RÜCKSCHLAG FÜR GUAIDÓ

Aussicht vom alten Militärmuseum: Die kontrastreiche Skyline von Caracas (Foto: John M Shorack)

Es waren brachiale Bilder. Bei dem Versuch, die Einfuhr von Hilfsgütern zu erzwingen, kam es an den Grenzen Venezuelas am 23. Februar zu schweren Ausschreitungen. Tausende Freiwillige hatten im kolumbianischen Cúcuta mehrere Lastwagen bis zur Grenze begleitet, wo das venezolanische Militär unter dem Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen jedoch ein Weiterkommen verhinderte. Auf der kolumbianischen Seite ließen die Sicherheitskräfte derweil auch Protestierende gewähren, die mit Steinen und Molotowcocktails ausgestattet waren. Laut schwer zu überprüfenden Medienberichten wurden fast 300 Menschen verletzt, zudem brannten zwei Lastwagen aus. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Hilfsgüter bewusst in Brand gesetzt zu haben. In der venezolanischen Stadt Santa Elena de Uairén an der Grenze zu Brasilien erlitten laut der venezolanischen Nichtregierungsorganisation Foro Penal 34 Protestierende Schussverletzungen, mindestens vier Menschen starben. Demon­stra­tionen von Regierungsanhänger*innen und der rechten Opposition in Caracas blieben hingegen friedlich.

Guaidó und die USA betrachten die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für einen regime change

Seit Wochen hatte der selbsternannte Interimspräsident Juan Guaidó den 23. Februar zum Tag der Entscheidung hochstilisiert, an dem die humanitäre Hilfe „unter allen Umständen“ ins Land kommen solle. Er selbst und Vertreter der US-Regierung forderten die venezolanischen Soldat*innen nahezu täglich dazu auf, die Hilfsgüter passieren zu lassen und drohten andernfalls mit Konsequenzen. Laut Informationen der kolumbianischen Migrationsbehörde desertierten seit dem 23. Februar mehr als 400 Militärs – angesichts von bis zu 200.000 aktiven Soldat*innen eine überschaubare Zahl. Das Kalkül der rechten Opposition bestand darin, dass die Regierung am Ende gewesen wäre, wenn venezolanische Militärs sich massenhaft den Befehlen Maduros widersetzt hätten. Dieser hatte die vermeintliche humanitäre Hilfe als „Show“ bezeichnet, die das alleinige Ziel verfolge, einer militärischen Intervention das Feld zu bereiten. Um die schwierige Versorgungslage zu verbessern, fordert Maduro stattdessen die Aufhebung der US-Sanktionen, die das Land ein Vielfaches der von den USA in Aussicht gestellten Hilfsgüter kosten. Tatsächlich machen Guaidó und die US-Regierung kaum einen Hehl daraus, dass sie die humanitäre Hilfe vor allem als Hebel für den von ihnen angestrebten regime change in Caracas betrachten. Sowohl die Vereinten Nationen als auch das Rote Kreuz hatten aufgrund der Politisierung der Hilfe im Vorfeld eine Beteiligung an der Aktion abgelehnt.

Straßenszene in Caracas Einkaufen an einem Samstagmorgen (Foto: John M Shorack)

Auf medialer Ebene tobt nun ein Kampf um die Interpretation der Bilder und Ereignisse, bei dem Guaidó klar im Vorteil ist. Einen Monat nach seiner Selbstausrufung zum Interimspräsidenten steht er dennoch weitgehend mit leeren Händen da. Zwar hat er die Rückendeckung der USA, mehr als 50 weiterer Regierungen – darunter der meisten EU-Staaten – sowie gewichtiger Teile der venezolanischen Bevölkerung. Kompetenzen als Interimspräsident übt er bisher jedoch nur außerhalb Venezuelas aus. Laut dem Verfassungsartikel 233, der die absolute Abwesenheit des Staatspräsidenten behandelt und auf den sich Guaidó maßgeblich beruft, hätten innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen stattfinden müssen. Der Umsturzversuch droht sich somit in die Liste der glücklosen Versuche der letzten Jahre einzureihen, Maduro zu stürzen. Spätestens wenn sich das Gefühl durchsetzt, dass die rechte Opposition wieder einmal unrealistische Erwartungen geweckt hat, dürften die internen Streitereien erneut aufbrechen und Guaidó wäre am Ende. Er muss also um jeden Preis die Spannung hochhalten, damit der oppositionelle Protest nicht wieder einschläft. Bei einem Treffen von Guaidó mit US-Vizeminister Mike Pence und den Außenminister*innen lateinamerikanischer Staaten der so genannten Lima-Gruppe wurde am 25. Februar aber deutlich, dass es anscheinend gar keinen Plan B gibt. Sowohl die US-Regierung als auch Guaidó haben sich offensichtlich verschätzt, indem sie davon ausgingen, das venezolanische Militär würde zeitnah die Seiten wechseln. Zudem vernachlässigen sie, dass Maduro keineswegs nur die Militärführung, sondern noch immer mehrere Millionen Anhänger*innen hinter sich hat. Hinzu kommt ein Teil der Bevölkerung, der sich als chavistisch versteht und die rechte Opposition ablehnt, ohne aber offen die Regierung zu unterstützen.

Mit dem Scheitern der medienwirksam inszenierten Hilfsaktion wächst die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation des Konfliktes weiter. Laut US-Regierung liegen nach wie vor „alle Optionen auf dem Tisch“, das heißt auch eine mögliche Militärintervention. Guaidó hat mittlerweile die US-amerikanische Formulierung übernommen. Innerhalb Lateinamerikas stößt ein mögliches militärisches Eingreifen aber selbst bei rechten Regierungen weitgehend auf Ablehnung, die Lima-Gruppe sprach sich vorerst dagegen aus. Die USA wollen nun weitere Sanktionen beschließen und die Maduro-Regierung wirtschaftlich in die Knie zwingen. Bereits Ende Januar hatte Trump erstmals Sanktionen verhängt, die direkt die Öllieferungen aus Venezuela in die USA treffen. Die Einnahmen landen seitdem auf einem Sperrkonto, auf das Guaidó Zugriff bekommen soll. Leidtragende des immer zynischer ausgetragenen Machtkampfes ist somit in erster Linie die venezolanische Bevölkerung, deren Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten sich voraussichtlich weiter verschlechtern wird. Unklar ist, ob die USA auch ohne Rückendeckung in der Region militärisch eingreifen würden. Wenn es nach der Rhetorik der Hardliner um Präsident Trump herum geht, fehlt dazu nur noch ein konkreter Anlass. Vor allem US-Außenminister Mike Pompeo, der Senator für Florida, Marco Rubio und der nationale Sicherheitsberater von Trump, John Bolton, drohen der Regierung Maduro unverhohlen ein gewaltsames Ende an. Bolton stellte dem venezolanischen Präsidenten einen Aufenthalt im US-Gefangenenlager Guantánamo in Aussicht, Rubio twitterte ein Bild des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi, das ihn kurz vor dessen Ermordung im Jahr 2011 zeigt. Als Sondergesandter für Venezuela dient mit Elliott Abrams zudem ein alter antikommunistischer Haudegen, der in den 1980er Jahren in die Unterstützung von Todesschwadronen in Zentralamerika und die illegale Finanzierung der nicaraguanischen Contras verwickelt war.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen kaum durch. Und es deutet einiges darauf hin, dass Venezuela nur der Anfang sein soll. Sicherheitsberater Bolton spricht mittlerweile in Anspielung auf die von George W. Bush vor Jahren als „Achse des Bösen“ bezeichneten Länder Irak, Iran und Nordkorea von einer „Troika der Tyrannei“. Gemeint sind Venezuela, Kuba und Nicaragua. Die Lage ist vor allem deshalb so gefährlich, weil es in Venezuela bisher keine Anzeichen für eine mögliche Verhandlungslösung gibt. Dass so viele Staaten Guaidó anerkannt haben, der de facto überhaupt keine Macht über den staatlichen Sicherheitsapparat ausübt, ist nicht nur völkerrechtlich höchst fragwürdig. Es führt auch dazu, dass auf internationaler Ebene nur wenige Akteure wie Mexiko und Uruguay glaubhaft auf einen Dialog hinarbeiten könnten. Damit verstärkt sich die Dynamik des Alles oder Nichts, des unbedingten Willens beider politischer Lager, sich gegen das jeweils andere durchzusetzen. Dies aber kann nicht zu einer tragfähigen Lösung der venezolanischen Krise führen. Weder wird Maduro einfach wie bisher weitermachen und die Krise aussitzen können, noch die rechte Opposition nach einem Umsturz gegen den chavistischen Teil der Bevölkerung regieren können.

Auch innerhalb Venezuelas dringen mäßigende Stimmen bisher kaum durch. Aus den Reihen der linken Maduro-Kritiker*innen der Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung stammt ein Vorschlag, mittels Wahlen und der Neubesetzung der staatlichen Gewalten eine demokratische Lösung der Krise auszuhandeln. Um die dafür nötigen Schritte demokratisch zu legitimieren, solle zunächst ein laut Verfassung mögliches verbindliches Referendum stattfinden. In der Bürgerplattform haben sich mehrere ehemalige Minister*innen unter Chávez sowie kritische linke Akademiker*innen und Aktivist*innen zusammengeschlossen, darunter der bekannte Soziologe Edgardo Lander. Für Kritik innerhalb des chavistischen Spektrums sorgte allerdings ein Treffen mit Guaidó, bei denen Mitglieder der Plattform ihm ihren Vorschlag präsentierten. Der frühere chavistische Bildungsminister Héctor Navarro betonte anschließend, dass die Bürgerplattform Guaidó lediglich als Parlamentspräsidenten anerkenne und den Vorschlag des Referendums ebenso Maduro unterbreiten wolle. Dieser reagierte allerdings nicht auf den Vorstoß. Innerhalb der venezolanischen Linken kontrovers zu diskutieren ist zurzeit ohnehin kaum möglich, Kritik an der Regierung wird meist in die rechte Ecke gestellt. Die wichtigste linke Nachrichtenseite und Debattenplattform Venezuelas, aporrea.org, bei der sowohl Regierungs­anhänger­*innen als auch linke Kritiker*innen Maduros publizieren, wird in Venezuela seit Wochen vom staatlichen Internetanbieter CANTV blockiert. Eine Begründung dafür gibt es nicht.

„Zusammen mit Maduro gestaltet das Volk Zukunft” Wandbild in Caracas (Foto: John M Shorack)

Eine weitere Eskalation könnte bereits kurz bevorstehen. Denn seit dem 22. Februar, als er in Cúcuta ein unter dem Motto „Venezuela Aid Live“ organisiertes Konzert besuchte, befindet sich Guaidó außer Landes. Da er sich damit einem gerichtlich verhängten Ausreiseverbot widersetzte, könnte er bei der Wiedereinreise festgenommen werden. Maduro betonte bereits, dass sich Guaidó in diesem Fall „der Justiz stellen muss“. Der selbsternannte Interimspräsident zeigte sich zunächst unbeeindruckt. „Ein Gefangener bringt niemandem etwas, aber ein exilierter Präsident auch nicht“, versicherte er und kündigte seine baldige Rückkehr an. Eine Inhaftierung komme einem Staatsstreich gleich und werde seitens der Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft „eine beispiellose Antwort“ nach sich ziehen, drohte Guaidó. Nicht bekannt ist, welche Garantien er für diesen Fall seitens der US-Regierung erhalten hat. Aber bis auf Weiteres liegen alle Optionen auf dem Tisch.

 

ELN BOMBT SICH INS ABSEITS

Während die ELN selbst die über den Jahreswechsel vereinbarte bilaterale Waffenruhe eingehalten haben will, sollen die Regierungstruppen während des Stillstandes ihre Soldaten strategisch positioniert und ein ELN-Camp bombardiert haben. In ihrem Schreiben erklärt das Nationale Kommando der ELN den Angriff auf die Polizeiakademie zu einem „legitimen Akt der Selbstverteidigung“.
Mit dem Schreiben wird offiziell, was die Regierung unter Präsident Iván Duque bereits kurz nach dem Anschlag am 17. Januar behauptet hatte. Bei dem Angriff mit einer Autobombe starben 21 Menschen, darunter der Attentäter. 68 weitere Personen wurden verletzt. Duque erklärte kurz darauf die Friedensgespräche mit der ELN für beendet. „Es reicht, ELN – es reicht mit den Toten, es reicht mit Entführungen und mit Attentaten gegen die Umwelt. Kolumbien sagt euch: Es reicht!” sagte Duque in einer Fernsehansprache. Er forderte die Guerillagruppe zu konkreten Taten auf, wozu insbesondere die Freilassung von mehreren Geiseln aus der Gewalt der ELN zähle sowie ein Ende sämtlicher krimineller Handlungen. In den vergangenen 17 Monaten habe die ELN 400 terroristische Aktionen in 13 Bundesstaaten, mit 339 Opfern und mehr als 100 Toten verübt, so Duque. Er brachte die Guerilla auch mit der Welle ermordeter Menschenrechtsaktivist*innen in Verbindung, die Kolumbien seit Monaten erschüttert. Der Attentäter soll demnach ein Sprengstoffexperte der ELN mit engen Verbindungen zu mehreren Personen des Oberkommandos der Guerilla gewesen sein. Unter anderem soll er Verbindungen zu Gustavo Aníbal Giraldo Quinchía, alias „Pablito“, einem der größten internen Kritiker des Friedensprozesses zwischen ELN und Regierung gehabt haben. Ein weiterer Verdächtiger, der ebenfalls Mitglied der ELN sein soll, wurde später in Bogotá festgenommen.

