// Schlachtfeld Frauenkörper

Vergewaltigung als Vergeltung, als Foltermethode, als Mittel zur Unterdrückung und als Ausdruck militärischer Macht: Millionen Frauen und Mädchen sind im Kontext von bewaffneten Konflikten und Kriegen zu Opfern sexualisierter Gewalt geworden. In Kongo, Sudan, Bosnien und auch in Lateinamerika. Die Zahlen nehmen weltweit besorgniserregend zu. Im April verabschiedete der UN-Sicherheitsrat auf Initiative Deutschlands eine Resolution, die sexualisierte Gewalt in Krisengebieten bekämpfen und die Opfer stärken soll. Die Menschenrechtsanwältin Amal Clooney sprach vor dem Rat von einem „Nürnberg-Moment” in Anspielung auf die Nürnberger Prozesse gegen führende Nazionalsozialisten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Tatsächlich kann von Prozessen oder gar Verurteilungen in den meisten Fällen keine Rede sein. Im internationalen Strafrecht ist sexualisierte Gewalt zwar als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kodifiziert. Doch in der Praxis spiegelt sich das Ausmaß dieser Verbrechen weder in Prozessen noch in den Urteilen wider – die Straflosigkeit ist immens. „Kollektives Versagen” bescheinigte die jesidische Aktivistin Nadia Murad aus dem Irak der internationalen Gemeinschaft in ihrer Rede vor dem Sicherheitsrat. Murad wurde 2014, wie hunderte andere jesidische Frauen, vom sogenannten Islamischen Staat verschleppt und in ihrer Gefangenschaft vielfach vergewaltigt. Bisher, so Murad, sei kein einziger Täter verurteilt worden; bei der UN würden Reden gehalten, aber keine konkreten Maßnahmen ergriffen.

Es braucht mehr als Lippenbekenntnisse, um die unsäglichen Gräueltaten zu beenden.

Es sind auch staatliche Akteure, die − wie derzeit in Nicaragua − auf das Mittel sexualisierter Gewalt in Konfliktsituationen zurückgreifen (siehe Interview ab Seite 14). Aus zahlreichen Berichten von Opfern wissen wir, dass die Frauen nach ihrer Verhaftung mit der Integrität ihres Körpers den Preis dafür zahlen, dass das Aufbegehren der Zivilgesellschaft das Regime ins Wanken bringt. Wir wissen von Vergewaltigungen durch Paramilitärs und Polizei, von Wärtern, die Gefangene zwingen, sich vor ihnen nackt auszuziehen, von grabschenden Polizisten und von der Verweigerung medizinischer Hilfe bei durch Folter provozierter Fehlgeburten. Für diese Taten werden weder das Präsidentenpaar Ortega-Murillo noch ihre Befehlsempfänger vor einem Internationalen Strafgerichtshof landen.

Und auch die mindestens 24.000 kolumbianischen Frauen, die während des bewaffneten Konflikts Opfer sexualisierter Gewalt durch Paramilitärs, FARC-Guerilla und Soldaten der staatlichen Armee geworden sind, haben von der neuen Resolution nicht viel zu erwarten. Nachdem Präsident Iván Duque angekündigt hat, die Übergangsjustiz, die als Teil des Friedensabkommens geschaffen wurde und über eine eigene Ermittlungsgruppe zu sexualisierter Gewalt verfügt, in ihren Zuständigkeiten zu beschneiden, fürchten die Frauen um die erhoffte Aufarbeitung. Der normale Rechtsweg bei solchen Verbrechen führt in Kolumbien in 90 Prozent der Fälle zu Straflosigkeit.

Die UN-Resolution ist ein wichtiges Signal, doch es braucht mehr als Lippenbekenntnisse, um die unsäglichen Gräueltaten, die im Kontext von Kriegen und bewaffnet ausgetragenen Konflikten an Frauen begangen werden, zu beenden. Das zeigen auch bisherige UN-Resolutionen zum Thema, denn viel hat sich seitdem nicht geändert. Ein Strafgerichtshof für sexualisierte Gewalt, wie ihn Amal Clooney vorschlägt, wäre eine konkrete Maßnahme. Da die USA und Russland den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für „tot” befinden und als gescheitertes „Experiment” ansehen, müssten andere Länder gemeinsam ein eigenes Gericht zur Aufarbeitung von Sexualverbrechen in Konflikten gründen.

Ob die Opfer von der Resolution die Anerkennung ihres Rechts auf körperliche Unversehrtheit erhoffen dürfen, wird davon abhängen, ob die UN tatsächlich wirksame Instrumente schafft, die zur Verurteilung der Täter führen können.

 

// Die Redaktion


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UNERWARTETER RÜCKSCHLAG

Die Ergebnisse überraschten. Entgegen den Vorwahlprognosen gewann die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) bei den Regionalwahlen am 15. Oktober in 18 von 23 Staaten. Landesweit holte sie etwa 54 Prozent der Stimmen. Das rechte Oppositionsbündnis Tisch der Demokratischen Einheit (MUD) errang mit fünf Gouverneursposten zwar zwei mehr als bei den vorangegangenen Wahlen 2012. Doch angesichts der tief greifenden Wirtschaftskrise und verbreiteten Unzufriedenheit in der Bevölkerung hatten sich die Regierungsgegner*innen deutlich mehr erhofft.

Laut Verfassung hätten die Regionalwahlen eigentlich bereits Ende 2016 stattfinden müssen. Mit fast einem Jahr Verspätung wurden nun zumindest die Gouverneur*innen, nicht aber die legislativen Vertretungen gewählt. Die Opposition konnte immerhin die beiden strategisch bedeutsamen Staaten Zulia und Táchira an der Grenze zu Kolumbien für sich entscheiden. Darüber hinaus gewannen MUD-Kandidat*innen im angrenzenden Mérida, dem zentralen Anzoátegui sowie dem Inselstaat Nueva Esparta. Der PSUV dagegen gelang eine symbolischer Erfolg im bisher oppositionell regierten Küstenstaat Miranda. Hier setzte sich der Nachwuchspolitiker Héctor Rodríguez durch.

Noch am Wahlabend sah es zunächst danach aus, als weise der MUD die Wahlergebnisse geschlossen zurück: „Zum jetzigen Zeitpunkt erkennen wir keines der Resultate an“, verkündete der Leiter der oppositionellen Wahlkampagne, Gerardo Blyde. Vereinzelt sprachen MUD-Vertreter*innen direkt von Betrug.

Vor allem sah sich die Opposition aber bereits im Vorfeld der Wahl benachteiligt. Dem Nationalen Wahlrat (CNE) warf sie vor, auf die Demobilisierung ihrer Wählerschaft hingearbeitet zu haben. Unter anderem hatte der CNE 212 Wahllokale (knapp 1,5 Prozent) „aus Sicherheitsgründen“ kurzfristig verlegt, häufig von Hochburgen der Opposition in chavistisch dominierte Viertel. Zudem durfte die Opposition ihre in internen Vorwahlen unterlegenen Kandidat*innen nicht löschen, so dass diese auf den Bildschirmen der Wahlcomputer erschienen, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr zur Wahl standen.

Die Opposition sah sich im Vorfeld der Wahl benachteiligt.

Die Beteiligung stieg gegenüber den letzten Regionalwahlen zwar um sieben Prozentpunkte auf gut 61 Prozent, dass die Opposition im Vergleich zur Parlamentswahl Ende 2015 jedoch fast drei Millionen Stimmen verlor, liegt allerdings vor allem an eigenen Fehlern. Die von Anfang April bis Ende Juli andauernden Proteste, bei denen mindestens 120 Menschen ums Leben kamen, hatten dem MUD außer auf internationalem Pakett keinerlei Erfolg eingebracht. Eine unklare Strategie, interne Uneinigkeit und die offene Diskreditierung des Wahlsystems dürfte zudem viele Wähler*innen verprellt haben. Die beiden rechts außen stehenden kleineren Parteien Vente Venezuela und Alianza Bravo Pueblo hatten die Regionalwahlen außerdem von vornherein boykottiert und fühlen sich nun bestätigt.

