen und werden verdrängt, da keine Statistiken aufgestellt werden. Ein weiteres Problem, auf das die Regierung reagieren müsste, ist die chronische Unterbezahlung von Beamt*innen auf kommunaler Ebene. Einfache Polizist*innen erhalten monatlich rund 400 Euro. Sind sie parallel auch noch für ein Kartell tätig, verdienen sie ein Vielfaches ihres Polizei-Lohnes. Doch auch die Angst vor den Kartellen zwingt viele Angestellte zum Mitspielen. Wer sich weigert, ist der ständigen Gefahr ausgesetzt erpresst, bedroht, verschwunden oder ermordet zu werden. Die mexikanische Regierung schätzt, dass sich mehr als die Hälfte der lokalen Polizeikräfte im Land von Drogenbanden bezahlen lässt. Zudem ist der Erfolg der Kartelle auch der Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher geschuldet. Trotz verbesserter Bildungschancen ist der soziale Aufstieg nur für Wenige möglich und eine Tätigkeit für das Organisierte Verbrechen ist weitaus lukrativer als alle legalen Alternativen. „Lieber fünf Jahre leben wie ein König als 50 Jahre wie ein Ochse“ lautet das durchaus nachvollziehbare Kredo vieler junger Menschen in den Armenvierteln der Großstädte und auf dem Land.
Es wird deutlich: Das Problem des gewaltsamen Verschwindenlassens in seiner unheimlichen Komplexität zu erfassen und realistische Lösungen zu formulieren gleicht einer Sisyphos-Arbeit. Die mexikanische Politik scheint angesichts dieser Verantwortung in einem Lethargie-Zustand zu verweilen. So befindet sich das Gesetz zum gewaltsamen Verschwindenlassen, das am 6. Januar dieses Jahres hätte verabschiedet werden müssen, noch immer in der Schwebe. Es soll nun in einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses im Juni verabschiedet werden. Als sei das nicht schon genug, hat die Interdisziplinäre Expert*innengruppe der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zur Untersuchung der Massenentführung von Iguala bei der Präsentation ihres Abschlussberichts am 24. April der mexikanischen Regierung mangelnde Kooperationsfähigkeit und eine Blockadehaltung zu ihren Ermittlungen konstatiert. Auch Ángeles war bei der Vorstellung des Berichts anwesend, um wieder zu demonstrieren. „Das Gefühl der Ohnmacht und der Schmerz sind schlimm“, erklärt sie, „aber die Ignoranz der Behörden wiegt fast noch schlimmer“. Sie hat ihre beiden Töchter verloren.