„Es reicht“, sagen alle

Am Sonntag nach dem Attentat demonstrierten rund 35.000 Kolumbianier*innen in Bogotá für ein Ende der Gewalt und forderten: „Es reicht!“. Duque hatte sein Amt am 7. August 2018 mit der Ankündigung angetreten, den Prozess zu beenden, sofern die Guerilla nicht eine Reihe, aus Sicht der ELN unrealistischer Bedingungen, wie etwa einen einseitigen Waffenstillstand erfülle. Die im Zuge der Friedensgespräche ausgesetzten Haftbefehle gegen zehn Kommandanten der Guerilla würden ab sofort wieder in Kraft gesetzt, erklärte Duque. Er bat die internationale Gemeinschaft um die Festnahme der ELN-Führungsriege. Aktuell halten sich die Kommandanten in Kuba auf, wo sie auf die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen warten. Duque hatte diese seit seinem Amtsantritt ausgesetzt. Die Regierung ignorierte damit gleichzeitig einen Leitfaden, den die ELN gemeinsam mit der Vorgängerregierung von Juan Manuel Santos für einen möglichen Abbruch der Gespräche vereinbart hatte. Diese Protokolle sollten die Rückkehr der ELN-Kommandanten nach Kolumbien regeln.
Kuba erklärte, sich zu den Haftbefehlen gegen die ELN-Kommandeure zunächst beraten zu wollen: „Das kubanische Außenministerium wird sich streng an die Protokolle der Friedensverhandlungen halten, die von der Regierung und der ELN unterzeichnet wurden. Dazu zählt auch das Protokoll für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen. Das Ministerium berät sich mit anderen Garantiemächten. Kuba erklärt Kolumbien sein Beileid“, schrieb der kubanische Kanzler Bruno Rodríguez auf Twitter.
Der Senator Iván Cepeda und der Ex-Minister Álvaro Leyva baten derweil den kolumbianischen Hohen Kommissar für Frieden, Miguel Ceballos, in einer Erklärung darum, die bereits zwischen der Regierung Santos und der ELN vereinbarten Punkte anzuerkennen. Ceballos solle sämtliche Dokumente aus den Verhandlungen an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen übergeben. „Wir glauben, dass diese historischen Vereinbarungen, die mit viel Aufwand erreicht wurden, nicht verschleudert werden sollten“, sagte Cepeda. „Deswegen sollen, im Fallen eines neuen Friedensprozesses, die bereits vereinbarten Punkte und die gesammelten Erfahrungen die Basis für einen baldigen Frieden mit der ELN bilden.“ Dies sei möglich, weil im Gegensatz zu den Friedensverhandlungen mit den Revolutionären Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) nicht unter der Prämisse „Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist“, verhandelt worden sei, so Cepeda. Zu den Vereinbarungen zählen demnach unter anderem die Entminung von Gebieten in der Region Nariño, ein humanitäres Abkommen für die Region Chocó und eine Garantie für die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensabkommen.

Es gibt den Versuch, die schon getroffenen Vereinbarungen zu retten

Der UN-Sicherheitsrat verurteilte den Angriff auf die Polizeischule bei einer Sitzung Ende Januar und forderte die Regierung und die Guerilla auf, den Friedensprozess fortzusetzen. Auch die Mitglieder der politischen Partei FARC, die aus der entwaffneten ehemaligen Guerilla hervorgegangen ist, riefen die Verhandlungspartner zu weiteren Gesprächen auf. Der politische Rat der FARC erklärte zudem, er sei von dem Bekennerschreiben der ELN äußert überrascht und enttäuscht gewesen. Bis dahin hätte die Partei die Hoffnung bewahrt, dass hinter dem Attentat andere Täter*innen und Gründe steckten. Gleichzeitig forderte der Rat die Regierung jedoch auch dazu auf, die Protokolle für den Abbruch der Gespräche einzuhalten: „Der traurige Fakt, dass es sich um ein Attentat auf eine Polizeischule handelte, darf nicht dazu instrumentalisiert werden, die Tür vor zukünftigen Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zu verschließen“, so die FARC in einer offiziellen Mitteilung. Die FARC erklärten sich zudem bereit, zwischen Regierung und ELN zu vermitteln.

FARC bieten sich als Vermittler an

Im Gegensatz zu anderen Guerillagruppen ist die ELN basisdemokratisch organisiert. Einzelne Kommandos reagieren autonom und werden nicht durch die Führungsriege der Guerilla gesteuert. Daher kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Aktionen einzelner Kommandos, die den Friedensverhandlungen kritisch gegenüberstehen und diese nicht mittragen wollen.
Der Angriff auf die Polizeischule zeigt, wie umstritten der Friedensprozess innerhalb der Guerilla tatsächlich ist. Erschwert wird der Prozess durch die schleppende Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC. Seit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen FARC und kolumbianischer Regierung eskalierte die Gewalt gegenüber Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen in einigen Gebieten Kolumbiens. Mehr als 300 Aktivist*innen wurden seit der Unterzeichnung getötet, darunter auch unzählige bereits entwaffnete Angehörige der FARC. Entsprechend riskant erscheint ein einseitiger Waffenstillstand der ELN-Guerilla. In ihrem Bekennerschreiben forderte die ELN daher erneut eine dauerhafte gegenseitige Waffenruhe. „Präsident Duque, wir wollen betonen, dass der Weg des Krieges nicht die Zukunft Kolumbiens ist“, schreibt das ELN-Kommando. „Es ist der Frieden, deswegen erinnern wir daran, dass das Beste für das Land eine Fortsetzung der Gespräche wäre.“

 

DAS HORRORKABINETT DES HAUPTMANNS BOLSONARO

Die LN stellen das neue Kabinett in Brasília vor.

Die Chicago Boys, Anhänger der ultraliberalsten Schule der Wirtschaftspolitik, sind zurück! Superminister Paulo Guedes ist vehementer Anhänger Pinochets und sammelte fünf PhDs aus Chicago. Er propagiert klar Privatisierung, die Kürzung von Sozialausgaben und die Öffnung der Märkte. Paulo Guedes ist Liebling der Wirtschaft und der deutschen Unternehmen in Brasilien!

Die Lobbyist*innen, insbesondere des Agrobusiness, übernehmen gleich das Agrarministerium mit der „Muse der Pestizide“, Tereza Cristina. Chef des Bodenreforminstituts wird der Präsident des Grundbesitzerverbands UDR. Der Umweltminister Ricardo Salles, selbst in Prozesse verwickelt, geht sofort gegen Umwelt-NGOs vor und will Dienstleitungsverträge mit ihnen suspendieren. Er verspricht, schnell und flexibel zu agieren, und weniger Strafen für Umweltvergehen!

Die Militärs haben nun die für Infrastruktur, Wissenschaft und Technologie und Verteidigung wichtigen Ministerposten inne. Die Militärs beäugen die Privatisierungspläne von Guedes misstrauisch und widersprachen bereits dem Präsidenten sofort, als dieser mit der Idee kam, den USA Militärbasen in Brasilien anzubieten.

Der Sheriff, Richter Sérgio Moro, ist nun Justizminister und schon lange Liebling der hasserfüllten Mittelklasse und seit gut einem Jahr sprichwörtlicher Kerkermeister des Ex-Präsidenten Lula. Moro muss schon jetzt damit leben, dass der erste Korruptionsskandal um den Erstgeborenen von Bolsonaro (Flávio, oft kurz „01“ genannt) bereits jetzt bekannt wurde. Moro hat keine Erfahrung mit den umfangreichen Tätigkeitsfeldern eines Ministeriums, will sich aber an nordamerikanischen Erfahrungen inspirieren.

Die Lunáticos – Portugiesisch für die Bekloppten – sind nun das beste ideologische Spiegelbild der Denkstrukturen von Bolsonaro. Die evangelikale Pastorin Damares Alves (Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte) proklamiert: „Endlich ist die Kirche an der Macht“. Und weiter: „Ab sofort tragen die Mädchen rosa und die Jungs blau”. Ein Stipendium für vergewaltigte Frauen, die schwanger wurden, damit sie nicht abtreiben, gehört auch zu ihren Highlights. Und sie weiß, wie es so in den Niederlanden (?) läuft: „Die Eltern masturbieren dort ihre Babys“. Der Bildungsminister Ricardo Velez Rodriguez will endlich die Schul-Curricula vom Marxismus restlos säubern und natürlich: die Genderideoligie bekämpfen. Der Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta will die Aidsaufklärung aus den Schulen verbannen („Das Thema soll in den Familien besprochen werden“). Und nun die einsame Spitze: Außenminister Ernesto Araújo, dessen Feldzug gegen den kulturellen Marxismus (?) und seine besonders christliche Gottesfurcht bereits in der internationalen Presse ein dubioses Echo gefunden haben. Sein Vorbild: Präsident Trump sowie die Helden in Israel. Besonders wichtig: die europäische Erbschaft Brasiliens. Sein Feindbild: China (hier: Widerspruch der Lobbyisten!) sowie natürlich die Kommunisten allgemein, die Globalisten und überhaupt ist Klimawandel natürlich Humbug, gar eine Verschwörung. Brasilien müsse die Welt größer denken, nicht so kleingeistig „wie es der Philosoph Ludwig Wittgenstein“ vorgebe, die vorgefundene Welt zu akzeptieren, paraphrasiert er wild aus dem – vielleicht nie gelesenen, aber bestimmt nicht verstandenen – Tractatus Logico-Philosophicus, um kurz zu schlussfolgern: „I don’t like Wittgenstein.“ Eine finstere Gestalt, die Bolsonaro aus der unteren Hierarchie des Außenministeriums hervorgeholt hat.

Und zum Schluss nun der Mann mit dem Tatoo, Onyx Lorenzoni, der Schildträger Bolsonaros und nun sein wichtigster politischer Sprecher mit Sitz im Präsidialamt. Als herauskam, dass er für seine politische Kampagne Schwarzgeld annahm, bat er Bolsonaro um Entschuldigung (wurde angenommen) und ließ sich ein Bibel-Tatoo auf seinen Arm als Erinnerung an seine Sünden anbringen. Nur: Ein paar Wochen später wurden weitere illegale Zahlungen an ihn entdeckt – und jetzt munter das Ganzkörpertatoo anstreben?

 

EINE KARAWANE, DIE DEN ELITEN WEHTUT

Ein langer und beschwerlicher Weg Karavane auf dem Weg nach Tapachula (Foto: Martin Reischke)

Es ist nicht nur eine Karawane. Es ist ein soziales Phänomen, von tausenden verarmten Menschen getragen. Nur mit dem Nötigsten zum Überleben ausgestattet, und mit dem festen Willen, nach Norden in die USA zu gelangen.

Am Anfang wurde die Karawane mit dem Namen von Bartolo Fuentes verbunden, einem sozialen und politischen Aktivisten aus der Stadt El Progreso in Honduras. Fuentes sagte in einem Interview mit lokalen Medien, dass er die Karawane für ein paar Tage begleiten würde. Das hatte er als Journalist bereits im April 2017 getan. Da er außerdem noch Politiker der Oppositionspartei Libre ist, wurde Fuentes im Laufe der Tage zum Sündenbock. „Bartolo Fuentes ist für die Karawane verantwortlich. Er organisierte sie und veranlasste und manipulierte viele Menschen zu dieser gefährlichen Reise“, erklärte der Außenminister in Begleitung der Ministerin für Menschenrechte auf einer Pressekonferenz und forderte die Staatsanwaltschaft auf, gegen Fuentes vorzugehen. So lud das Regime alle Verantwortung auf einen Vertreter der radikalen politischen Opposition in Honduras ab.

Als die Karawane die Grenze nach Guatemala bei Aguascalientes überquerte, waren es bereits viertausend Menschen. Sie durchbrachen den Zaun, den die honduranische und die guatemaltekische Polizei am Grenzposten errichtet hatte. Auf dem Weg durch Guatemala wuchs die Zahl weiter an. Das honduranische Regime hat mit Mitteln der US-Regierung, zwischen dem 17. und 20. Oktober einen Plan umgesetzt, um die Migrant*innen zum Umkehren zu überzeugen. Einige Hundert taten das auch. Viele von ihnen wurden mit dem Bus zurückgebracht, andere auf dem Luftweg. Allen wurde sofortige Hilfe und ein Paket mit Sozialleistungen versprochen. Zeug*innen berichten, dass viele von ihnen Aktivist*innen der Nationalen Partei waren, die als Köder und für die offizielle Propaganda dienten. Nichtsdestotrotz steigen die Zahlen weiter an.

Die Explosion eines Dampfkochtopfes

Die honduranische Regierung beschuldigt die Opposition und kriminelle Gruppen für die Karawanen verantwortlich zu sein, mit dem Ziel der politischen Destabilisierung.

Dieser Anschuldigung schließt sich die US-Regierung an. Sie ging so weit, die Demokratische Partei zu beschuldigen. Sie stifte politische und kriminelle Gruppierungen und finanziere sie, damit die Migrant*innen in die USA eindrängen um die Regierung zu destabilisieren. Alle diese Anschuldigungen haben keine wirkliche Grundlage. Das Phänomen der Karawanen ist Ausdruck der Verzweiflung einer Bevölkerung, für die es zunehmend riskanter ist, in einem Land zu leben, das Arbeitsplätze und öffentliche Sicherheit verweigert. Diese Bevölkerung ist auf der permanenten Suche nach dem rettenden Ufer. Die Karawane ist wie die Explosion eines Dampfkochtopfes, den die honduranische Regierung in Verbindung mit einer kleinen Elite von nationalen und transnationalen Unternehmer*innen seit mindestens einem Jahrzehnt anschürt.

Eine Regierung, die die öffentliche Sozialpolitik aufgegeben und sie durch soziale Ausgleichsprogramme ersetzt hat, während sie ein Entwicklungsmodell konsolidiert, das auf Investitionen in die Rohstoffausbeutung und auf der Privatisierung und Konzessionierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen basiert.

Lügen werden in einer einzigen Aktion entlarvt

Die staatliche Verwaltung wird von einer Gruppe von Politiker*innen angeführt, die den Staat als ihr Geschäft verstehen und die öffentliche Einrichtungen geplündert haben, wie die honduranische Sozialversicherung, das Gesundheitssystem im Allgemeinen und die öffentliche Stromversorgung, um nur einige zu nennen. Und sie schützen sich selbst durch die politische Kontrolle des Justizsystems. Die Bevölkerung fühlt sich im Stich gelassen. Erfahrungen und Gefühle, die durch die Wahlen vom November 2017 noch zugenommen haben, als sich die Regierung unter Verletzung der Verfassung wiederwählte und sich einen Wahlsieg zusprach, der laut der Meinung von rund 70 Prozent der Bevölkerung das Ergebnis eines organisierten Betrugs ist. Die Karawanen sind ein Phänomen, das die Verzweiflung und Angst eines Volkes zum Ausdruck bringt, das aufgehört hat, an Lösungen innerhalb des Landes zu glauben. Sie sind ein extremer Ausdruck der Entscheidung der Bevölkerung, Gerechtigkeit in die eigenen Hände zu nehmen.