Nach einem aus Sicht der Opposition völlig verkorksten Jahr zeigt sich, wie schwach der Zusammenhalt bei den Regierungsgegner*innen ist. Nur wenige Tage nach den verlorenen Regionalwahlen brach offener Streit über den Umgang mit der Regierung und die zukünftige Teilnahme an Wahlen aus. Auslöser war zunächst die Haltung der früheren sozialdemokratischen Regierungspartei Acción Democratica (AD), die vier der insgesamt fünf oppositionellen Gouverneursposten erringen konnte. Deren gewählte Gouverneur*innen Laidy Gómez (Táchira), Juan Barreto Sira (Mérida), Alfredo Díaz (Nueva Esparta) und Ramón Guevara (Anzoátegui) leisteten ihren Amtseid zwei Tage nach der Wahl vor der umstrittenen Verfassunggebenden Versammlung ab. Die Regierung hatte andernfalls mit Neuwahlen in den betroffenen Staaten gedroht. Der fünfte oppositionelle Gouverneur, Juan Pablo Guanipa von der Partei Primero Justicia (PJ, Zulia), weigerte sich hingegen und darf sein Amt nun nicht antreten.

Die Verfassungsgebende Versammlung wurde unter dem Boykott der Opposition gewählt.


Hintergrund ist, dass die Opposition die Verfassunggebende Versammlung nicht anerkennt. Diese war Ende Juli unter Boykott aller Oppositionsparteien gewählt worden und steht laut ihren Statuten über allen anderen staatlichen Gewalten. Die vier oppositionellen Gouverneur*innen brachen den bisherigen Konsens innerhalb des MUD, wonach die Verfassung-gebende Versammlung eine illegale Institution sei und gegen die bestehende Verfassung verstoße. Bereits bei deren Wahl, an der sich laut offiziellen Angaben gut 41 Prozent der Wähler*innen beteiligt hatten, gab es Betrugsvorwürfe. Im Gegensatz zu den Regionalwahlen waren Vertreter*innen der Opposition damals allerdings nicht in den Abstimmungslokalen präsent.

Henrique Capriles von der PJ (Foto: Wikimedia (CC BY-SA 3.0) )

Nach der Vereidigung der oppositionellen Gouverneur*innen traten die schon länger schwelenden internen Spannungen offen zu Tage. Der zweifache Ex-Präsident­schaftskandidat Henrique Capriles Radonski von Primero Justicia warf AD-Chef Henry Ramos Allup vor, seit dem oppositionellen Sieg bei den Parlamentswahlen Ende 2015 nur auf eine eigene Präsidentschaftskandidatur geschielt zu haben und sich bei der Regierung anzubiedern. „Ich spreche nur für mich und nicht meine Partei. So lange Herr Ramos Allup Teil des MUD ist, werde ich dort nicht weitermachen“, verkündete Capriles. Ramos Allup reagierte verschnupft. Für viele sei die Vereidigung der Gouverneur*innen nur ein willkommener Anlass, Acción Democrática anzugreifen, diesbezüglich werde er aber „mit niemandem diskutieren“. Doch eindeutig ist seine Position aber nicht: Hatte der AD-Chef den gewählten Gouverneur*innen kurz nach der Wahl noch frei gestellt, ob sie sich vor der Verfassunggebenden Versammlung vereidigen lassen würden, behauptet er nun, sie hätten gegen die Parteilinie gehandelt und sich daher „selbst ausgeschlossen“.

Der abgewählte Ex-Gouverneur des Staats Lara, Henri Falcón von der Regionalpartei Avanzada Progresista, bezichtigte derweil Primero Justicia und Voluntad Popular bei den Regionalwahlen „gegen ihn gespielt“ zu haben. Als einer der wenigen Oppositionspolitiker gestand er seine Wahlniederlage ein.

Die internen Streitigkeiten spielen der geschwächten Regierung unter Nicolás Maduro in die Hände, die nach einem langen Umfragetief wieder aufatmen kann. Hatte die Regierung die Regionalwahlen noch um fast ein Jahr verzögert, beschloss die Verfassunggebende Versammlung nun, dass die ebenfalls noch ausstehenden Kommunalwahlen bereits am 10. Dezember stattfinden sollen.

Die drei wichtigsten Oppositionsparteien Voluntad Popular, Primero Justicia und Acción Democrática kündigten daraufhin getrennt voneinander an, die anstehenden Wahlen zu boykottieren. Stattdessen wollen sie sich für eine transparente Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr einsetzen. Viele kleinere Parteien des MUD-Bündnisses nehmen an den Kommunalwahlen hingegen teil. Einzelne Mitglieder der größeren Parteien treten zudem auf dem Ticket kleinerer Parteien an.

Der prominenteste Fall ist Yon Goicoechea. Anfang November wurde der junge Politiker der rechten Partei Voluntad Popular überraschend aus der Haft entlassen. Im August vergangenen Jahres war bei ihm im Vorfeld einer geplanten Großdemonstration nach offiziellen Angaben Sprengstoff gefunden worden. Obwohl ein Gericht im darauf folgenden Oktober seine Freilassung angeordnet hatte, verbrachte er über ein Jahr inhaftiert im Hauptsitz des Geheimdienstes Sebin. Nun kündigte Goicoechea an, als Kandidat von Henri Falcons Partei Avanzada Progresista für das Bürgermeisteramt der oppositionellen Hochburg El Hatillo im Großraum von Caracas zu kandidieren. „Es ist ein großer Fehler, nicht an den Kommunalwahlen, dann aber an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen“, begründete er den Schritt. Seine Partei Voluntad Popular wolle er trotz der Diskrepanzen über das taktische Vorgehen jedoch nicht verlassen. Beinahe zeitgleich mit Goicoecheas Freilassung suchte dessen Parteifreund, der Parlamentsabgeordnete Freddy Guevara, Zuflucht in der chilenischen Botschaft. Zuvor hatte das Oberste Gericht seine Immunität aufgehoben, ihm soll wegen Aufrufen zu Gewalt der Prozess gemacht werden.

Goicoecheas Ankündigung sorgte für harsche Kritik seitens der großen Oppositionsparteien. Gleiches gilt für die Kandidatur Manuel Rosales‘ von der viertgrößten Oppositionspartei Un Nuevo Tiempo. Der Präsidentschaftskandidat von 2006 und ehemalige Gouverneur von Zulia will bei der ebenfalls am 10. Dezember stattfindenen Neu-wahl in dem westlichen Bundesstaat antreten. Aufgrund von Korruption dürfte er eigentlich zurzeit keine offiziellen Ämter bekleiden. Kurz nach den Regionalwahlen hob das Oberste Gericht (TSJ) den Beschluss allerdings auf. In einem gemeinsamen Kommunique wendeten sich Voluntad Popular und Primero Justicia gegen Politiker*innen der Opposition, die „die derzeitige Situation ausnutzen, um ihre persönlichen Projekte voranzutreiben“.

Streitigkeiten in der Opposition spielen der geschwächten Regierung in die Hände.

Doch auch der Chavismus tritt nicht überall geschlossen auf. Die kleineren Bündnispartner der PSUV bemängeln, dass die Regierungspartei vielerorts eigenmächtig ihre Leute durchsetze. In Libertador, dem größten Teilbezirk von Caracas, registrierten sich gleich mehrere chavistische Kandidat*innen. Zudem hat sich mit Nicmer Evans ein Vertreter des so genannten kritischen Chavismus eingeschrieben, der die Regierung Maduro ablehnt.

Sollte die Opposition ihre internen Probleme nicht bald in den Griff bekommen, hätte Maduro sogar bei den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 reelle Siegchancen. Gefährlicher als der MUD dürfte für ihn vorerst die weitere wirtschaftliche Entwicklung sein. Nach weit verbreiteter Meinung steht Venezuela kurz vor der Staatspleite. Maduro kündigte Anfang November eine Neustrukturierung der Auslandsschulden an, die vor allem China und Russland, aber auch private Banken und Fonds, beträfe. Sollten sich einzelne Gläubiger widersetzen, droht ein sofortiger Zahlungsausfall. Die Ende August verhängten US-Sanktionen erschweren eine weitere Schuldenaufnahme Venezuelas. Auch die EU drängt derzeit auf die Verabschiebung von Sanktionen. Und wenige Tage nach den Kommunal-wahlen wird das Europäische Parlament die „demokratische Opposition“ Venezuelas mit dem diesjährigen Sacharow-Preis für geistige Freiheit ehren. Entgegennehmen soll die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung Parlamentspräsident Julio Borges von der Partei Primero Justicia. Ob dieser dann überhaupt die Mehrheit der rechten Opposition repräsentiert, darf nach der gerade ausgebrochenen internen Krise bezweifelt werden.

 


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TWITTER-ATTACKE AUS DER DACHKAMMER

Foto: Asamblea Nacional del Ecuador (CC BY-SA 2.0) (https://www.flickr.com/photos/asambleanacional/34029387204)

Ecuadors Ex-Präsident Rafael Correa ist für viele Menschen eine Lichtgestalt inmitten des Elends von Rechtspopulismus und Neoliberalismus, das die Weltpolitik heute prägt. Correa ist zwar jetzt nicht mehr Präsident, aber seine Partei Alianza País hat immerhin die vergangenen Wahlen im Frühjahr gewonnen – im Unterschied zu Argentinien und Brasilien, wo die traditionelle Rechte wieder an der Regierung ist. Es gibt also noch Hoffnung für den progressiven Kontinent Lateinamerika. Correa steht, aus der Ferne betrachtet, einfach für bestimmte Werte: Er stand immer auf der Seite der einfachen Leute, hat die Armut verringert, eine antiimperialistische Außenpolitik betrieben, die Weltbank aus dem Land geworfen. Er steht für Ehrlichkeit, Transparenz – ein aufrechter Kämpfer für linke Ideale.

Nur kann er heutzutage sein eigenes Land nicht mehr betreten. Wenn er es täte, stünden die Chancen gut, dass er wegen Korruptionsverdacht in Untersuchungshaft käme. Dieses Schicksal hat am 2. Oktober Ecuadors Vizepräsidenten, Jorge Glas, ereilt, den Correa per Twitter immer noch voller Pathos verteidigt: „Ein ehrlicher Mann hat seine Freiheit eingebüßt. Die Welt möge erzittern!“, schrieb er beispielsweise am darauffolgenden Tag. Dieses Drehbuch hat Ecuador in den vergangenen Jahren und Monaten bereits mehrfach mit hohen Funktionären der Correa-Regierung erlebt: Dem Präsidenten der Zentralbank, dem Erdölminister, dem obersten Rechnungsprüfer – die sich im Unterschied zu Glas jedoch allesamt rechtzeitig nach Miami absetzten. Rafael Correa verbürgt sich stets für seine hochrangigen Mitarbeiter*innen, selbst wenn die Indizien schon so unwiderlegbar auf dem Tisch liegen, dass man sich für ihn zu genieren beginnt. Wenn die Indizien dann zu Beweisen werden, bringt er sein tiefes Entsetzen zum Ausdruck darüber, dass er verraten und getäuscht worden sei. Er selbst besteht darauf, als der größte, beste Präsident Ecuadors in die Geschichte einzugehen, und sendet nun seine Samstagsansprachen – während seiner Amtszeit eine institutionelle Machtinszenierung mit riesiger Bühne, Hunderten von „Jubelpersern“ und Liveübertragung auf allen Kanälen – per Internet, aus einer Dachkammer in Belgien. Dort, im Heimatland seiner Frau, lebt er seit Juli mit der Familie. „Der Irre aus der Dachkammer“, so bezeichnet ihn ein in Ecuador populärer Hashtag. In der Tat macht der Ex-Präsident in letzter Zeit oft den Eindruck, als verstünde er die Welt nicht mehr, seit sie sich nicht mehr um ihn dreht.

„Verrat“ und „weicher Putsch“ sind zwei sehr beliebte Vokabeln bei den Funktionär*innen von Alianza País, der Partei von Correas „Bürgerrevolution“. Der Ex-Präsident wendet sie sogar gegen seinen Parteigenossen und Nachfolger an, Präsident Lenín Moreno, der seit dem 24. Mai im Amt ist. Der 64-jährige Moreno stammt aus einem kleinen Ort im Amazonasgebiet an der Grenze zu Peru. 1998 wurde er Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls in Quito und sitzt seither im Rollstuhl. Als Vizepräsident von Rafael Correa (2007-2013) machte er sich vor allem durch die Misión Solidaria Manuela Espejo einen Namen, ein neues, landesweites Programm zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen, das rund 300.000 Menschen umfassend unterstützte und international hoch gelobt wurde. 2013 beschloss Moreno, nicht mehr für das Amt des Vizepräsidenten zu kandidieren und wurde von den Vereinten Nationen als Sondergesandter für Behinderung und Barrierefreiheit nach Genf berufen. Für die Präsidentschaftswahlen in diesem Frühjahr kehrte er von dort zurück.

Bis zu den Wahlen sah es so aus, als wäre Lenín Moreno ein treuer Gefolgsmann Correas.

Bis zu den Wahlen sah es so aus, als wäre Lenín Moreno ein treuer Gefolgsmann Correas, bereit, vier Jahre zu regieren, um dann die Rückkehr des eigentlichen, unumstrittenen Chefs der Bürgerrevolution zu ermöglichen. Die Option auf dessen unbegrenzte Wiederwahl war Ende 2015 mithilfe der Zweidrittelmehrheit, die Alianza País damals im Parlament hatte, im Rahmen einer Verfassungsreform verabschiedet worden, trotz massiver Proteste aus der Bevölkerung. Sie beinhaltete unter anderem ein Streik– und Organisierungsverbot im Öffentlichen Dienst, grünes Licht für Einsätze des Militärs zur Inneren Sicherheit sowie eine Einschränkung von Volksabstimmungen, die seitdem nur von der Regierung, also von oben, angestoßen werden können. Um der politischen Stabilität Willen und auch weil die Umfragen eindeutig für Moreno sprachen, wurde Correas Kandidatur für die Wahl im Frühjahr 2017 einmalig ausgesetzt. Doch mit dem temporären Umweg über Lenín Moreno, der knapp gegen den konservativen Bankier Guillermo Lasso gewann, würde schließlich doch noch alles gut werden.

Doch schon wenige Wochen nach dem Wahlsieg von Moreno waren sich der Präsident und sein Vorgänger spinnefeind. Aus seinem selbstgewählten Exil twittert Correa ununterbrochen Beschimpfungen: „Mittelmäßig“ sei Moreno, „illoyal“, ein „Verräter“, der mit der „Rechten gemeinsame Sache“ mache und über die Wirtschaftslage des Landes „lüge“. Correa selbst hatte behauptet, ökonomisch einen „gedeckten Tisch“ zurückzulassen, an dem man sich nur noch bedienen müsse. Doch nachdem Moreno die Staatsfinanzen durchleuchtet hatte, läutete er die Alarmglocken: Das kleine Land sei viel höher verschuldet als angegeben und damit kaum manövrierfähig, allein acht Milliarden Dollar jährlich seien notwendig, um das Haushaltsdefizit und den Schuldendienst abzudecken.