Mit Sicherheit ist aber besonders die extreme Rechte um Trump daran interessiert, dieses Phänomen zu nutzen, um den Kampf gegen Migrant*innen zu stärken, der ein grundlegender Teil ihrer Politik ist. Die Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten sind ein Barometer dafür, ob Trump eine zweite Amtszeit bestehen kann. Die Demokrat*innen der Finanzierung von Migration zu beschuldigen,war ein großartiges Argument für Trumps Wahlkampf im November. In Honduras haben wiederum Teile der Opposition dieses Phänomen genutzt, um die Regierung von Juan Orlando Hernández weiter zu schwächen. Hernández dagegen ist daran interessiert, die Opposition zu beschuldigen, für mehr Instabilität im Land zu sorgen.

Die stille, verborgene, diskrete, private, unsichtbare und sogar verschämte Karawane wurde in einer Explosion zu einer sichtbaren, öffentlichen und würdevollen Karawane. Dieses Phänomen hat den falschen Diskurs der Politik entlarvt und beweist das offizielle Versagen. Es hat deutlich gemacht, dass soziale Ausgleichsprogramme die Prekarität nicht nur nicht lösen, sondern vertiefen. Es hat sich gezeigt, dass eine Gesellschaft, in der nur 35 Prozent der formellen Wirtschaft angehören, nicht nachhaltig ist. Die Karawane ist Ausdruck und massives Phänomen eines Modells der systemischen sozialen Ausgrenzung.

Die Karawane, die am 13. Oktober startete und das Tor für nachfolgende Karawanen öffnete, rüttelte plötzlich die politischen und die Unternehmer*inneneliten wach, die daran gewöhnt waren, strikte Kontrolle über alles, was im Land passiert, zu haben. Die Wirtschaftseliten reagieren mit äußerster Aggression, wenn Menschen ihren Akkumulationsprozess behindern. Ein extremer Ausdruck davon ist die Ermordung von sozialen Anführer*innen, wie der Mord an Berta Cáceres im März 2016.

In gleicher Weise fühlen sich diese Eliten, die sich auf ihren Privilegien ausruhen, in ihrer Selbstliebe getroffen, wenn die Realität der Ausgeschlossenen mit einer einzigen Aktion ihre Lügen entlarvt. Dies hat die Karawane getan. Nachdem die Eliten und das Regime von Juan Orlando Hernández Millionen von Dollar in die Propaganda investiert haben, dass das Land auf dem richtigen Weg, die Wirtschaft gesund sei, dass die Menschen mit den Sozialprogrammen zufrieden seien, bricht die Karawane tausender Bürger*innen aus. Eine Nachricht, die Weltniveau erreicht. Das tut den honduranischen Eliten so weh, weil sie von jenen demaskiert werden, die es aus ihrer Sicht nicht verdienen, als gleichwertig betrachtet zu werden.

WARTET NUR BIS ZUM ERSTEN JANUAR

Für Demokratie und Frieden Protestveranstaltung in Olinda, Pernambuco am 21. Oktober 2018 (Foto: Claudia Fix)

Um 19:44 Uhr am 28. Oktober, wenige Minuten vor den ersten Hochrechnungen zum zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl, veröffentlichte die kürzlich gewählte PSL-Landtagsabgeordnete Ana Caroline Campagnolo einen Aufruf auf Facebook. Sie bat Studierende, „alle parteipolitischen oder ideologischen Äußerungen, die die Freiheit des Glaubens oder des Gewissens verletzen“ per Audio oder Video aufzunehmen. „Viele indoktrinierende Lehrkräfte lehnen den Sieg des Präsidenten Bolsonaro ab“, begründete sie den Appell. Auch ein Kontakttelefon für Denunziationen wurde in dem Post angegeben.

Die 28-jährige Geschichtslehrerin Campagnolo, Evangelikale und Tochter eines Militärs, die sich selbst als „anti-feministisch, konservativ, Christin und Rechte“ definiert, wurde mit diesem Aufruf schlagartig in ganz Brasilien bekannt. Während Bolsonaro-Anhänger*innen ihr Beifall zollten, unterzeichneten bereits am folgenden Tag 200.000 Menschen eine Online-Petition, die sich gegen die Einschränkung der Freiheit der Lehre richtete.

Auch wenn ein Gericht Campagnolo weitere Aufrufe dieser Art untersagt hat – und sich zwei weitere Gerichte mit dem Verhalten der Landtagsabgeordneten beschäftigen – ist dieser Versuch der gewaltsamen Durchsetzung eines rechten Diskurses alles andere als ein Einzelfall im Brasilien nach der Wahl. An der Universität des Landes Pernambuco (UFPE) kursierte in dieser Woche ein Flugblatt mit dem Titel „Indoktrinierende und Studenten, die 2019 aus dem Historischen Institut der UFPE verbannt werden“. Aufgelistet sind rund 20 Namen mit Zusätzen wie: „Kommunist, Chaot und schwule Sau. Verbreitet die Gender-Ideologie, studiert Homosexualismus in Gefängnissen.“ Oder: „Sozialist. Lehrt Soziologie, die den Gebrauch von Drogen entschuldigt, gemeinsam mit seinen linken Stipendiaten.“ Oder: „Feminazi, Kommunistin, die Transvestiten unterstützt. Verbreitet die Gender-Ideologie.“

Rund drei Millionen Euro für WhatsApp-Kampagnen

Eine Dozentin für Design an einer Universität, die anonym bleiben möchte, beschreibt die Folgen dieser Form von Stimmungsmache: „Der ganze Lehrkörper ist total verunsichert. Die Studierenden nehmen selbst zu Prüfungen ihre Handys mit und werden sie nicht im Unterricht abgeben. Die Leitung der privaten Universität ist rechts, von denen ist kein Schutz zu erwarten. Und meine Koordinatorin hat einfach so getan, als gäbe es die Hetzkampagnen gegen Lehrkräfte auf Facebook nicht, als ich sie ansprach. Anfang des nächsten Semesters steht das Thema Gender auf dem Lehrplan. Ich werde den Studierenden das Material vorab mailen, damit klar ist, dass es aus einem Lehrbuch stammt und nicht von mir.“

Der zukünftige Präsident Brasiliens hat während des Wahlkampfes keinen Zweifel daran gelassen, wer für ihn außerhalb des Schutzes durch die Verfassung und den Rechtsstaat steht. Außer den „linken Banditen“ hat er Gewerkschafter*innen, Schwarze, Homosexuelle, Indigene und auch Frauen, die nicht nach dem traditionellen Frauenbild leben, in seinen Reden „markiert“ und für die Verfolgung durch seine Anhänger*innen freigegeben. Ein Hauptschauplatz der Bedrohung und gewaltsamen Durchsetzung rechter Ideologie sind Schulen und Universitäten. Bereits im Wahlkampf kam es zu zweifelhaften Entscheidungen regionaler Wahlgerichte. Ein Transparent mit der Aufschrift „Mehr Bücher. Weniger Waffen“ musste aus der staatlichen Universität von Paraíba wegen illegaler Wahlwerbung entfernt werden.

Mit der Kampagne „Parteilose Schule“ eng verbunden ist der ehemalige Senator Magno Malta. Der Pastor der Igreja Evangélica Assembleia de Deus Vitória em Cristo war der Erste, der nach dem Wahlsieg von Bolsonaro das Wort an die brasilianische Bevölkerung richten durfte: „Die Fangarme der Linken werden ohne die Hand Gottes niemals herausgerissen werden“, sagte er vor dem Vaterunser, das Bolsonaros erste Ansprache an die Nation einleitete. Ein offensichtlicher Tribut des zukünftigen Präsidenten an die evangelikalen Kirchen, ohne die sein Wahlsieg nicht möglich gewesen wäre. Immer wieder wurde bei den sogenannten „Pfingstlern“ zu seiner Wahl aufgerufen, zuletzt in den Gottesdiensten vor dem zweiten Wahlgang – ohne jede Beanstandung durch die Wahlgerichte. Auch bei der – im Wortsinn – Verteufelung der Arbeiterpartei PT und den massiven WhatsApp-Kampagnen für Bolsonaro hatten die Evangelikalen einen entscheidenden Anteil. Malta selbst wird in den brasilianischen Medien als zukünftiger Familienminister gehandelt, von Bolsonaro allerdings bisher nicht bestätigt. Dieser bekräftigte nur, dass es ein Ministerium mit diesem Namen nicht mehr geben werde. Voraussichtlich wird das Familienministerium mit dem Sozialministerium und dem Sekretariat für Menschenrechte zusammengefasst werden, denn der PSL-Kandidat hatte vor den Wahlen eine drastische Reduzierung der Ministerien von 29 auf maximal 17 angekündigt. Gleich ganz streichen möchte er das Arbeitsministerium, das in „irgendein anderes Ministerium integriert werden soll“. Das Arbeitsministerium ist u.a. für das Verhältnis zwischen Gewerkschaften, Arbeiter*innen und Unternehmen, die Verfolgung von Sklaven- und Kinderarbeit sowie Programme zur Schaffung von Einkommen und Arbeitsplätzen verantwortlich. Als Agrarministerin ist Tereza Cristina da Costa Dias von der neoliberal-konservativen demokratischen Partei (DEMOCRATAS) nominiert, die wegen ihrer vehementen Verteidigung der Deregulierung des Einsatzes von Pestiziden auch als „Königin der Ackergifte“ bekannt ist.

Neuer Superminister für Justiz und Innere Sicherheit soll Bundesrichter Sérgio Moro werden. Dieser hatte den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva in einem äußerst umstrittenen Indizienprozess zu Gefängnishaft verurteilt und damit dessen erneute Kandidatur für die Präsidentschaft unmöglich gemacht. Im Vorwahlkampf hatte Lula da Silva in allen Meinungsumfragen immer einen deutlichen Vorsprung vor Bolsonaro – auch als er bereits in Haft war. Teilen wird sich Moro die Regierungsbank mit dem zweiten Superminister: Der Neoliberale Paulo Guedes soll für Wirtschaft, Haushalt und alles andere Ökonomische zuständig sein. In gleich zwei Verfahren wird gegen ihn wegen Investitionsbetrugs ermittelt.

Den evangelikalen Sender Rede Record, fünftgrößtes TV- und Radionetzwerk Brasiliens, geleitet von Edir Macedo Bezerra, Bischof der Pfingstkirche Igreja Universal do Reino do Deus, erkor Bolsonaro umgehend zu seinem Hofsender. Bereits im Wahlkampf gab er Record Exklusiv-Interviews, während er sich allen direkten TV-Duellen mit dem Gegenkandidaten Fernando Haddad entzog. Gedroht hat er dagegen dem Medienimperium O Globo, dessen Berichterstattung dem Kandidaten nicht positiv genug ausfiel. In einer improvisierten Pressekonferenz kündigte er O Globo vor seiner Wahl eine drastische Kürzung des Anteils an staatlichen Werbeausgaben an, ebenso wie der renommierten konservativen Zeitung Folha de S. Paulo. Beide Medien wurden zur ersten Pressekonferenz von Bolsonaro als gewähltem Präsidenten nicht eingeladen. Keine guten Aussichten für die Pressefreiheit.

„Möchten Sie reden? Tausche ein Stück Kuchen gegen ein Gespräch über Politik.“

Die Folha de S. Paulo hatte zehn Tage vor der Stichwahl eine Recherche veröffentlicht, nach der brasilianische Unternehmen mindestens 12 Millionen Reais (rund 3 Millionen Euro) in WhatsApp-Kampagnen investiert hatten. Über WhatsApp-Gruppen wurden täglich tausende Nachrichten verschickt, die den PT-Kandidaten Haddad diffamierten. Viele der Absender*innen hatten Konten in den USA oder in Europa, was das ohnehin schwierige Monitoring von WhatsApp durch die Wahlbehörden zusätzlich erschwerte. Nachdem Fernando Haddad nach der Veröffentlichung eine formelle Anklage beim Obersten Wahlgericht beantragt hatte, lud dieses zur Pressekonferenz. „Unsere Verfassung garantiert einen juristisch einwandfreien Prozess. Wir werden im geeigneten Moment eine angemessene Antwort erteilen“, erklärte die Oberste Richterin Rosa Weber eine Woche vor der Wahl. Mit der Entscheidung, ob es sich um eine illegale Wahlbeeinflussung gehandelt hat, wird nicht vor Mitte 2019 gerechnet.

Das Szenario in Brasilien sieht nach den Wahlen denkbar düster aus. Auch wenn Bolsonaro in seiner Antrittsrede versprach, die Verfassung zu respektieren, fühlen sich seine Anhänger*innen bereits jetzt ermächtigt, die Rechte ihrer „Gegner“ einzuschränken, was sich ebenso auf der Straße wie im Parlament ausdrückt. Sie treffen dabei allerdings auf eine Opposition, die in den letzten zehn Tagen vor dem zweiten Wahlgang in überraschendem Ausmaß gewachsen ist und zu einer neuen Einigkeit in der Verteidigung der Demokratie gefunden hat. Als deutlich wurde, dass die digitale Schlacht weitgehend verloren war, haben sich unzählige Menschen aufgemacht, in ihrem Umfeld oder im direkten Gespräch mit Unbekannten um jede einzelne Stimme zu kämpfen. „Unsicher? Möchten Sie reden?“ oder „Tausche ein Stück Kuchen gegen ein Gespräch über Politik“, lauteten die Angebote vor U-Bahnhöfen oder Shopping-Malls. Gleichzeitig fanden täglich Großdemonstrationen mit zehntausenden Menschen statt, die größte am 27. Oktober in Salvador de Bahia mit weit über 100.000 Teilnehmer*innen. Tatsächlich gelang es in mehreren Millionenstädten, wie São Paulo und Recife, das Stimmenverhältnis zwischen Haddad und Bolsonaro im Vergleich zum ersten Wahlgang umzukehren. Dass es am Ende für einen Sieg von Haddad nicht gereicht hat, ist besonders der Führungsspitze der PT vorzuwerfen, die völlig verantwortungslos die Kandidatur von Haddad zum letztmöglichen Zeitpunkt angekündigt hatte. Mit der Folge, dass mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten nach dem ersten Wahlkampf nicht einmal wusste, wer der Gegenkandidat zu Bolsonaro war. Auf der parlamentarischen Ebene – auf der es in den letzten Tagen vor der Wahl eine eher halbherzige, aber dennoch ausgesprochene Unterstützung verschiedener Parteien für den PT-Kandidaten Haddad gab – scheint die Bildung einer schlagkräftigen Opposition mit der PT als stärkster Partei in weiter Ferne. Um so wichtiger werden die Impulse aus den sozialen Bewegungen sein. Der Ruf nach resistência (Widerstand) ist jedenfalls in aller Munde.

MIT MILITÄR GEGEN UMWELTSCHUTZ

Die Region Bajo Aguán ist seit Jahren wegen eines Landkonflikts militarisiert. Was hat sich seit den Wahlen im November 2017 geändert?
Viele Kooperativen landloser Kleinbauern und -bäuerinnen haben ihren Widerstand gegen das Regime von Juan Orlando Hernández und dessen Wiederwahl in Form von Landrückgewinnungen deutlich gemacht. So kam es Ende des Jahres 2017 zu einer erneuten Welle von Besetzungen von Fincas, die die Firma Dinant unrechtmäßig nutzt. Dinant gehört zum Firmen­imperium einer der bedeutendsten Familien der honduranischen Oligarchie, Facussé. Einige dieser Landrückgewinnungen wurden vom Militär und der Militärpolizei gewaltsam geräumt, andere leben mit der ständigen Angst vor Räumung. In der Zeit der Proteste nach den Wahlen war die Region extrem militarisiert.

Es gab Tote. Wie rechtfertigt sich die Politik?
Mit Unterstützung der US-Botschaft richtete die Generalstaatsanwaltschaft eine Einheit zur Untersuchung der durch Gewalt verursachten Toten (UMVIBA) ein. Wir haben den Eindruck, dass die Einheit eher geschaffen wurde, um die Unternehmen und deren private Sicherheitskräfte, das Militär und die Polizei zu entlasten und ihr Image reinzuwaschen. Die UMVIBA führt sehr stark den Diskurs, dass die Mehrzahl der Toten durch interne Konflikte unter den Bauern- und Bäuerinnenbewegungen verursacht wurden und versucht in dieser Richtung zu untersuchen und zu ermitteln. Sie sind nicht neutral. Zudem werden die Untersuchungen sehr schnell und oberflächlich durchgeführt. Die Bewegungen und Organisationen haben kein Vertrauen in diese Institution.

Im Aguán-Tal kämpfen Kleinbäuerinnen und -bauern nicht nur um verlorenes Land, sie wehren sich auch gegen Bergbau. Worum geht es?
Im Landkreis Tocoa wurden bisher 34 Bergbaukonzessionen vergeben. Es handelt sich hierbei um Konzessionen für metallischen und nicht-metallischen Bergbau. Allerdings zählt der Abbau von Eisenoxid als nicht-metallisch, obwohl klar ist, dass es hierbei um Eisengewinnung geht. Unternehmen mit Konzessionen für nicht-metallischen Bergbau zahlen weniger Steuern als für metallischen Bergbau. Die Vergabe der Konzessionen war nicht transparent. Wir von COPA versuchen auf legalem Wege herauszubekommen, wie die Vergabe verlief und wir wollen auch die Umweltgutachten zu jeder Konzession sehen. Diese sind den Gemeinden nicht bekannt. Viele Gemeinden haben ihre Zustimmung zum Bergbau nicht gegeben. Der Sektor San Pedro beispielsweise umfasst 13 Gemeinden, die alle ihr Wasser aus dem Fluss San Pedro beziehen. Mit dem Bergbau wird die Wasserquelle verschmutzt. Deshalb haben sich die Gemeinden in einer Gemeindeversammlung gegen den Bergbau ausgesprochen. Dennoch ist auch dieser Sektor von Bergbau bedroht.

Die Gemeinden und Organisationen, wie COPA, die sich gegen Bergbau aussprechen, sind stark bedroht. Von wem gehen diese Bedrohungen aus und wie wirkt sich das auf die Gemeinden und ihre Arbeit aus?
Die Situation ist komplex. Etliche Gemeinden gehörten zum Einflussbereich von großen Drogenkartellen. Das Kartell Los Cachiros war direkt im Bergbaugeschäft mit circa zehn Konzessionen und in einer Gemeinde, in der wir arbeiten, tätig. Die Konzessionen wurden nach dem Auffliegen des Kartells nicht für illegal erklärt, sondern sind auf intransparente Weise an andere Unternehmen gegangen. Wir möchten herausbekommen, an welche Unternehmen, aber das ist nicht immer einfach.
In La Ceibita ist die Arbeit für uns besonders gefährlich. Hier hat das Unternehmen Inversiones Los Pinares die Konzession. Dieses Unternehmen gehört Lenir Pérez und Ana Facussé. Ana Facussé ist die Tochter des verstorbenen Miguel Facussé, der einer der Hauptverursacher des Landkonfliktes im Bajo Aguán ist. Wie viele weitere Konzessionen diese Firma besitzt, die erst im vergangenen Jahr den Namen gewechselt hat, wissen wir nicht genau.
Viele Auftragsmörder haben sich von den Bergbaugesellschaften anheuern lassen und agieren mit den gleichen Methoden, nun aber als private Sicherheitsunternehmen für Bergbaugesellschaften. Das heißt, dass sowohl die Bergbau­gegner und -gegnerinnen in den Gemeinden als auch wir sehr vorsichtig agieren müssen. Das sind jedoch nicht die einzigen, die unsere Arbeit behindern und uns und die Gemeinden bedrohen.

Wer sind die anderen Akteur*innen?
Einer der wichtigsten Befürworter des Bergbaus ist der aktuelle Bürgermeister Adán Fúnez von der Partei Libre. Er und der Kongressabgeordnete der Nationalen Partei, Oscar Nájero, haben starkes Interesse am Bergbau. Sie sind mitverantwortlich für die Intransparenz bei der Konzessionsvergabe. Von Angestellten des Rathauses gehen Bedrohungen gegen die Gemeinden und uns aus. Da wir auf der einen Seite Aufklärungsarbeit in den Gemeinden zu den Folgen des Bergbaus machen und andererseits auf legalem Weg die Konzessionsvergabe transparent machen möchten, haben wir sowohl die Unternehmen als auch den Bürgermeister gegen uns.

Was sind die größten Herausforderungen in der Arbeit in einer so konfliktreichen Region?
Eine unserer größten Herausforderungen ist die starke Zersplitterung in den Bauern- und Bäuerinnenbewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen. Der Staat betreibt die Spaltung bewusst, mit falschen Versprechungen, der Korrumpierung führender Persönlichkeiten, sowie mit Bedrohung, Einschüchterung und Morden.
Das größte Problem allerdings ist die ungeklärte Landfrage. Die staatliche Institution, die für die Landvergabe zuständig ist, das Nationale Agrarinstitut (INA), hat seit dem Putsch seine Arbeit enorm eingeschränkt. Sie unterstützen landlose Bauern und Bäuerinnen nicht bei der Gründung von Kooperativen und dem Landerwerb.
Während vom Landkonflikt nur die landlosen Bauern und Bäuerinnen betroffen sind, ist vom Bergbau die ganze Bevölkerung im Aguán-Tal betroffen. Die vom Bergbau verursachten Umweltverschmutzungen werden wir alle spüren. Deshalb ist unsere Arbeit in diesem Bereich wichtig

DIE WUNDE BLEIBT OFFEN

Foto: Policía Nacional de los Colombianos (CC BY-SA 2.0)

Feuchte, fast undurchdringliche Regenwälder bedecken die westliche Bergkette der kolumbianischen Anden. Wie eine Mauer trennen sie das Landesinnere von der 2.000 Kilometer langen pazifischen Küste. Hier dauert der bewaffnete Konflikt auch ein Jahr nach der Ratifizierung des Friedensabkommens zwischen der Regierung und den Bewaffneten Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) weiter an. Im Südwesten des Verwaltungsbezirks Nariño, nahe der ecuadorianischen Grenze, werden auf fast 25.000 Hektar Kokapflanzen angebaut. In der Hafenstadt Tumaco, der sogenannten Perle am Pazifik, werden mindestens 16 Prozent der jährlichen Kokainproduktion umgeschlagen. Von hier aus werden die Drogen auf kleinen Booten nach Zentralamerika und von dort aus in die USA und weiter nach Europa geschmuggelt.

Hier, im Gebiet der Afro-Gemeinde Alto Mira und Frontera, starben am 5. Oktober mindestens sieben Kokabauern bei einer Demontration. Der genaue Tathergang ist weiterhin unklar. Laut Aussagen der Demonstrierenden wollten mindestens 1.500 Bäuer*innen die Zwangsvernichtung ihrer Kokaplantagen durch die Truppen von Polizei und Armee verhindern. Zeug*innen berichteten, dass Einheiten der Armee wahllos auf die Menge geschossen hätten. Neben den sieben Toten wurden mindestens 19 weitere Menschen verletzt.

„Wir haben Angst. Die Armee und die Polizei sollen uns doch vor Terroristen schützen und nicht auf uns schießen“

„Wir haben Angst. Die Armee und die Polizei sollen uns doch vor Terroristen schützen und nicht auf uns schießen“, sagte eine Zeugin bei einem Gespräch mit dem Vizepräsident Oscar Naranjo. „Jahrelang lebten wir in Angst vor bewaffneten Gruppen, erst den FARC, dann den Paramilitärs, dann wieder Kleinkriminelle, und jetzt schießt auch noch die Polizei auf uns“, erzählte sie weiter.

Unmittelbar nach den Vorfällen machte die kolumbianische Regierung Dissident*innen der FARC für die Eskalation in Alto Mira verantwortlich. Die Polizei gab an, diese hätten fünf Sprengsätze in die Menge geworfen.
Der Wochenzeitschrift Semana zufolge sagten Gemeindemitglieder gegenüber dem kolumbianischen Ombudsmann aus, dass Teile der Truppen von Polizei und Militär versucht hätte, Spuren am Ort des Geschehens zu beseitigen. Drei Tage nach den Vorfällen verweigerte die Polizei der Aufklärungskommission der Vereinten Nationen, Abgeordneten des Bistums Tumacos und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft mit Warnschüssen und Tränengas den Zugang zu dem betroffenen Gebiet.

Laut einer vorläufigen Studie der Gerichtsmedizin wurden die Toten und Verletzten von Patronen eines Kalibers getroffen, dass ausschließlich von der Polizei und Armee benutzt wird. Ob die Soldat*innen tatsächlich geschossen haben, ist aber weiterhin unklar. Zum Einen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Diebstahls von vierzehn Gewehren diesen Typs in dem Gebiet. Außerdem entsprechen die ermittelten Schussbahnen nicht der Position der staatlichen Truppen. Vielmehr ergab die vorläufige ballistische Analyse, dass die Bäuer*innen von hinten getroffen wurden.

In Tumaco spitzt sich die Situation seit Beginn des Jahres immer weiter zu. Hier ist die staatliche strukturelle Vernachlässigung historisch, unzählige kriminelle und paramilitärische Gruppierungen operieren in dem Gebiet. Seit Januar kam es mehrfach bei Demonstrationen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kokabäuer*innen und Einheiten der mobilen Aufstandsbekämpfungseinheit (ESMAD). Immer wieder blockierten Kokabäuer*innen die einzige Verbindungsstraße zwischen Tumaco und Pasto, der Hauptstadt des Verwaltungsbezirks.

Die Anführer*innen der Gemeinde von Alto Mira und Frontera beklagen die bedrohliche Lage der Koka-Bäuer*innen in der Region, in der es zahlenmäßig die meisten Kokaplantagen in Kolumbien gibt.
Aus dem Protokoll eines Treffens zwischen Regierungsvertreter*innen und der Afro-Gemeinde in Alto Mira, das dem Onlineportal Verdad Abierta vorliegt, geht hervor, dass Mitte September eine unbekannte bewaffnete Gruppe die Kokabäuer*innen mit dem Tode bedroht haben soll, um sie als menschliche Schutzschilde zu benutzen und so das Eindringen der kolumbianischen Armee in Alto Mira zu verhindern.

Die lokalen Gemeindeführer*innen werden immer wieder zur Zielscheibe krimineller Gruppen. Der Aktivist José Jair Cortés etwa wurde am 17. Oktober tot aufgefunden – obwohl er unter dem Schutz des nationalen Programms für gefährdete Personen stand. Zuvor hatte er die Vorfälle in Alto Mira öffentlich gemacht.
Es war ein angekündigter Mord – und doch nur eine traurige Schlagzeile von vielen. Die Liste der gewaltsamen Auseinandersetzungen in Tumaco ist denkbar lang. Allein in diesem Jahr wurden in der Hafenstadt und den umliegenden ländlichen Regionen mindestens 150 Menschen ermordet.

„Die Kampagne der Regierung für die Vernichtung von Koka-Pflanzen zielt auf industrielle Anbauflächen, von denen wir wissen, dass illegale Gruppierungen von diesen Aktivitäten profitieren“, rechtfertigte der Polizeichef von Tumaco, Jorge Hernando Nieto Rojas, im Juni die Zwangsvernichtung von Kokaplantagen. Das Friedensforschungsinstitut Indepaz erklärt jedoch in einem Ende Oktober veröffentlichten Bericht, dass keine klare Differenzierung zwischen industriellen Kokaplantagen und kleineren Produzenten erkennbar sei.

Das Programm für die Ersatzbewirtschaftung von Anbauflächen illegaler Nutzung, sieht vor, dass die manuelle Vernichtung von Kokaanbauflächen mit den Gemeinden abgestimmt werden muss.