Bisher hat Moreno wirtschaftspolitisch noch keine Richtung vorgegeben – und auch sonst weiß niemand, wohin er das Land eigentlich führen will. Er hat lediglich einen bewussten Bruch mit dem Regierungsstil seines Vorgängers herbeigeführt, was die Nomenklatura von Alianza País zutiefst verunsichert. Denn das bedeutet die allmähliche Demontage des nach allen Seiten hin abgesicherten Machtapparats, der seit Jahren sowohl die Bereicherung einer neuen Politiker*innenkaste als auch die autoritäre Durchsetzung offizieller Wahrheiten ermöglicht hatte.

Lenín Moreno rief nicht nur alle politischen und organisierten Kräfte des Landes zum Dialog auf. Er tauschte die linientreuen Chefredakteure der staatlichen Medien aus und forderte die privaten Medien offensiv auf, investigativ und kritisch zu berichten, gerade im Kontext von Korruption; dieselben Medien, die unter Correa stets als Lügenpresse beschimpft und mit Gerichtsverfahren überzogen worden waren, bis schierer Überlebenswille bei vielen Selbstzensur zur Regel machte. Kritisch wurde in Ecuador in den vergangenen Jahren nur noch auf Blogs berichtet.

Diese neue Haltung gegenüber den Medien hat nun eine Serie von Enthüllungen zur Folge, die unter anderem aufdeckt, wie Correas Machtclique ausnahmslos alle staatlichen Institutionen – insbesondere die öffentlichen Kontrollinstanzen, das Verfassungs- und Wahlgericht sowie die Justiz – direkt von der Exekutive aus gesteuert hat. Und wie man bei eventuellem Ausscheren schnell seinen Job verlieren konnte: Emails, in denen die oberste Justizverwaltung um die Entlassung von Richter*nnen gebeten wird, weil sie Klagen gegen den Staat stattgegeben oder Umweltschützer*innen freigesprochen haben; oder Tweets, in denen der Geheimdienst SENAIN direkt aufgefordert wird, gegen Kritiker*innen vorzugehen – „SENAIN, bitte kümmern.“

Auf einem Video ist der Onkel des Vizepräsidenten Jorge Glas zu sehen, wie er dicke Geldbündel in eine Reisetasche stopft, wie in einem Gangsterfilm. Dieser Onkel hat die Verhandlungen um große Verträge mit China geführt – in Bezug auf Öl, Bergbau und Kredite, obwohl er keinerlei Staatsamt innehatte. Glas behauptete im Takt der Enthüllungen zunächst, ihn gar nicht zu kennen; dann, ihn nur an Weihnachten zu sehen; dann, dass er ausschließlich wegen seines Satelliten-Fernsehsenders mit ihm per Email kommuniziert habe; schließlich, dass er doch auch nichts dafür könne, einen so korrupten Verwandten zu haben.

Der wichtigste Vorwurf von Correas Gefolgsleuten gegen Lenín Moreno, der auch gern von „linken“ Medien im Ausland kolportiert wird, lautet, er würde mit der Rechten gemeinsame Sache machen.

Der wichtigste Vorwurf von Correas Gefolgsleuten gegen Lenín Moreno, der auch gern von „linken“ Medien im Ausland kolportiert wird, lautet, er würde mit der Rechten gemeinsame Sache machen. Doch bisher hat der neue Präsident sich lediglich mit konservativen Politiker*innen an einen Tisch gesetzt wie auch mit linken, Indigenen, Unternehmer*nnen, Gewerkschaften – im Rahmen eines umfassenden Dialogprogramms. Dass er von Konservativen für die Wiederherstellung einer lebendigen politischen Debatte im Land gelobt wird, macht ihn noch lange nicht zu deren Komplizen. Vielmehr ist es die Verantwortung der Führungsriege von Alianza País, dass Themen wie Meinungs-, Organisations- und Pressefreiheit, Gewaltenteilung und Transparenz in den vergangenen Jahren von der politischen Rechten vereinnahmt werden konnten.

Gleichzeitig wird Ecuador immer tiefer in den Korruptionsskandal hineingezogen, der rund um Verträge des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht die ganze Region erschüttert (siehe LN 519/520) und als der größte Bestechungsskandal der Geschichte Lateinamerikas gilt. Er wirkt weit über die Grenzen Brasiliens hinaus: Derzeit wird gegen hochrangige, progressive wie neoliberale, Politiker*innen und Ex-Präsident*innen aus 15 Ländern ermittelt, die allesamt Schmiergelder entgegengenommen haben sollen. Unter anderem sitzen der peruanische Ex-Präsident Ollanta Humala und seine Frau deshalb in Unter-suchungshaft, und jetzt auch der ecuadorianische Vizepräsident Jorge Glas. Marcelo Odebrecht, Kopf des Odebrecht-Konzerns, war bereits 2015 verhaftet und zu 19 Jahren Haft verurteilt worden. Dank Kronzeugenregelung benennen er und weitere Manager*innen derzeit nach und nach die Empfänger*innen der Millionenschmiergelder, die Odebrecht ein Quasi-Monopol bei großen Infrastrukturvorhaben in Lateinamerika verschafft hatten.

Der tiefe Riss, der Alianza País heute durchzieht, ist nicht mehr zu kitten. Was ist die bessere Strategie, um die eigene politische Zukunft zu retten? Das fragen sich derzeit zahlreiche Wendehälse: Zu Correa halten, der als einziger in der Lage wäre, den Sumpf aus Korruption, der offenbar zehn Jahre lang gewachsen ist, wieder zu deckeln, oder sich rechtzeitig auf die Seite der „rückhaltlosen Aufklärung“ und damit auf die Seite Morenos zu schlagen?

So feiert die Doppelmoral auch im Sozialismus des 21. Jahrhunderts fröhliche Urstände. Die Weltbank wurde von Correa längst nach Ecuador zurückgeholt, in den vergangenen Jahren stieg die Armut wieder, und vom Antiimperialismus bleibt nur hohle Rhetorik. Die jüngsten Fakten legen nahe, dass die Anführer*innen der Bürgerrevolution den durch die hohen Ölpreise bewirkten Geldsegen nicht nur in die Infrastruktur des Landes, sondern zu einem erheblichen Teil auch in die eigenen Taschen gesteckt haben. Unbeirrt behauptet der harte Kern um Correa dennoch bis heute, man habe stets eine „Revolution der Ethik“ vorangetrieben und Korruption bis aufs Messer bekämpft. Dabei ist noch nicht ansatzweise aufgeklärt, wie viel Geld rund um die Öl- und Bergbaugeschäfte mit China versickert ist.

Anfang kommenden Jahres soll nun ein Referendum abgehalten werden, mit dem Moreno seine Position konsolidieren und den Rivalen Correa endgültig aus dem Rennen werfen will. Sieben Fragen hat er dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt, unter anderem die Abschaffung der unbegrenzten Wiederwahl. Auch wenn das für eine wirkliche Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse nur wenige, zaghafte Schritte sind, so beinhaltet die aktuelle Situation doch eine Chance für Ecuador und die Linke. Die Chance, doch noch aus der Geschichte zu lernen: Nämlich dass Emanzipation nicht von Lichtgestalten ausgeht, die an der Spitze eines pyramidalen Machtapparats stehen, sondern von unten links, und dass sie einer lebendigen, organisierten, kritischen Öffentlichkeit bedarf, die sich an der politischen Debatte um die Zukunft aktiv beteiligt.