Das Programm für die Ersatzbewirtschaftung von Anbauflächen illegaler Nutzung (PNIS), das in dem Friedensvertrag zwischen FARC und Regierung festgehalten ist, sieht vor, dass die manuelle Vernichtung von Kokaanbauflächen mit den Gemeinden abgestimmt werden muss. Zudem sollen die Bäuer*innen für ein Jahr Lebensmittelhilfen erhalten und beim Anbau ertragreicher Alternativprodukte unterstützt werden. Darüber hinaus hat sich die Regierung verpflichtet, die dringend notwendige Infrastruktur zu schaffen, um den bis jetzt nahezu unmöglichen Transport legal angebauter Feldfrüchte überhaupt zu ermöglichen.

Der kolumbianische Arbeitsminister Rafael Fajaro berichtete gegenüber Indepaz, dass bis Oktober bereits mit über 90.000 Familien Verträge geschlossen worden seien. Diese hätten sich verpflichtet, 76.000 Hektar Kokapflanzungen innerhalb von 60 Tagen durch andere Feldprodukte zu ersetzen.

Juan Manuel Santos kündigte im März an, bis Ende des Jahres mindestens 100.000 Hektar Kokapflanzungen vernichten zu wollen, was etwa der Hälfte der gesamten Pflanzungen entspricht. Dabei sollen 50 Prozent der Flächen durch staatliche Sicherheitskräfte und 50 Prozent im Rahmen des PNIS zerstört werden. Diese Pläne gefährden jedoch einen möglichen Frieden in den betroffenen Regionen – besonders wenn man bedenkt, dass der Staat viele dieser Gebiete nun zum ersten Mal überhaupt betritt.

Tumaco etwa ist eine Region, die zahlreiche Binnenflüchtlinge aus dem Inneren des Landes aufnahm. Vielen Bäuer*innen bleibt schon allein auf Grund der mangelnden Infrastruktur und Verkehrswege kaum eine Alternative zum lukrativen Kokaanbau. Die Not ist hier ein Dauerzustand: Die Wasserversorgung ist ebenso prekär wie die medizinische und schulische Versorgung (siehe LN 486).

Ende Oktober besuchte Juan Manuel Santos Tumaco, um die neue Antwort der Regierung auf die heikle Sicherheitslage für die Region zu verkünden. Im Rahmen der Operation Atlas sollen 9.000 Soldaten, Polizisten und die Marine „spezifische Pläne in Kampf gegen das Verbrechen und Kriminalität“ führen, erklärte der Präsident. Die Operation, die bereits am Anfang des Jahres begann, zeigte bislang offenbar wenig Effekt. Zudem wird sie zu einer weiteren Militarisierung führen, die dem Friedensabkommen mit den FARC widerspricht, das Vertrauen der Landbevölkerung untergräbt und bereits in ähnlichen Konfliktregionen scheiterte.
Der Rückzug der FARC aus ihren historisch kontrollierten Gebieten und das Erstarken paramilitärischer Gruppierungen ließ die Anzahl der Kokaplantagen in den vergangenen drei Jahren um 130 Prozent ansteigen. Mit etwa 180.000 Hektar Kokapflanzungen ist Kolumbien laut einem Bericht der US-amerikanischen Anti-Drogen-Behörde (DEA) weiterhin Spitzenreiter beim Export von Kokain.

In Zeiten des Friedens steht Kolumbien nun massiv unter Druck ein Produkt zu bekämpfen, dessen Profitrate sich kaum ersetzen lässt. Der Drogenkrieg ist offensichtlich gescheitert. Dennoch forderten die USA im Frühjahr eine Verschärfung des Kampfes gegen die Drogen und damit eine weitere Eskalation des Konflikts. Andernfalls drohte die US-Regierung an, die Mittel für den sogenannten Plan Colombia zu kürzen.

15 Jahre nach der Implementierung des Plan Colombia zur Bekämpfung von Drogenkriminalität ist die Bilanz jedoch tragisch. Zwar wurden das Militär modernisiert und die verschiedenen Guerillas massiv bekämpft. Doch die Gewalt tobte, die Kokaproduktion gedieh weiter. Nun richteten die Vereinten Nationen einen Fond über 270 Millionen Euro für die im Vertrag vorgesehenen Pläne ein. Doch ohne eine radikale Aufarbeitung der internationalen Drogenbekäm-pfung bleibt abzuwarten, ob dieser Kampf gewonnen werden kann.

„Wenn wir nicht gegen den Drogenhandel vorgehen, werden uns die Kartelle den Friedensprozess entreißen. Kolumbien droht ein neuer Teufelskreis der Gewalt“, sagte der Generalstaatsanwalt Kolumbiens, Humberto Nesto Martinez, der Zeitung El Tiempo. In den vermeintlichen Zeiten des Friedens ist der Drogenhandel eine offene Wunde in der kolumbianischen Geschichte.

 

UNTER ANDEREN VORZEICHEN

Am 23. Oktober begann die vierte Verhandlungsrunde des Friedensprozesses zwischen der ELN und der kolumbianischen Regierung in Quito. Parallel finden in Kolumbien Vorbereitungsgespräche zum ersten Punkt der Agenda, der politischen Einbindung der Zivilgesellschaft, statt. Die vereinbarte Waffenruhe stellt dabei in vielfacher Hinsicht ein Novum dar, zumal neben dem Verzicht auf Waffengewalt auch der Verzicht auf weitere Feindseligkeiten vereinbart wurde.

Juan Camilo Restrepo (links) und Pablo Beltrán (rechts) verkünden Verhandlungsfortschritte (Foto: Cancillera del Ecuador (CC BY-SA 2.0))

„Es ist das erste Mal in einem fast 26-jährigen Annäherungsprozess, dass sich die ELN und die Regierung auf einen beidseitigen Waffenstillstand einigen“, sagte der politische Analyst Víctor de Currea dem Medienportal La Silla Vacía. „Dadurch wird der Verhandlungstisch legitimiert und ein Raum für die soziale Beteiligung an der Konstruktion des Friedens geschaffen.“

Die ELN willigte erstmals ein, auch auf Entführungen und Anschläge auf die Infrastruktur, wie Ölleitungen, zu verzichten. Außerdem verpflichtete sie sich, die Rekrutierung Minderjähriger unter 15 Jahren sowie das Auslegen von Anti-Personen-Minen zu unterlassen. Bei Anti-Personen-Minen handelt es sich um eine besonders perfide Minenart, die Menschen nicht töten, sondern vielmehr schwer verletzen soll. Dadurch sollen Angriffe erleichtert werden, da die gegnerischen Truppen sich um die Versorgung der Verletzten kümmern müssen.

Im Gegensatz verpflichtete sich die Regierung, Frühwarnsysteme für den besseren Schutz von sozialen Anführer*innen und Aktivist*innen aufzubauen. Außerdem sollen die Bedingungen für inhaftierte ELN-Rebell*innen verbessert und sozialer Protest nicht weiter juristisch verfolgt werden. Die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in die weiteren Verhandlungen, die die ELN zur Grundvoraussetzung einer Waffenruhe erklärt hatten, erfolgt nun insbesondere im Rahmen der in Kolumbien stattfindenden Vorbereitungsgespräche.

Von der Vereinbarung ausgenommen sind sogenannte „ökonomische Feindseligkeiten“ – das heißt, Erpressungen, illegaler Bergbau und Drogenhandel. Gleichzeitig hat die Regierung das Recht, in diese illegalen Geschäfte involvierte Rebell*innen festzunehmen.

Die aktuelle Waffenruhe unterscheidet sich dabei wesentlich von jener, die im Friedensprozess mit den Revolutionären Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) vereinbart wurde. Während die Regierung im Falle der FARC lange an ihrer Strategie „Verhandlungen inmitten des Krieges“ festhielt, einigten sich die Delegationen nun bereits am Anfang der offiziellen Verhandlungen auf einen Waffenstillstand. Zudem sammeln sich Militär und Guerilla nicht in zugeteilten, aber räumlich getrennten Gebieten, sondern bleiben in ihren üblichen Zonen und werden nicht voneinander getrennt.

Erstmals wurde nun auch die Zivilgesellschaft in Form der katholischen Kirche einbezogen, die als weitere Instanz neben der UNO die Waffenruhe überwacht. Konkret sollen Pfarrer in ihren lokalen Gemeinden die Einhaltung der Bestimmungen kontrollieren. Der Besuch von Papst Franziskus im September gilt als wesentlicher Hintergrund der raschen Einigung.

So positiv die Waffenruhe zunächst stimmte, so schnell begann sie jedoch auch zu bröckeln: Ende Oktober bekannte sich die ELN in einer Pressemitteilung, den indigenen Gouverneur Aulio Isarama Forastero im Verwaltungsbezirk Chocó ermordet zu haben. Nachdem die ELN eine entsprechende Anzeige der indigenen Gemeinschaft zunächst geleugnet hatte, erklärten sie den Mord nun zu einer Art Unfall: Isarama habe sich gewehrt, nachdem ELN-Kräfte ihn festgenommen hätten, um ihn zu vermeintlichen Verbindungen zum militärischen Sicherheitsdienst zu befragen. Die Situation sei daraufhin eskaliert. Die ELN gaben ihr Beileid kund und kündigten interne Ermittlungen an. Nachdem der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos den Fall als „klaren Bruch des Waffenstillstands“ bezeichnet hatte, erklärte die Regierung jedoch zugleich, diesen aufrecht zu halten: „Kein einzelner Vorfall kann den Waffenstillstand einseitig und automatisch brechen“, erklärte der kolumbianische Hochkomissar für den Frieden, Rodrigo Rivera. „Der Verhandlungstisch muss nun Maßnahmen finden, um einen solchen Vorfall in der Zukunft auszuschließen.“ Auch wenn der Vorfall die Waffenruhe zunächst nicht gefährdet, zeigt er doch, wie labil sie ist – und wie viel schwieriger zu überwachen, wenn die einzelnen Kräfte nicht in bestimmten Gebieten konzentriert werden.

 

HÜGEL IM KREUZFEUER

Foto: Fernando Frazão/ Agência Brasil (CC BY 2.0)

Rocinha ist auch über die Grenzen von Rio de Janeiro bekannt. Mit rund 70.000 Einwohner*innen ist Rocinha, laut dem Zensus des Statistikinstituts IBGE, die größte Favela von Rio de Janeiro. Die Gemeinde, wie die Bewohner*innen ihr Viertel nennen, liegt im Stadtteil São Conrado zwischen der schicken Südzone und dem westlich gelegenen Bezirk Barra da Tijuca. Aufgrund seiner strategischen Lage ist Rocinha einer der Hauptumschlagplätze für Drogen in der cidade maravilhosa („Wunderbare Stadt“). Lange war es ruhig in Rocinha. Die Gemeinde galt es eine der sichersten Favelas der ganzen Stadt. Die bunten Häuser und steilen Gassen wurden sogar zu einer Tourist*innenattraktion. Seit Mitte September liefern sich jedoch Drogenhändler*innen heftige Kämpfe um die Kontrolle von Rocinha. Es herrschte für mehrere Tage Ausnahmezustand. Es kam zu heftigen Gefechten, bei denen mehrere Menschen starben. An einen Alltag war nicht zu denken: Schulen blieben geschlossen, Straßen leer, Bewohner*innen in Angst. Nach erbitterten Kämpfen rückten am 22. September Polizei und Militär in die Gemeinde vor. Die Bilder des martialischen Militäreinsatzes gingen um die Welt. Aber wie konnte eine der sichersten Gemeinden der Stadt ins Chaos stürzen?

Persönliche Streits als auch Konflikte zwischen verfeindeten Drogengangs sind Auslöser der aktuellen Krise. Die Auseinandersetzungen gehen auf das Jahr 2011 zurück. In diesem Jahr wurde Antônio Francisco Bonfim Lopes, besser bekannt als Nem von Rocinha, verhaftet. Nems ehemalige rechte Hand und Ex-Leibwächter, Rogério Avelino da Silva, auch Rogério 157 genannt, übernahm die Kontrolle über Rocinha. Nem missfiel die Übernahme seines ehemaligen Untergebenen. So übte Nem weiterhin die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha aus – obwohl er in einem Hochsicherheitsgefängnis in Porto Velho im nordwestlichen Bundesstaat Rondônia sitzt. Die Bundespolizei fand heraus, dass Nem im Jahr 2014 den Befehl gab Rogério 157 aus Rocinha zu vertreiben – allerdings ohne Erfolg. So wuchsen in den folgenden Jahren die Spannungen zwischen den beiden Männern. Im Jahr 2015 lieferten sich Verbündete von Nem und Rogério 157 nach einem Missverständnis einen Schusswechsel. Vier „Krieger“ von Nem wurden angeschossen und mussten im Krankenhaus be-handelt werden. Eine Person spielt eine bes-ondere Rolle in dem Konflikt: Danúbia de Souza Rangel, die Frau von Nem. Sie führte lange Zeit Befehle aus, die ihr Mann ihr bei Gefängnisbesuchen übermittelte. Sie engagierte eigene Leibwächter und strahlte immer mehr Autorität in Rocinha aus. Bald war sie als „Sherif von Rocinha“ bekannt. Laut dem britischen Journalisten und Experten für organisierte Kriminalität Misha Glenny, der die Biographie von Nem schrieb, wurde Rangel eine der zentralen Protagonist*innen des Machtkampfes: „Es gab interne Konflikte. Danúbia wollte mehr Macht und die Gemeinde war gespalten zwischen ihr und Rogério“. Allerdings vertrieb Rogério 157 Rangel aus Rocinha im Zuge der jüngsten Auseiandersetzungen. Die 33-Jährige floh in eine Favela in den Norden der Stadt, wurde dort aber am 10. Oktober von der Polizei verhaftet. Gegen Rangel lief ein Haftbefehl wegen Drogenhandel, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Korruption.

Rogério 157 büßte in jüngster Zeit immer mehr an Popularität ein. Der Grund: Er erhob Steuern auf Dienstleistungen wie Motorradtaxis und die Gasverteilung. Allein mit den Steuern auf die Motorradtaxis machte er einen monatlichen Umsatz von umgerechnet rund 27.000 Euro. Im Interview mit der Nachrichtenseite UOL erklärt der Carlos Eduardo Thome, Polizist bei der Drogenbekämpfungseinheit DER: „Die Daten zeigen, dass Nem sehr unzufrieden mit Rogérios Steuereintreibungen von Bewohnern und Motorradtaxis war. Wenn ein Motorradtaxifahrer nicht die fälligen Steuern zahlte, ließ er die Motorräder zerstören. Er hat die Menschen der Gemeinde erpresst“.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst.