 


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“BEWEGUNGSPARTEI STATT BEWAFFNETEM KAMPF”

Foto: David Graaff

Durch die Verwandlung in eine politische Partei, die sich mehr als 1000 Delegierte umfassend Ende August in einem großen Kongresszentrum der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá vollzog, schickt sich die ehemals größte und älteste Guerilla Lateinamerikas nun an, ihren Kampf für ein „Neues Kolumbien“ ohne Waffen fortzuführen.

Die Parteigründung ist Teil der Friedensvereinbarungen von Havanna, in denen die „farianos“ mit der Regierung Juan Manuel Santos das Ende des bewaffneten Konflikts ausgehandelt hatten. Nun geht es, nachdem die FARC ihre Waffen an die Vereinten Nationen übergeben haben, mit deren Umsetzung weiter, worunter die vereinbarten Maßnahmen zur Landreform ebenso fallen, wie die Schaffung des Systems der Sonderjustiz, in dem die von beiden Seiten begangenen Verbrechen des bewaffneten Konflikts aufgearbeitet werden sollen. „Wir haben das Feuer eingestellt, wir haben uns in den Übergangszonen versammelt, wir haben eine vollständige Waffenniederlegung vollzogen, ein Inventar unserer Kriegsökonomie angefertigt und damit begonnen, alle unsere Besitztümer zu übergeben. Ich wünschte, der kolumbianische Staat hätte bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen die gleiche Sorgfalt gezeigt“, sagte der ehemalige Oberkommandierende der FARC und neue Parteivorsitzende Rodrigo Londoño, der besser unter seinem Pseudonym „Timoleón Jiménez“ bzw. „Timochenko“ bekannt ist, als er vor tausenden Menschen auf der Plaza Bolivar sprach und Scheinwerfer das neue FARC-Logo, eine rote Rose, auf die umliegenden Gebäude, darunter das Kapitol, projizierte. Damit spielte er nicht nur auf die zähe Verabschiedung der entsprechenden Gesetze und Normen im Kongress an, sondern auch auf die zunehmende Zahl von getöteten Aktivist*innen.

Laut einer Mitte August veröffentlichten Studie der NGO „Somos Defensores“ wurden seit Jahresbeginn 51 Aktivist*innen ermordet und zunehmend scheinen auch ehemalige FARC-Kämpfer*innen und ihre Familienangehörige ins Visier zu rücken. Hinter den Taten vermuten Analyst*innen des Forschungsinstituts INDEPAZ einen paramilitärischen Komplex, der aus bewaffneten Organisationen mit Interessen an illegalen Geschäften wie Drogenhandel und Bergbau besteht, zu dem aber auch lokale Eliten oder anti-subversive Einzelakteure innerhalb staatlicher Institutionen wie dem Militär oder dem Geheimdienst gehören. Die derzeit mächtigste bewaffnete Organisation, die Gaitanistischen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AGC), erklärte Anfang September ihre Bereitschaft, in Verhandlungen mit der Regierung treten zu wollen. Schon seit längerem haben AGC-Vertreter*innen die Nähe zu Kongressabgeordneten und der internationalen Vertreten gesucht und laut der spanischen Zeitung El Mundo gab es bereits Wochen zuvor erste Gespräche zwischen AGC-Vertreter*innen und Regierungsmitgliedern.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen.

Unabhängig aber von den gesamtpolitischen Entwicklungen ging es für die FARC in Bogotá darum, sich als Organisation neu aufzustellen. Aus dem ehemaligen 31 Mitglieder umfassenden Generalstab wurde ein aus mit 111 Mitgliedern recht großes neues Führungsorgan, der Nationalrat der Kommunen. Dieser bestimmte einen 15-köpfigen Politischen Rat, an dessen Spitze Timochenko steht. Personell gibt es damit wenig Erneuerung, was angesichts der straffen, horizontalen Organisationsstruktur der FARC als Guerilla wenig überraschend scheint. Die Delegierten stimmten, nicht nur was den Namen betrifft, für Kontinuität. Die Mitglieder des Sekretariats, des alten Führungsorgans der FARC, finden sich auch in der neuen Parteiführung wieder und im Nationalrat stehen neben ihnen vor allem verdiente Kommandanten und hochbetagte ehemalige Sekretariatsmitglieder, die zum Teil noch die Gründung der FARC anno 1964 miterlebt haben. Die FARC, die nach der Trennung von ihrer „Mutterorganisation“, der Kommunistischen Partei Kolumbiens (PCC) Anfang der 1990er-Jahre militärische und politische Führung im Sekretariat gebündelt hatten, bleiben damit ein von Männern dominierter Verein, dessen Mitglieder ihre Position vor allem militärischen Erfolgen verdanken.

Bislang, möglicherweise auch aus Sicherheitsgründen, finden sich nur einige wenige soziale Aktivist*innen aus den der FARC nahstehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen im Nationalrat und mit dem Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Jairo Estrada, der als Mitglied der Gruppe Voces de Paz seit Monaten die Verabschiedung der Vereinbarungen im Parlament begleitet, steht nur eine Person im Führungsgremium der Partei, die noch nie ein Gewehr für die revolutionäre Sache abgefeuert hat. Zudem sind lediglich 24 der 111 Nationalratsmitglieder Frauen. Vier von ihnen, Sandra Ramírez, Erika Montero, Victoria Sandino und Liliana Castellanos, die zum Teil bereits bei den Gesprächen von Havanna teilgenommen hatten und einen Geschlechterschwerpunkt in die Vereinbarungen hineinverhandelt hatten, schafften es in die Parteispitze. Auf sie geht auch zurück, dass sich die FARC, deren politische, am Marxismus-Leninismus orientierte politische Ideologie in der Vergangenheit oft als holzschnittartig und nicht mehr zeitgemäß beschrieben worden war, nun unter anderem als anti-patriarchale Partei bezeichnen und in der Geschlechterfragen keinen Nebenwiderspruch mehr zu sehen scheinen.

Welche langfristig die politischen Ziele der FARC sein werden, muss sich noch zeigen. In seiner Eröffnungsrede zu Beginn des Parteikongresses hatte Iván Márquez betont, die FARC wolle Teil eines historisch-gesellschaftlichen Prozesses sein, „der den Aufbau einer alternativen Gesellschaft ermöglicht, in der soziale Gerechtigkeit, wirkliche und fortgeschrittene Demokratie“ herrsche, „wirtschaftliche, soziale, ethnische, religiöse und geschlechtliche Diskriminierung und Ausgrenzung überwunden“ seien und ein würdevolles Leben in einer „neuen Art gesellschaftlicher Beziehungen in Kooperation, Brüderlichkeit und Solidarität“ garantiert werde. Die Vereinbarungen von Havanna, in denen es unter anderem um eine gerechtere Verteilung von Landbesitz geht, seien lediglich die Grundlage für weiterführende gesellschaftliche Veränderungen.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es zu teils heftigen Debatten.

Wie genau dieses „Neue Kolumbien“ aussehen und erreicht werden soll, darüber kam es, wie Delegierte berichteten, während des dreitägigen Kongresses, auf denen Arbeitsgruppen ein erstes Eckpunkteprogramm der neuen Partei erarbeiteten, zu teils heftigen Debatten. Das verwundert wenig, trafen doch in Bogotá erstmals FARC-Mitglieder aufeinander, deren Realität während des Konflikts sehr unterschiedlich war. Es trafen Kader aus den Kerngebieten der FARC im Süden Kolumbiens auf Mitglieder der städtischen Milizen, kleinbäuerlich Geprägte und vom Krieg Gebeutelte auf an Universitäten geschulte und vom urbanen Alltagsleben geprägte Aktivisten. So wurde unter anderem lange darüber diskutiert, ob im Parteistatut auf „das Werk und das politische Handeln von Marx und Lenin“ verwiesen werden solle. Ein Disput, den letztlich jener Flügel um den Parteivorsitzenden Timochenko gewann, der zumindest nach außen hin eine politisch-ideologische Erneuerung der FARC anstrebt und sich von alten Dogmen lösen will. „Einige scheinen nicht verstanden zu haben, dass wir an einem neuen Punkt unserer Geschichte angekommen sind und hier nun auch einen Sprung machen müssen. Viele in unserer Organisation behandeln den Marxismus-Leninismus, als wäre er eine Religion“, sagte der Schriftsteller Gabriel Angel, der FARC-Chef Timochenko nahe steht im Gespräch mit den LN am Rande des Kongresses.

Dieser „Tendenz“, wie Angel sie bezeichnet, gegenüber steht eine Gruppe um den ehemaligen Verhandlungsführer von Havanna Iván Márquez und dem ihm nahestehenden Jesús Santrích, die das historische Erbe eines mehr als fünf Jahrzehnte dauernden Kampfes bewahren wollen. Besonders Santrích gilt dabei als wenig kompromissbereiter Traditionalist, dessen Vertrauen wie bei nicht wenigen FARC-Kämpfer*innen darin, dass der legale Kampf für die politischen Ziele der FARC möglich wird, gering ausgeprägt ist. Der Genozid an den Mitgliedern der 1985 gegründeten Linkspartei Unión Patriótica ist ihnen dabei ebenso ein mahnendes Beispiel wie die ansteigende Zahl der Morde und die Fortexistenz paramilitärischer Gruppen.

Iván Marquez wird es aller Voraussicht nach sein, der die Senatsliste der FARC 2018 anführen wird. Laut der Vereinbarungen von Havanna stehen ihr in den kommenden zwei Legislaturperioden je fünf Sitze im Senat und Repräsentantenhaus zu, unabhängig davon wie die FARC-Kandidat*innen beim Urnengang abschneiden. Einen eigenen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl wenige Monate später wird man wohl nicht aufstellen, sondern stattdessen Stimmen zur Bildung einer Übergangsregierung und dessen Kandidaten beitragen wollen, der für die Umsetzung der Vereinbarung von Havanna eintritt. Es muss sich zeigen, ob es der neuen FARC-Partei einerseits gelingt, nicht nur in ihren Kerngebieten Stimmen einzusammeln, sondern gerade die Menschen in den Städten mit einem modernen Programm zu überzeugen. Ein Bestreben, das sich bereits an einem Diskurs abzeichnet, der sich an alle Unzufriedenen und unter dem neoliberalen Wirtschaftsmodell leidenden Bevölkerungsteile richtet. Andererseits muss sich nun zeigen, wie tief die FARC wirklich in der Zivilgesellschaft und in denen von ihr teils über Jahrzehnte kontrollierten Territorien verankert ist. Ein Aspekt, der ihnen in der Vergangenheit von anderen linken und revolutionären Kräften, darunter auch der Nationale Befreiungsarmee (ELN), oft abgesprochen wurde. Dass gesellschaftlicher Wandel nicht ausschließlich innerhalb der staatlichen Institutionen erkämpft werden kann, scheint der FARC, folgt man den Worten Iván Márquez, klar zu sein. Man sei Teil der politischen und sozialen Bewegung, die „mittels ihrer vielfältigen Kämpfe des Alltags neue Ausdrucksformen der gesellschaftlichen Macht hervorbringt und die Formen der Organisation der Staatsgewalt de facto ignoriert und überwindet“, sagte er vor den Delegierten des Parteikongresses und fügte hinzu: „Wir verstehen uns als Bewegungs-Partei“.


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„La Guajira erlebt gerade eine Reihe von Konflikten. Einige lassen sich bis zur Gründung der Republik Kolumbien zurückverfolgen“, erläutert Weildler Guerra Curvelo, der Gouverneur des Bundesstaates La Guajira, bei einer Konferenz vor Journalist*innen. „Die übrigen hängen hauptsächlich mit der schlechten Konjunktur zusammen, die wir gerade in unserem Verhältnis zu Venezuela erleben“. Seit Schließung der nördlichen Grenzübergänge im August 2015 ist der – legale und illegale – Handel mit dem Nachbarland zum Erliegen gekommen. Die abgelegene Halbinsel am nördlichsten Zipfel des Landes ist traditionell ein Umschlagplatz für Schmuggelgüter aus beiden Richtungen.

Die Handelsmetropole Maicao, auch bekannt als „kommerzielles Schaufenster Kolumbiens“, trägt seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Status eines zollfreien Gebietes und fungiert als wirtschaftliche Brücke zwischen Kolumbien und Venezuela. Neben dem legalen Handel mit verschiedenen Gütern, etwa den Kunstprodukten der in der Region lebenden indigenen Gruppe der Wayúu, hat auch der Einbruch des illegalen Treibstoffhandels schwere Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft. Seit Beginn der ökonomischen Krise im Nachbarland sehen sich vor allem die in Grenznähe lebenden Indigenen außerdem zunehmend mit einem Mangel an Nahrungsmitteln konfrontiert. Hildurara Barliza, Repräsentant der Wayúu, erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Efe: „Wir müssen der historischen Realität ins Auge blicken: Wir haben uns immer gut ernährt, wir hatten eigentlich keinerlei Probleme – und das nur, weil wir von den subventionierten Preisen in Venezuela profitiert haben“.

Laut Zahlen des Nationalen Gesundheitsinstituts (INS) starben in La Guajira allein 2016 mindestens 90 Menschen an Unterernährung. Dem kolumbianischen Statistikamt (DANE) zufolge gehen 85% der Lokalbevölkerung informellen Arbeitsverhältnissen nach, über 50% der Menschen leben unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig beziffert die staatliche Planungsbehörde (DNP) den Anteil der Menschen, die unter unzureichenden Bedingungen leben – das heißt im konkreten Fall beispielsweise ohne Zugang zu fließendem Wasser – mit 44,6%.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte.

Die Krise im Nachbarland trifft eine Region, die in den vergangenen Jahren auch zunehmend unter dem Klimawandel zu leiden hatte. Schwere Dürreperioden, aber auch der massive Kohleabbau (siehe LN 509) bedrohen die Wasserressourcen und rauben den Menschen damit die Lebensgrundlage. Gleichzeitig steht die Region auf Grund ihrer strategisch günstigen Lage immer wieder im Fokus der Aktionen verschiedener Guerillas sowie paramilitärischer und anderer krimineller Gruppierungen. Verkompliziert wird diese Situation durch den schwelenden Grenzkonflikt mit Venezuela. Am 21. Mai bezichtigte die venezolanische Regierung die kolumbianische Seite in einem offiziellen Schreiben der militärischen Aufrüstung: Kolumbien würde mit „gepanzerten Kampffahrzeugen in wenigen Metern Entfernung zur Grenze“ einen erneuten Ausbruch der Auseinandersetzungen provozieren. In den vergangenen Jahren war es immer wieder zu diplomatischen Krisen im Grenzgebiet gekommen, teils mit schweren gewalttätigen Ausschreitungen und Massendeportationen von in Venezuela lebenden Kolumbianer*innen. 2015 wurde der gesamte Grenzverlauf über mehrere Monate hinweg gesperrt, Teile der Grenze sind bis heute unpassierbar. Das kolumbianische Verteidigungsministerium stritt die Vorwürfe ab und verwies darauf, dass sich die betreffenden Panzer bereits seit einigen Jahren aufgrund der paramilitärischen und Guerilla-Aktivitäten in der Grenzregion befänden.

Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro hatte seinerseits bereits Mitte Mai die Militarisierung des ebenfalls in der Grenzregion gelegenen Bundesstaates Táchira angeordnet. Nach gewalttätigen Protesten, in deren Verlauf mehrere Polizeistationen angezündet und mindestens drei Personen getötet wurden, entsandte die Regierung 2600 Soldat*innen nach Táchira, „um den Frieden wiederherzustellen“. Diese Operation ist Teil der zweiten Phase der von Maduro verabschiedeten Sicherheitsmaßnahme „Plan Zamora“, mit der die Regierung die massiven Proteste im Land eindämmen will (siehe Interview mit Daniela Guerra in dieser Ausgabe).

Die Region Táchira grenzt an den kolumbianischen Bundesstaat Norte de Santander, dessen Bevölkerung sich mit ähnlichen Problemen konfrontiert sieht wie jene in La Guajira. Aktuell überqueren laut Zahlen der kolumbiani- schen Regierung aus venezolanischer Richtung kommend. täglich etwa 45.000 Menschen die Grenze bei Cúcuta Die meisten dieser Personen überqueren diese Grenze regelmäßig, etwa weil sie Handel in Cúcuta treiben oder Verwandte besuchen. Allerdings verzeichnen die Behörden nur etwa 30.000 Grenzüberquerungen in die andere Richtung. Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über das Verbleiben der übrigen 15.000 Personen, die täglich einreisen. „Mich beunruhigt die massive Migration in Richtung Kolumbien, weil diese Menschen um ihr Leben flüchten“, äußerte Pepe Ruiz, Bürgermeister der Grenzstadt Villa del Rosario, gegenüber der Tageszeitung El Tiempo. Auch wenn sich der Vize-Verteidigungsminister Anibal Fernández de Soto bereits Anfang Mai zuversichtlich gezeigt und betont hatte, dass das Land darauf vorbereitet sei, einer „humanitären Krise“ in Venezuela und damit verbundener massiver Migration nach Kolumbien zu begegnen, äußerten Vertreter*innen der Lokalregierung sowie der Zivilbevölkerung starke Kritik an den Maßnahmen der Regierung. José Uriel Acevedo Arias, lokaler Repräsentant der Lehrer*innengewerkschaft SINTRENAL, kommentierte gegenüber lokalen Medien: „Es ist schon ironisch, dass Kolumbien es in 50 Jahren nicht geschafft hat, einen Notfallplan für all die Missstände innerhalb Kolumbiens bereitzustellen, aber jetzt angeblich schon einen Notfallplan für die venezolanischen Migranten hat.“

Nach den massiven Protesten gegen soziale Missstände in den Regionen Chocó und Valle del Cauca prüfen daher auch die Gewerkschaften und sozialen Organisationen in Cúcuta die Möglichkeit eines Generalstreiks: „Wir haben immer noch die gleichen Probleme: Cúcuta führt nach wie vor die Ranglisten in Punkten wie Arbeitslosigkeit, informelle Arbeitsverhältnisse oder soziale Ausgrenzung an. Es ist daher unsere Pflicht als Gewerkschafter, als Politiker, als Zivilbevölkerung auf die Straße zu gehen und uns genauso zu mobilisieren wie die Menschen im Chocó und in Buenaventura“, sagte Leonardo Sánchez, Führer des Gewerkschaftsbundes CUT, gegenüber El Tiempo.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert.

Trotz Maßnahmen wie dem neuen Ausweis zur Grenzmigration (TMF), der im April eingeführt wurde und Bewohner*innen der Grenzregionen für Zeiträume bis zu acht Tagen die legale Einreise nach Kolumbien ermöglichen soll, erfolgt die Migration weiterhin völlig unkontrolliert. Christian Krüger, Leiter der Kolumbianischen Migrationsbehörde, betonte im Interview mit der Wochenzeitung Semana, dass die meisten Venezolaner*innen auf der Suche nach dringend benötigten Medikamenten, medizinischer Versorgung, Nahrungsmitteln oder informeller Arbeit nach Kolumbien kommen würden. Rodolfo Hernández, Bürgermeister der Industriemetropole Bucaramanga, Hauptstadt des ebenfalls nahe der Grenze liegenden Bundesstaates Santander, sorgte derweil für Polemik, als er gegenüber dem Innenministerium eine effektive Kontrolle der Migration forderte. Er betonte, dass den Venezolaner*innen geholfen werden müsse, da das Land über Jahrzehnte unzähligen Kolumbianer*innen Zuflucht geboten habe. Jedoch habe seine Stadt kein Geld, um sich um die tausenden Migrant*innen zu kümmern: „Jetzt kommen alle Bettler, Prostituierten und Arbeitslosen Venezuelas“, betonte er und fuhr fort: „Also, was machen wir in Bucaramanga? Wir können sie [gemeint sind die Migrant*innen, Anm. d. Red.] nicht töten und nicht auf sie schießen, wir müssen sie empfangen, genau wie Venezuela mehr als vier Millionen Kolumbianer empfangen hat“.

Derweil gehen die Proteste auf venezolanischer Seite weiter, ein Ende der Versorgungsengpässe und dadurch auch des Flüchtlingsstroms ist nicht abzusehen. Die ersten Notunterkünfte wurden im Raum Cúcuta bereits errichtet, die Krankenhäuser berichten von ständiger Überforderung durch die unzähligen venezolanischen Patient*innen. Abzuwarten bleibt, wie Kolumbien, traditionell eher Ausgangspunkt von Migrationsbewegungen der vom eigenen internen Konflikt betroffenen Menschen, seine neue Rolle als Zielland der Geflüchteten meistern wird. Die schwierige Lage gerade in den Grenzregionen droht sich jedoch zunächst eher zu verschärfen als zu verbessern- gerade auch angesichts der landesweiten Protestbewegungen und Generalstreiks, die in den vergangenen Wochen das Land in Atem hielten.


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VERHANDLUNGEN INMITTEN DES KRIEGES

Am Morgen des 19. Februar erschütterte eine Explosion den belebten Stadtteil La Macarena im Herzen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Ziel des Anschlags waren offenbar Polizist*innen der mobilen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Diese bereitete sich zu diesem Zeitpunkt auf die Überwachung der geplanten Proteste gegen die Wiedereinführung von Stierkämpfen in der angrenzenden Arena vor. Die Bilanz des Anschlags: 30 Verletzte, darunter 26 Polizist*innen. Ein Polizist erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen.

Analyst*innen zählen seit dem 7. Februar mindestens zehn Anschläge von der ELN.

Dies war bereits der vierte Anschlag im laufenden Jahr in Bogotá. Weniger als 24 Stunden zuvor explodierte ein Sprengkörper in einem Restaurant im Stadtviertel La Quesada. Ein ähnlicher Sprengkörper explodierte eine Woche vorher in einem Restaurant in der Nachbarschaft und verletzte sieben Menschen. Mitte Januar wurden bei einem Attentat im Eingangsbereich der staatlichen Zollbehörde (DIAN) zwei Menschen verletzt.

Aus Sicht der Regierung waren die Schuldigen schnell gefunden. Der Verteidigungsminister Luis Carlos Villegas erklärte kurz nach dem Anschlag in La Macarena: „Der Bombenanschlag hängt sehr wahrscheinlich mit den Attentaten der vergangenen Wochen zusammen. Alles deutet darauf hin, dass urbane Zweige der ELN dahinterstecken“.

Nachdem die ELN Anfang Februar den Lokalpolitiker Odin Sánchez freigelassen hatte, begann am 7. Februar die öffentliche Phase der Friedensverhandlungen zwischen Vertreter*innen der Regierung und der Guerilla. Den Gesprächsrunden, die unter internationaler Beobachtung in Quito stattfinden, ging eine dreijährige Erkundungsphase voraus, während der die Themen auf der Friedensagenda definiert wurden (siehe LN 511).