Die Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Drogenbanden, die in der ganzen Stadt toben, haben auch längst Rocinha erfasst. Auch interne Konflikte im Kartell der Amigos dos Amigos (ADA; Freunde der Freunde), dem sowohl Nem als auch Rogério 157 angehörten, haben zu der Eskalation beigetragen. Laut Presseberichten hatte Rogério 157 bereits im Jahr 2014 versucht, sich vom ADA loszusagen und sich erfolglos dem Terceiro Comando Puro (Pures Drittes Kommando; TCP) anzunähern.

Im Jahr 2016 zerbrach die historische Allianz zwischen dem Primeiro Comando da Capital (PCC; Erstes Hauptstadtkommando) aus São Paulo und dem Comando Vermelho (CV; Rotes Kommando) aus Rio de Janeiro. Nach dem Ende dieser Zweckehe verbündete sich die ADA, Erzfeind des CV, mit dem PCC. Dies führte zum Zerwürfnis in Rocinha: Während Nem und andere Führer des ADA die Allianz mit dem mächtigen Kartell aus São Paulo befürworteten, versuchte Rogério 157, sich mit einem der ADA-Chefs zusammenzuschließen, der gegen das Bündnis war. Ziel war es, die Kontrolle über Rocinha zu erhalten – ohne Nem.

Am 13. August wurden drei Verbündete von Nem tot in einem Auto aufgefunden. Die Vermutung: Rogério 157 hatte zum Präventivschlag ausgeholt, um seine Entmachtung abzuwenden. Nun ging der Konflikt erst richtig los. Ende August stellte Nem seinem Widersacher Rogério 157 ein Ultimatum. Die Forderung: Rogério 157 habe Rochinha zu verlassen. Dieser weigerte sich und ging sogar noch weiter. Die Männer von Rogério 157 vertrieben mehrere Verbündete von Nem aus der Gemeinde. Daraufhin beschloss die Führung der ADA, eine Aktion vorzubereiten, um endgültig die Kontrolle über den Drogenhandel in Rocinha zurückzugewinnen. Im BBC-Interview sagt der Experte Glenny, dass es gut möglich sei, dass Nem nicht direkt hinter dieser Entscheidung stehe. Der 17. September wurde als Tag für die Invasion gewählt. 60 Personen aus den Favelas São Carlos im Zentrum und Vila Vintém im Osten stürmten schwer bewaffnet den Hügel. Allein am ersten Tag starben drei Personen, drei weitere wurden verletzt. Ein schwarzer Tag für Rocinha.

In der Presse kursierten Gerüchte darüber, dass Rogério 157 sich mittlerweile dem CV angeschlossen habe. Grund für die Spekulationen: Nach der Polizeioperation flohen 200 seiner Gefolgsleute in den Tijuca-Wald und von dort in sechs Gemeinden, in denen die CV regiert. Die Bundespolizei bestätigte, dass Rogério 157 mit der ADA gebrochen hat. Mittlerweile belegen auch abgehörte Aufzeichnungen den Wechsel von Rogério 157 zur CV.
Der Gouverneur von Rio de Janeiro, Luiz Fernando Pezão von der Mitte-Rechts-Partei PMDB, äußerte sich erstmals am 17. September zu den Ereignissen in Rocinha. Er forderte, dass vorerst weder Polizei noch Militär, die sich bereits seit August im Alarmzustand befanden, intervenieren sollten. Zivile Opfer und Probleme bei Ablauf des weltbekannten „Rock in Rio“-Festivals müssten auf jeden Fall verhindert werden, so Pezão. „Ich wurde von Wolney (Dias, Kommandant der Militärpolizei) und (Roberto) Sá (Sicherheitssekretär) informiert und habe um große Vorsicht gebeten. Ich kenne Rocinha gut. Am Sonntag sind immer die meisten Menschen auf der Straße. Wenn wir reagieren, bedeutet das Krieg, in dem viele Unschuldige sterben. Man muss den richtigen Moment abwarten. Sollte das wirklich zur Zeit von ,Rock in Rio` sein?“.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig.

Ab dem 22. September eskalierte die Lage völlig. Die Militärpolizei führte Haftbefehle gegen mehrere Kriminelle aus. Am Samstag wurden neun Personen festgenommen und 18 Gewehre beschlagnahmt. Drei Verdächtige wurden getötet, ein junger Mann verletzt. Am gleichen Tag erklärte Verteidigungsminister Raul Jungmann, 950 Soldat*innen nach Rocinha zu schicken, um den Verkehr rund um Rocinha zu sichern. Zudem wurde die Gemeinde großräumig von Soldat*innen umstellt, um Kriminelle daran zu hindern zu fliehen. Trotzdem ist es mehreren Verdächtigen gelungen, in den nahegelegenen Tijuca-Wald zu türmen – in eine Fläche von 4.000 Hektar zwischen dem Süd- und Nordteil der Stadt. So hat sich das Problem in auch andere Teile der Stadt verlagert.

Die Dominanz des Drogenhandels und die jüngsten Konflikte stehen symbolisch für das Scheitern des Sicherheitsmodells von Rio de Janeiro. Im Jahr 2008 begann die Regierung damit, in verschiedenen Favelas Stationen der Befriedigungspolizei UPP einzurichten – so auch in Rocinha. Ursprüngliche Idee des UPP-Modells war es, eine bürgernahe Polizei zu schaffen und freundschaftliche Beziehungen zu den Bewohner*innen aufzubauen. Wie in anderen Teilen von Rio de Janeiro war die Freundschaft auch in Rocinha schnell vorbei. Dies habe der UPP nachhaltig geschadet, analysiert Ignacio Cano, Mitglied des Forschungsinstituts zu Gewalt der Bundesstaatlichen Universität von Rio de Janeiro (Uerj). Im Jahr 2013 sorgte ein Fall in Rocinha für weltweite Schlagzeichen: Der Maurer-gehilfe Amarildo de Souza verschwand, nachdem er von UPP-Polizisten festgenommen wurde. Der Fall wurde zum Symbol für die grassierende Polizeigewalt und löste weltweit Proteste aus. Im November wurden 70 Polizist*innen der UPP ausgetauscht. Das angeschlagene Image der Truppe sollte verbessert werden.

Die Probleme der Polizei werden durch die derzeitige schwere Wirtschaftskrise verschärft. Rio de Janeiro hat ein Haushaltsdefizit von umgerechnet rund 5,6 Milliarden Euro. Boni für Polizist*innen wurden abgeschafft und die Regierung hat es versäumt, die freiwerdenden Stellen neu zu besetzen. Dies hat zu einem Rückgang von 3.000 Polizist*innen in fünf Jahren geführt. Auch Überstunden wurden seit langer Zeit nicht mehr bezahlt. Im August 2017 wurden die Mittel für die UPP um 30 Prozent gekürzt. Laut der Analyse des Wissenschaftlers Cano habe die wirtschaftliche Flaute auch zu einer Schwächung des Staates geführt. Dies führe wiederum dazu, dass immer mehr Menschen ihre Wege auf dem illegalen Markt suchen. Die Überfall- und Mordrate hat in letzter Zeit stark zugenommen, auch von Polizist*innen. Die erbitterten Territorialkämpfe sind eine Folge davon – die Gewalt in Rocinha ist die blutige Spitze des Eisbergs.

Ende Juli unterzeichnete Präsident Michel Temer ein Dekret, dass den Einsatz von bewaffneten Streitkräften in Rio de Janeiro erlaubt. Angehörige der Armee, Marine und Luftwaffe übernehmen im Bundesstaat von Rio de Janeiro nun zum Teil die Aufgaben der Polizei. Laut dem Dekret kann die Armee bis zum 31. Dezember auf den Straßen von Rio de Janeiro bleiben. Der Präsident ließ allerdings durchblicken, dass der Einsatz bis Ende 2018 verlängert werden könnte. Insgesamt wurden 8.500 Soldat*innen der Armee, sowie 620 Männer des Bundesheeres und der Bundesstraßenpolizei im ganzen Bundesstaat Rio de Janeiro mobilisiert. Der Fokus dieses Einsatzes liegt in der Metropolregion Rio de Janeiro. Teile dieses Heeres waren auch an der Besetzung von Rocinha beteiligt.

Diese Mobilisierung kostet umgerechnet rund 186 Millionen Euro bis zum Ende von 2017. Ein Gefühl von Sicherheit soll vermittelt werden. Auch will die Regierung zeigen, dass sie handelt. Die Gewalt in Rio de Janeiro wird so allerdings nicht gelöst. „Auf lange Sicht wird die Präsenz der Militärs nicht die Probleme lösen“, sagt Cano. Auch die Anthropologin Jacqueline Muniz vom Department für Öffentliche Sicherheit an der Bundesstaatlichen Universität von Fluminense meint: „Alle Regierungen, von Fernando Henrique, Lula oder Dilma, haben in einem Moment ihrer Amtszeiten das Militär mobilisiert. Dies dient dazu, Legitimität zu erreichen und von anderen Problemen abzulenken.“ Die Konflikte in Rio de Janeiro geschehen in politisch stürmischen Zeiten: Gegen Gouverneur Pezão laufen Ermittlungen, die in seinen Job kosten könnten. Präsident Temer hat mit nur fünf Prozent Zustimmung die schlechtesten Umfragewerte in der Geschichte Brasiliens. Gegen den 77-Jährigen laufen mehrere Verfahren.

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der brasilianischen Onlinezeitung Nexo.

STUNDE NULL FÜR DEN PARALLELSTAAT

In den 14 Jahren, die Hugo Chávez bis zu seinem Tod 2013 regierte, gab es gefühlt zwei Venezuelas. Während Menschen in den informell erbauten barrios von sozialer Teilhabe, Demokratie und Revolution schwärmten, schimpften sie in den wohlhabenderen Vierteln über eine Castro-kommunistische Diktatur. Nachdem der politische Machtkampf Anfang April eskaliert ist und bei den beinahe täglichen Demonstrationen bereits etwa 100 Menschen getötet wurden, leben Regierung und Opposition nicht mehr nur gefühlt in zwei verschiedenen Welten. Sie stützen sich auch zunehmend auf unterschiedliche staatliche Strukturen.

Am 16. Juli organisierte das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“ (MUD) eine landesweite Volksbefragung. Am selben Tag führte der Nationale Wahlrat (CNE) eine Testabstimmung für die am 30. Juli geplante Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung durch. Beide Lager betonten hinterher die hohe Beteiligung an den Urnengängen– an denen jeweils nur die eigenen Anhänger*innen teilnahmen.

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“

„Rechnerisch ist Nicolás Maduro heute abberufen worden“, frohlockte Parlamentspräsident Julio Borges am Abend des 16. Juli. Nach Angaben der Opposition hatten sich über 7,5 Millionen der insgesamt etwa 19 Millionen Wahlberechtigten an der Abstimmung beteiligt, davon fast 700.000 im Ausland. Gemessen daran, dass aus den eigenen Reihen zuvor mit Zielvorgaben zwischen acht und zehn Millionen hantiert worden war, blieb das Ergebnis hinter den Erwartungen zurück. Zumal der venezolanische Präsident Nicolás Maduro bei der Wahl 2013 etwas mehr Stimmen auf sich vereinen konnte, als die nun registrierten 7,5 Millionen. Rechtlich ist die Abstimmung ohnehin irrelevant. Laut Verfassung darf alleine der Nationale Wahlrat (CNE) verbindliche Wahlen und Abstimmungen ansetzen. Der MUD betrachtet die symbolische Befragung dennoch als Erfolg und leitet daraus ein politisches Mandat für eine pathetisch als „Stunde Null“ bezeichnete neue Phase des Protestes ab. Mehrere lateinamerikanische Länder, die EU sowie die USA stärkten dem MUD rhetorisch den Rücken. US-Präsident Donald Trump drohte der venezolanischen Regierung gar Sanktionen an, sollte sie nicht die geplante Verfassunggebende Versammlung stoppen.

Zur Abstimmung bei der Volksbefragung standen drei Fragen, die jeweils zwischen 98 und 99 Prozent Zustimmung erhielten: „1. Lehnen Sie die Durchführung der von Präsident Nicolás Maduro vorgeschlagenen Verfassunggebenden Versammlung ohne die vorherige Zustimmung der venezolanischen Bevölkerung ab und erkenne sie nicht an? 2. Verlangen Sie von den Streitkräften und allen staatlichen Funktionären, die Verfassung von 1999 zu verteidigen und die Entscheidungen der Nationalversammlung zu unterstützen? 3. Billigen Sie, dass die Staatsgewalten unter den von der gültigen Verfassung vorgegebenen Bedingungen erneuert werden und freie und transparente Wahlen durchgeführt werden, sowie eine Regierung der nationalen Einheit gebildet wird, um die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen?“

Nicmer Evans aus den Reihen des kritischen Chavismus, der sich aus unzufriedenen, ehemaligen Regierungsanhänger*innen zusammensetzt, hatte vorgeschlagen, lediglich eine einzige Frage nach der Verfassunggebenden Versammlung zu stellen. Dadurch hätte die Beteiligung nach seinen Vorstellungen auf über zehn Millionen gehoben werden können. Doch der MUD ging nicht darauf ein. Ansonsten sprachen sich die kritischen Chavist*innen deutlich sowohl gegen die Verfassunggebende Versammlung als auch die parallelen staatlichen Strukturen des MUD aus.

„Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“

Der venezolanische Präsident Maduro zeigte sich derweil unbeeindruckt und bekräftigte, an der Verfassunggebenden Versammlung festzuhalten. „Diese Initiative gehört nicht mehr mir, sie liegt nun in den Händen des Volkes“, sagte er und rief die Opposition zum Dialog auf.

Laut den vom CNE verabschiedeten Regelungen sollen am 30. Juli insgesamt 545 Teilnehmer*innen gewählt werden, davon 181 in festgelegten gesellschaftlichen Sektoren und 364 auf territorialer Ebene in Wahlkreisen. Die rechte wie linke Opposition befürchtet, die Regierung wolle den Staat für ihre Zwecke reformieren und die Demokratie abschaffen. Das von Maduro am 1. Mai angekündigte Vorhaben hat auch innerhalb des Chavismus eher die Spannungen verschärft, als dass es einen Ausweg aus der politischen Krise weisen würde.

Doch so symbolisch die oppositionelle Volksbefragung war, so symbolisch ist zunächst auch die ausgerufene „Stunde Null“. Die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung mag in Bezug auf die Wahlbeteiligung ein Flop werden, verhindern kann die Opposition sie kaum.

Der Aufruf an das Militär, die Seiten zu wechseln, wird zumindest so lange keinen Erfolg haben, wie die chavistisch geschulte Armeeführung wirtschaftlich von Maduros Regierung profitiert.
Und auch der vom MUD nach der Volksbefragung vorgestellte Plan für eine zukünftige „Regierung der nationalen Einheit“ und die Ernennung neuer Richter*innen des Obersten Gerichts (TSJ), die das bestehende TSJ umgehend als illegal zurückwies, sind zunächst reine Symbolpolitik.

Im venezolanischen Machtkampf stehen aktuell also die Regierung Maduro, das Oberste Gericht und der Wahlrat dem oppositionell dominierten, aber vom TSJ blockierten Parlament, einem parallelen TSJ und demnächst vielleicht einer Parallelregierung „der nationalen Einheit“ (ohne Chavist*innen) gegenüber. Die Generalstaatsanwältin Luisa Ortega wiederum hat sich gegen die Regierung gestellt und erhält Unterstützung von der Opposition, könnte aber in einem politisch motivierten Verfahren durch das TSJ abgesetzt werden.

Bisher zeigen sich weder Regierung noch Opposition kompromissbereit, sieht man davon ab, dass der prominente Oppositionspolitiker Leopoldo López seine Strafe seit Anfang Juli zu Hause verbüßen darf. Wegen Anstachlung der Unruhen 2014 war er zu über 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die von beiden Seiten ausgehende Gewalt reißt derweil nicht ab. In den vergangenen Wochen häuften sich zudem Zwischenfälle, die darauf hindeuten könnten, dass sich der Konflikt gewissermaßen verselbständigt und den Führungen beider politischer Lager vollends zu entgleiten droht: So griff Ende Juni ein ehemaliger Kriminalpolizist von einem Hubschrauber aus in Rambo-Manier ein Gebäude des Obersten Gerichtes sowie des Innenministeriums an. Am 5. Juli, dem venezolanischen Nationalfeiertag, stürmten mutmaßlich organisierte Gruppen aus den Armenvierteln unter den Augen der Nationalgarde eine Sitzung des Parlaments und besetzten dieses stundenlang.

Sollte die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung wie geplant stattfinden, droht eine weitere Eskalation, die entweder in einer Art Verhandlungslösung oder schlimmstenfalls in einen Bürgerkrieg münden könnte. Die Opposition will den Druck auf die venezolanische Regierung jedenfalls zunächst weiter steigern. Am 20. Juli rief sie zu einem 24-stündigen Generalstreik auf. Auch über dessen Ausmaß gingen die Einschätzungen auseinander. Während Oppositionsführer Henrique Capriles Radonski sagte, der Tag „gleiche in einigen Städten einem 1. Januar“, betonte Maduro, dass „die 700 größten Unternehmen des Landes zu 100 Prozent arbeiten“. Beide bezogen sich dabei auf Venezuela, jeder auf das seine.

INSTABILE GRENZE

„La Guajira erlebt gerade eine Reihe von Konflikten. Einige lassen sich bis zur Gründung der Republik Kolumbien zurückverfolgen“, erläutert Weildler Guerra Curvelo, der Gouverneur des Bundesstaates La Guajira, bei einer Konferenz vor Journalist*innen. „Die übrigen hängen hauptsächlich mit der schlechten Konjunktur zusammen, die wir gerade in unserem Verhältnis zu Venezuela erleben“. Seit Schließung der nördlichen Grenzübergänge im August 2015 ist der – legale und illegale – Handel mit dem Nachbarland zum Erliegen gekommen. Die abgelegene Halbinsel am nördlichsten Zipfel des Landes ist traditionell ein Umschlagplatz für Schmuggelgüter aus beiden Richtungen.

Die Handelsmetropole Maicao, auch bekannt als „kommerzielles Schaufenster Kolumbiens“, trägt seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Status eines zollfreien Gebietes und fungiert als wirtschaftliche Brücke zwischen Kolumbien und Venezuela. Neben dem legalen Handel mit verschiedenen Gütern, etwa den Kunstprodukten der in der Region lebenden indigenen Gruppe der Wayúu, hat auch der Einbruch des illegalen Treibstoffhandels schwere Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft. Seit Beginn der ökonomischen Krise im Nachbarland sehen sich vor allem die in Grenznähe lebenden Indigenen außerdem zunehmend mit einem Mangel an Nahrungsmitteln konfrontiert. Hildurara Barliza, Repräsentant der Wayúu, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Efe: „Wir müssen der historischen Realität ins Auge blicken: Wir haben uns immer gut ernährt, wir hatten eigentlich keinerlei Probleme – und das nur, weil wir von den subventionierten Preisen in Venezuela profitiert haben“.

Laut Zahlen des Nationalen Gesundheitsinstituts (INS) starben in La Guajira allein 2016 mindestens 90 Menschen an Unterernährung. Dem kolumbianischen Statistikamt (DANE) zufolge gehen 85% der Lokalbevölkerung informellen Arbeitsverhältnissen nach, über 50% der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig beziffert die staatliche Planungsbehörde (DNP) den Anteil der Menschen, die unter unzureichenden Bedingungen leben – das heißt im konkreten Fall beispielsweise ohne Zugang zu fließendem Wasser – mit 44,6%.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte. Schwere Dürreperioden, aber auch der massive Kohleabbau (siehe LN 509) bedrohen die Wasserressourcen und rauben den Menschen damit die Lebensgrundlage. Gleichzeitig steht die Region auf Grund ihrer strategisch günstigen Lage immer wieder im Fokus der Aktionen verschiedener Guerillas sowie paramilitärischer und anderer krimineller Gruppierungen. Verkompliziert wird diese Situation durch den schwelenden Grenzkonflikt mit Venezuela. Am 21. Mai bezichtigte die venezolanische Regierung die kolumbianische Seite in einem offiziellen Schreiben der militärischen Aufrüstung: Kolumbien würde mit „gepanzerten Kampffahrzeugen in wenigen Metern Entfernung zur Grenze“ einen erneuten Ausbruch der Auseinandersetzungen provozieren. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu diplomatischen Krisen im Grenzgebiet gekommen, teils mit schweren gewalttätigen Ausschreitungen und Massendeportationen von in Venezuela lebenden Kolumbianer*innen. 2015 wurde der gesamte Grenzverlauf über mehrere Monate hinweg gesperrt, Teile der Grenze sind bis heute unpassierbar. Das kolumbianische Verteidigungsministerium stritt die Vorwürfe ab und verwies darauf, dass sich die betreffenden Panzer bereits seit einigen Jahren aufgrund der paramilitärischen und Guerilla-Aktivitäten in der Grenzregion befänden.

Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro hatte seinerseits bereits Mitte Mai die Militarisierung des ebenfalls in der Grenzregion gelegenen Bundesstaates Táchira angeordnet. Nach gewalttätigen Protesten, in deren Verlauf mehrere Polizeistationen angezündet und mindestens drei Personen getötet wurden, entsandte die Regierung 2600 Soldat*innen nach Táchira, „um den Frieden wiederherzustellen“. Diese Operation ist Teil der zweiten Phase der von Maduro verabschiedeten Sicherheitsmaßnahme „Plan Zamora“, mit der die Regierung die massiven Proteste im Land eindämmen will (siehe Interview mit Daniela Guerra in dieser Ausgabe).

Die Region Táchira grenzt an den kolumbianischen Bundesstaat Norte de Santander, dessen Bevölkerung sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert sieht wie jene in La Guajira. Aktuell überqueren laut Zahlen der kolumbiani- schen Regierung aus venezolanischer Richtung kommend. täglich etwa 45.000 Menschen die Grenze bei Cúcuta Die meisten dieser Personen überqueren diese Grenze regelmäßig, etwa weil sie Handel in Cúcuta treiben oder Verwandte besuchen. Allerdings verzeichnen die Behörden nur etwa 30.000 Grenzüberquerungen in die andere Richtung. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über das Verbleiben der übrigen 15.000 Personen, die täglich einreisen. „Mich beunruhigt die massive Migration in Richtung Kolumbien, weil diese Menschen um ihr Leben flüchten“, äußerte Pepe Ruiz, Bürgermeister der Grenzstadt Villa del Rosario, gegenüber der Tageszeitung El Tiempo. Auch wenn sich der Vize-Verteidigungsminister Anibal Fernández de Soto bereits Anfang Mai zuversichtlich gezeigt und betont hatte, dass das Land darauf vorbereitet sei, einer „humanitären Krise“ in Venezuela und damit verbundener massiver Migration nach Kolumbien zu begegnen, äußerten Vertreter*innen der Lokalregierung sowie der Zivilbevölkerung starke Kritik an den Maßnahmen der Regierung. José Uriel Acevedo Arias, lokaler Repräsentant der Lehrer*innengewerkschaft SINTRENAL, kommentierte gegenüber lokalen Medien: „Es ist schon ironisch, dass Kolumbien es in 50 Jahren nicht geschafft hat, einen Notfallplan für all die Missstände innerhalb Kolumbiens bereitzustellen, aber jetzt angeblich schon einen Notfallplan für die venezolanischen Migranten hat.“

Nach den massiven Protesten gegen soziale Missstände in den Regionen Chocó und Valle del Cauca prüfen daher auch die Gewerkschaften und sozialen Organisationen in Cúcuta die Möglichkeit eines Generalstreiks: „Wir haben immer noch die gleichen Probleme: Cúcuta führt nach wie vor die Ranglisten in Punkten wie Arbeitslosigkeit, informelle Arbeitsverhältnisse oder soziale Ausgrenzung an. Es ist daher unsere Pflicht als Gewerkschafter, als Politiker, als Zivilbevölkerung auf die Straße zu gehen und uns genauso zu mobilisieren wie die Menschen im Chocó und in Buenaventura“, sagte Leonardo Sánchez, Führer des Gewerkschaftsbundes CUT, gegenüber El Tiempo.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration (TMF), der im April eingeführt wurde und Bewohner*innen der Grenzregionen für Zeiträume bis zu acht Tagen die legale Einreise nach Kolumbien ermöglichen soll, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert. Christian Krüger, Leiter der Kolumbianischen Migrationsbehörde, betonte im Interview mit der Wochenzeitung Semana, dass die meisten Venezolaner*innen auf der Suche nach dringend benötigten Medikamenten, medizinischer Versorgung, Nahrungsmitteln oder informeller Arbeit nach Kolumbien kommen würden. Rodolfo Hernández, Bürgermeister der Industriemetropole Bucaramanga, Hauptstadt des ebenfalls nahe der Grenze liegenden Bundesstaates Santander, sorgte derweil für Polemik, als er gegenüber dem Innenministerium eine effektive Kontrolle der Migration forderte. Er betonte, dass den Venezolaner*innen geholfen werden müsse, da das Land über Jahrzehnte unzähligen Kolumbianer*innen Zuflucht geboten habe. Jedoch habe seine Stadt kein Geld, um sich um die tausenden Migrant*innen zu kümmern: „Jetzt kommen alle Bettler, Prostituierten und Arbeitslosen Venezuelas“, betonte er und fuhr fort: „Also, was machen wir in Bucaramanga? Wir können sie [gemeint sind die Migrant*innen, Anm. d. Red.] nicht töten und nicht auf sie schießen, wir müssen sie empfangen, genau wie Venezuela mehr als vier Millionen Kolumbianer empfangen hat“.

Derweil gehen die Proteste auf venezolanischer Seite weiter, ein Ende der Versorgungsengpässe und dadurch auch des Flüchtlingsstroms ist nicht abzusehen. Die ersten Notunterkünfte wurden im Raum Cúcuta bereits errichtet, die Krankenhäuser berichten von ständiger Überforderung durch die unzähligen venezolanischen Patient*innen. Abzuwarten bleibt, wie Kolumbien, traditionell eher Ausgangspunkt von Migrationsbewegungen der vom eigenen internen Konflikt betroffenen Menschen, seine neue Rolle als Zielland der Geflüchteten meistern wird. Die schwierige Lage gerade in den Grenzregionen droht sich jedoch zunächst eher zu verschärfen als zu verbessern- gerade auch angesichts der landesweiten Protestbewegungen und Generalstreiks, die in den vergangenen Wochen das Land in Atem hielten.

SCHWERER STAND FÜR MENSCHENRECHTE

Foto: Bettina Müller

„Ob es 9.000 Verhaftete und Verschwundene oder 30.000 waren, ich weiß es nicht. Für mich macht diese Debatte keinen Sinn.“ Mit dieser Aussage macht sich Mauricio Macri gemein mit denjenigen, die die Verbrechen der letzten argentinischen Militärdiktatur von 1976-83 relativieren wollen. Macri tätigte diese Aussage in einem Interview zum 41. Jahrestag des Putsches am 24. März. So wie er, sehen es auch Parteimitglieder und regierungsnahe Politiker*innen. Wahlweise drücken sie Zweifel an der im kollektiven Gedächtnis verankerten Zahl der 30.000 Verhaftet-Verschwundenen unter der vergangenen Militärdiktatur aus, einer Zahl, die von den Menschenrechtsorganisationen immer wieder bestätigt wurde, verneinen schlicht, dass diese ein systematisches Programm zur Eliminierung subversiver, linksorientierter Kräfte vorantrieb.

Schon vor seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2015 hatte der argentinische Präsident Mauricio Macri angekündigt, dass er mit dem „Schwindel der Menschenrechte“, die in den zwölf Jahren Kirchner-Regierungen eine zentrale Rolle eingenommen hatten, Schluss machen würde – und er hat Ernst gemacht.