Während die ELN von Anfang an die Notwendigkeit eines beidseitigen Waffenstillstandes als Voraussetzung für den Friedensprozess betonte, hält die kolumbianische Regierung an ihrer Prämisse der Verhandlungen inmitten des Krieges fest. Eduardo Álvarez, Direktor der Abteilung für die Dynamik von Friedensprozessen der kolumbianischen Stiftung Ideen für den Frieden (FIP), begründete diese Politik mit einer Fehleinschätzung der Regierung: „Viele Analysten machen den Fehler, die ELN auf ihre militärische Stärke zu reduzieren: Sie hat 1800 Kämpfer, also ist sie schwach und leicht zu demobilisieren“, erläuterte er gegenüber dem Internetmedium La Silla Vacía. „Allerdings agiert die ELN völlig anders als die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte (FARC). Sie leistet sich weniger offene Gefechte mit den Streitkräften, sondern agiert vielmehr mit gezielten Entführungen und punktuellen terroristischen Attentaten, die nur wenig Aufwand erfordern: Anschläge auf die Infrastruktur, auf militärische Posten oder auf Polizisten wie im Fall des Attentates in La Macarena“. Demnach seien diese Anschläge vielmehr eine symbolische Ansage an die Regierung: „Wenn wir keinen beidseitigen Waffenstillstand schließen, setzen wir die Attentate fort“.

Pablo Beltrán: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse”.

Bereits kurz nach dem Anschlag in La Macarena forderten oppositionelle Politiker*innen ein sofortiges Ende der Friedensverhandlungen. Der ehemalige Präsident und Gegner des Friedensprozesses Álvaro Uribe Vélez beschuldigte die Regierung der Tatenlosigkeit: „Die ELN greift die Zivilbevölkerung Bogotás an, verletzt unzählige Menschen und es passiert gar nichts. Die Gespräche müssen sofort ausgesetzt werden, bis die ELN sämtliche militärischen Aktivitäten einstellt“, äußerte er in einer Fernsehansprache.

Die Forderung nach einem einseitigen Waffenstillstand ist zu diesem Zeitpunkt angesichts der schwachen Position der ELN absolut unrealistisch, und wird der Struktur der Guerilla auch nicht gerecht. Im Gegensatz zu den FARC ist die ELN eher horizontal organisiert: Während die Führungsspitze der FARC ihren Kämpfer*innen vom Verhandlungstisch in Kuba aus Befehle erteilen konnte, agieren die einzelnen Gruppen der ELN mitunter autonom. Die FARC konzentrierten sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich auf militärische Aktionen in abgelegenen Gebieten Kolumbiens. Große Teile der ELN hingegen verstehen sich eher als sozio-politische Organisation. Seit ihrer Gründung 1964 rekrutierte die Guerilla ihre Unterstützer*innen hauptsächlich aus dem urbanen, intellektuellen Milieu und verfügt somit über eine viel breitere Basis innerhalb der Zivilgesellschaft als etwa die FARC. Ein Ende der Friedensverhandlungen mit der Guerilla würde dabei eher jenen ELN-Kämpfer*innen helfen, die intern gegen die Gespräche revoltieren. Analyst*innen wie der Journalist und Friedensaktivist Moritz Akermann verweisen daher auf die internen Grabenkämpfe der Guerilla: „Es gibt innerhalb der ELN verschiedene Gruppen, die gegen den Friedensprozess sind“, äußerte er gegenüber der Wochenzeitschrift Semana. „Attentate richten sich daher nicht direkt gegen die Bevölkerung, sondern können auch als Kritik an den ELN-Vertretern in Quito gedeutet werden“. Akermann betonte auch, dass die Regierung die ELN grundsätzlich falsch einschätze: „Die Regierung hat sich jahrzehntelang auf den Kampf gegen die FARC konzentriert. Teile der Streitkräfte haben sogar mit der ELN kooperiert, um eine Art Gegengewicht zu den FARC zu konstruieren.“

Ein beidseitiger Waffenstillstand käme der ELN insofern gelegen, als das dieser die militärischen Aktionen beider Parteien untersagen würde – nicht jedoch die Entführungen und Sabotageakte, die einen Großteil der Aktionen der ELN ausmachen. Der unter dem Alias „Pablo Beltrán“ bekannte Anführer der ELN-Verhandlungskommission machte Anfang Februar im Interview mit der Zeitung El Espectador deutlich: „Die Diskussion über den Frieden ist innerhalb der kolumbianischen Linken und auch innerhalb der ELN sehr facettenreich. Wir werden in Quito nichts vereinbaren, was nicht alle Teile unserer Organisation tragen können“, und ergänzte: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse. An diesem Verhandlungstisch gibt es zwei Parteien – also müssen beide Parteien auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.“

Dass die Entscheidungswege innerhalb der ELN deutlich länger als innerhalb der FARC sind, wird auch an ihren offiziellen Mitteilungen deutlich. Erst eine Woche nach dem Anschlag in La Macarena bekannte sich die Führungsriege der Guerilla zu dem Attentat. Dieses habe sich gegen die Polizeieinheit ESMAD gerichtet. Die Einheit begehe ungestraft Menschenrechtsverletzungen und unternehme nichts, um Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen zu schützen, lautete die Begründung.
Allein seit Beginn des Jahres wurden mindestens 15 Aktivist*innen in verschiedenen Teilen des Landes ermordet, davon mehrere mit Verweis auf ihre (vermeintliche) Nähe zur ELN. Seit Beginn der Demobilisierung der FARC übernehmen zunehmend kriminelle und paramilitärische Organisationen die Kontrolle über die von den FARC geräumten Gebiete. Doch auch die ELN füllen in einigen Regionen das neu entstandene Machtvakuum und bauen damit ihre politische Position aus.

Während sie die Menschenrechtsverletzungen von staatlicher Seite anprangert, verübt die Guerilla auch parallel weiter Anschläge. So werden der ELN nicht nur die Attentate in Bogotá zugeschrieben. Analyst*innen zählen allein seit Beginn der Verhandlungen am 7. Februar mindestens 10 Anschläge, deren Ausführung die Handschrift der ELN trägt. Zuletzt wurden am 25. März fünf Menschen bei einem Angriff in der Region Chocó getötet, mindestens 50 Personen mussten aus ihren Häusern fliehen. Laut Augenzeugenberichten trugen die Angreifer die Banderole der ELN. Auch die Regierung lässt weiter Stellungen der ELN angreifen.

Angesichts dieser Situation lässt sich an baldigen Fortschritten am Verhandlungstisch in Quito zweifeln. Doch statt die Friedensgespräche abzubrechen oder einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla zu fordern – der schon bei den FARC mehrfach nach Angriffen auf Stellungen der Guerilla scheiterte – sollte die Regierung vielmehr an die Zivilbevölkerung appellieren und den Kampf gegen die elementaren Probleme des Landes angehen: gegen fehlende Bildungs- und Gesundheitsversorgung, fehlende Nahrungsmittel und die Bedrohung durch paramilitärische Verbände. Denn gerade die engen politischen und sozialen Verbindungen der ELN verpflichten die Guerilla zur Rechenschaft gegenüber ihren Unterstützer*innen. Fehlte die politische Legitimation für Anschläge, Sabotageakte und Entführungen, würde die Position der Guerilla somit deutlich effektiver geschwächt als durch Militärschläge und Drohungen. Doch solange die Regierung weiterhin ihre elementaren Aufgaben nicht wahrnimmt und viele Regionen des Landes sich selbst – und damit kriminellen und paramilitärischen Banden – überlassen bleiben, wird die ELN auch weiterhin Legitimation und Unterstützung für ihre Aktionen finden.

 


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