Es ist nicht nur die Zahl der Opfer der Militärdiktatur, die die Regierung wenig interessiert. Allgemein steht das Thema Menschenrechte und die Aufarbeitung der Verbrechen unter der Militärdiktatur sowie der Verfolgung derjenigen, die diese begangen haben, nicht sonderlich weit oben auf ihrer Prioritätenliste. Es verwundert also nicht, dass Estella Carlotto, eine der sichtbarsten Figuren der Großmütter der Plaza de Mayo, dem Präsidenten nach einem Jahr Regierungszeit ein Armutszeugnis im Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte ausstellte – und sie ist nicht allein mit ihrer Kritik.

Während die Regierung Unsummen in Eigenwerbung steckt, um trotz der desaströsen Lage im Land ein Gefühl des Fortschrittes zu generieren, hat sie an anderen Stellen massiv eingespart. Mit zwischen 15 Prozent und bis zu 50 Prozent weniger finanziellen Mitteln als noch im vergangenen Jahr müssen das Sekretariat für Menschenrechte und eine Reihe von Programmen, die sich unter anderem mit der Begleitung der Opfer der Diktatur befassen, 2017 auskommen.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein. Waren es von 2011 bis 2015 jährlich mindestens 20 Verurteilungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sank diese Zahl 2016 auf neun. Gleichzeitig profitierten aber 50 der verurteilten Verbrecher von einer Minderung ihres Strafmaßes und wurden in den Hausarrest entlassen. Zudem stieg der Staat als Ankläger aus einer Reihe von Verfahren gegen Verbrecher der Militärdiktatur aus. Gingen noch bis vor 17 Monaten Menschenrechtsorganisationen im Justizministerium ein und aus, sind es heute die Familienmitglieder der verurteilten Verbrecher*innen und ihre Anwält*innen, zu denen der derzeitige Justizminister Germán Garavano aktive Beziehungen unterhält.

Anfang Mai erreichte die von der Regierung gelebte Politik der Geschichtsvergessenheit ihren vorläufigen Höhepunkt. Der 2011 zu 13 Jahren verurteilte Luis Muiña, der im geheimen Folterzentrum des Krankenhauses Posadas wirkte, sollte bereits nach der Hälfte der Zeit aus dem Gefängnis entlassen werden, so der Oberste Gerichtshof Argentiniens. Die Richter*innen beriefen sich bei ihrer Entscheidung auf ein Gesetz, dass es Straffälligen möglich macht, bei guter Führung und unter Berücksichtigung einiger weiterer Faktoren, nach der Hälfte der Zeit frei zu kommen. Dieses Gesetz war jedoch 2001 abgeschafft worden und galt ohnehin nie für Täter*innen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So begründeten auch zwei der fünf Richter*innen ihre Entscheidung gegen die Minderung des Strafmaßes von Luis Muiña, wobei sie jedoch von den drei anderen, Elena Highton de Nolasco, Carlos Rosenkrantz und Horacio Rosatti, überstimmt wurden. Rosenkrantz und Rosatti wurden übrigens per Dekret von Präsident Macri ernannt und in zweiter Instanz durch den Senat bestätigt.
Die Antwort der Menschenrechtsorganisationen, sozialer Bewegungen und von einem Großteil der Parteien und Gewerkschaften erfolgte umgehend. Noch am selben Tag, dem 3. Mai, zirkulierten eine Vielzahl von Erklärungen, die die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes verurteilten. Keine Woche darauf, einem Aufruf des Zusammenschlusses von Menschenrechtsorganisationen „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ folgend, versammelten sich mehr als 500.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude auf der Plaza de Mayo, um ihre Sorge zur Lage der Menschenrechte im Land zum Ausdruck zu bringen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfen nicht begnadigt werden und sie verlieren auch nichts an ihrer Schwere über die Zeit“, so Nora Cortiñas, eine der Mütter der Plaza de Mayo, während der Kundgebung.

Der öffentliche Druck auf die Regierung war derart groß, dass Mauricio Macri, kaum hatte das Parlament die Nicht-Anwendbarkeit des strafmaßmindernden Gesetzes auf Verbrecher*innen der Militärdiktatur erneut ratifiziert, diese Entscheidung bestätigte und sich von den Richter*innen distanzierte.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt. Bereits im vergangenen Jahr gab Mauricio Macri dem Militär die Autonomie zurück, die der damalige Präsident Raúl Alfonsín nach dem Ende der Diktatur eingeschränkt hatte. Außerdem lud er Militärs, die sich mehrfach positiv zur Diktatur geäußert hatten, zu offiziellen Regierungsfeierlichkeiten ein, so erst jüngst zum 207. Jahrestag der Unabhängigkeit am 25. Mai.
Auch immer häufiger auftretende Polizeirazzien an Schulen, Universitäten und in Stadtteilzentren, wo deren Präsenz eigentlich per Gesetz untersagt ist, und das Schweigen der Regierung diesbezüglich, sind äußerst bedenklich. Hinzu kommt die Verfolgung von politischen Aktivist*innen und Gewerkschaftsführer*innen. Ein Fall, der sogar die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte auf den Plan rief, ist jener der Anführerin der Tupac Amaru, Milagro Sala, die seit über einem Jahr in der nördlichen Provinz Jujuy im Gefängnis sitzt, angeblich, weil sie auf einer Demonstration mit Eiern warf.

Unter Berufung auf das von der Regierung verabschiedete Protokoll zur Unterbindung von Straßenbarrikaden (Protocolo Antipiquete) ordnete die Sicherheitsministerin Patricia Bullrich zudem in jüngster Zeit verstärkt die Unterdrückung sozialer Proteste an. Spätestens seit im März auf den Straßen des Landes fast täglich Demonstrationen stattfanden, versucht die Regierung, die Idee der destabilisierenden Gefahr von Links im öffentlichen Raum zu etablieren.

Auch die wachsende Diskriminierung von Migrant*innen und die nicht zu übersehende Verstrickung des Clans Macri mit der Militärjunta sollten nicht unerwähnt bleiben: Die Firmengruppe SOCMA (SOCiedad MAcri) wuchs zwischen 1976 und 1983 von sieben auf 46 Unternehmen an und sie profitierte von der Verstaatlichung der privaten Schulden 1982. Die Regierung Macri hat viele Wahlversprechen gebrochen, eines nicht: Die Menschenrechte und die Kultur der Erinnerung nebensächlich laufen zu lassen.

DIFFAMIERUNG STATT AUFKLÄRUNG

Ein Jahr ist seit dem Mord an Berta Cáceres vergangen. Der Schock über den Verlust und die grausame Tat ist längst nicht überwunden. Berta Cáceres war eine nicht nur in Honduras herausragende Persönlichkeit, die sich schwer in Kategorien einordnen ließ. Sie war mehr als eine Umweltschützerin oder Menschenrechtsverteidigerin, sie war Kämpferin für indigene Rechte, Feministin, Antikapitalistin. Sie hatte den Zivilen Rat für Indigene und Basisbewegungen Honduras (COPINH) maßgeblich mit aufgebaut und dafür gesorgt, dass nicht nur die Verteidigung der Territorien der indigenen Gruppe der Lenca auf dem Programm stand, sondern auch ein kritischer Umgang mit patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Organisation. Sie war trotz all ihrer Reisen am liebsten vor Ort in den Lenca-Gemeinden.

Die Botschaft der Mörder bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten.

„Sie haben geglaubt, dass sie auf diese Art nicht nur die in Lateinamerika und weltweit bekannte Führungspersönlichkeit vernichten, sondern zugleich auch die Idee, den Kampf, das politische Projekt und die Organisation COPINH, dessen Mitbegründerin und Tochter Berta war“, schreibt COPINH über die Intention der Mörder. Gelungen ist ihnen das nicht, nach wie vor fordern solidarische Gruppen weltweit Gerechtigkeit für Berta. Berta Cáceres’ Name fand sich bereits im Jahr 2013 auf einer Todesliste. Sie erhielt über die Jahre eine Vielzahl von Morddrohungen. Viele glaubten, dass man es nicht wagen würde, Berta Cáceres zu ermorden, weil sie zu bekannt war. Doch in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 erschossen Auftragsmörder sie in ihrem eigenen Haus. Der Zeuge Gustavo Castro, mit dessen Anwesenheit die Mörder nicht gerechnet hatten, wurde angeschossen. Er überlebte, weil er sich tot stellte. Die schockierende Botschaft der Mörder an die Öffentlichkeit bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten. In dem Jahr seit Bertas Tod wurden weitere Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen ermordet: Nelson García und Lesbia Urquía von COPINH, José Ángel Flores und Silmer Dionisio George von der Bauernbewegung MUCA, José Santos Sevilla, aus der Führung des indigenen Volks der Tolúpan. Honduras ist, wie die internationale NGO Global Witness in ihrem Ende Januar erschienenen Bericht feststellt, das gefährlichste Land weltweit für Umweltschützer*innen und Kämpfer*innen für Landrechte. Der Mordfall Berta Cáceres droht sich als beispielhaft für eine Gesellschaft zu erweisen, in der Morde und Attentate durch die höchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise gedeckt werden.

Global Witness stellt aktuell fünf Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landkonflikten ausführlich dar und benennt Mitverantwortliche aus Politik, Wirtschaft und Militär. Seither läuft eine Diffamierungskampagne gegen die Verfasser*innen des Berichts sowie gegen die Gemeinden und Organisationen, die Informationen dazu beigetragen haben. Einmal mehr handeln die honduranischen Autoritäten nach dem Motto: diffamieren und kriminalisieren anstatt ernsthaft zu ermitteln. Am 8. Februar 2017 wurde Óscar Aroldo Torres Velásquez als achter Tatverdächtiger im Mordfall Berta Cáceres verhaftet. Er soll derjenige sein, der auf den einzigen Zeugen Gustavo Castro geschossen hat. Zwei der Beschuldigten haben Verbindungen zum Staudammunternehmen Desarrollos Energéticos S.A. (DESA), das für den Bau des von COPINH abgelehnten Wasserkraftprojekts Agua Zarca auf indigenem Territorium verantwortlich ist. Vier der Beschuldigten sind Militärs oder Ex-Militärs.

Bereits im Juni 2016 sprach ein weiterer ehemaliger Militärangehöriger gegenüber der Zeitung The Guardian von einer Todesliste, auf der Cáceres’ Name gestanden habe. Im September 2016 entdeckten Mitglieder von COPINH einen Militärspion in ihren Reihen, der Informationen über ihre Aktivitäten an das Präsidialamt schickte. „DESAs Verflechtungen mit dem honduranischen Militär reichen bis in die obersten Ränge. Dem Unternehmensregister zufolge, in das Global Witness Einsicht hatte, ist DESAs Präsident Roberto David Castillo Mejía ein ehemaliger Geheimdienstoffizier und Angestellter des staatlichen Energieunternehmens Empresa Nacional de Energía Eléctrica“, so Global Witness. Bereits 2009 habe es Indizien für korrupte Geschäfte Castillos gegeben. Unter anderem bezog er noch ein Gehalt der Armee, nachdem er dort ausgeschieden war und verkaufte überteuerte Waren an seinen ehemaligen Arbeitgeber. In DESAs Vorstand sitzen Vertreter der gut vernetzten wirtschaftlich-politischen Elite wie Ex-Minister Roberto Pacheco Reyes oder der Präsident der Bank BAC Honduras, Jacobo Nicolás Atala Zablah, der zu einer der reichsten und einflussreichsten Familien des Landes gehört.

Die international investigativ tätige NGO Global Witness zeigt sich in ihrem Bericht davon überzeugt, dass die Auftraggeber*innen im Mordfall Cáceres in der gesellschaftlichen Hierarchie weiter oben stehen als die bisher Verhafteten. Die Verfasser*innen der Recherchen halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass die Hintermänner gefasst werden, wenn sie wirklich Verbindungen in die oberen Ebenen des Staudammprojekts oder des Militärs besitzen.

Nicht nur im Mordfall Berta Cáceres hat Global Witness belastendes Material gegen führende Unternehmer*innen, Politiker*innen oder Militärs zusammengetragen, etwa gegen die Vorsitzende der Nationalen Partei, Gladis Aurora López. So ist die Diffamierungskampagne, die bereits vor der Vorstellung der Studie begann, kaum verwunderlich. Es tauchten manipulierte Plakate im Internet auf, auf denen die Lenca- Organisationen MILPAH und COPINH, das Honduranische Zentrum zur Förderung der Gemeindeentwicklung CEHPRODEC sowie die NGO Global Witness bezichtigt werden, Honduras in Misskredit zu bringen sowie ökonomisch davon zu profitieren. Auf einem solchen Plakat abgebildet ist unter anderem Berta Isabel Zúñiga, Tochter von Berta Cáceres. Während eines Auftritts in der Fernsehtalkshow Frente a frente wurden Billy Kyte von Global Witness sowie zwei Vertreter von MILPAH als „Lügner“, „Entwicklungsfeinde“ und „Feinde des honduranischen Volkes“ verbal attackiert. Der Staatssekretär für Energie, Ressourcen, Umwelt und Bergbau, José Antonio Galdames, forderte in einem Telefonanruf während der Sendung, dass die Staatsanwaltschaft Kyte verhaften solle.

Auch dem Mord an Berta Cáceres war eine Diffamierungskampagne vorausgegangen, in der die Koordinatorin des COPINH der Lüge bezichtigt wurde und COPINH-Mitgliedern Vandalismus unterstellt wurde. Besonders im Monat vor dem Mord häuften sich die Diffamierungen. Global Witness betonte nach der jüngsten Rufmordkampagne, dass ihre Mitarbeiter* innen durchaus ein positives Bild der honduranischen Bevölkerung hätten: „In der vergangenen Woche haben uns die Führungspersonen der Gemeinden und der Indigenen erneut inspiriert, die Frauen und Männer, die die Menschenrechte verteidigen, die Mitglieder der Nichtregierungsorganisationen. Sie sind Heldinnen und Helden. Wenn der Regierung ein besseres Honduras wirklich am Herzen liegen würde, würde sie deren Sicherheit garantieren und ihre Stimmen anhören.“

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