Foto: Asamblea Nacional del Ecuador (CC BY-SA 2.0) (https://www.flickr.com/photos/asambleanacional/34029387204)
Ecuadors Ex-Präsident Rafael Correa ist für viele Menschen eine Lichtgestalt inmitten des Elends von Rechtspopulismus und Neoliberalismus, das die Weltpolitik heute prägt. Correa ist zwar jetzt nicht mehr Präsident, aber seine Partei Alianza País hat immerhin die vergangenen Wahlen im Frühjahr gewonnen – im Unterschied zu Argentinien und Brasilien, wo die traditionelle Rechte wieder an der Regierung ist. Es gibt also noch Hoffnung für den progressiven Kontinent Lateinamerika. Correa steht, aus der Ferne betrachtet, einfach für bestimmte Werte: Er stand immer auf der Seite der einfachen Leute, hat die Armut verringert, eine antiimperialistische Außenpolitik betrieben, die Weltbank aus dem Land geworfen. Er steht für Ehrlichkeit, Transparenz – ein aufrechter Kämpfer für linke Ideale.
Nur kann er heutzutage sein eigenes Land nicht mehr betreten. Wenn er es täte, stünden die Chancen gut, dass er wegen Korruptionsverdacht in Untersuchungshaft käme. Dieses Schicksal hat am 2. Oktober Ecuadors Vizepräsidenten, Jorge Glas, ereilt, den Correa per Twitter immer noch voller Pathos verteidigt: „Ein ehrlicher Mann hat seine Freiheit eingebüßt. Die Welt möge erzittern!“, schrieb er beispielsweise am darauffolgenden Tag. Dieses Drehbuch hat Ecuador in den vergangenen Jahren und Monaten bereits mehrfach mit hohen Funktionären der Correa-Regierung erlebt: Dem Präsidenten der Zentralbank, dem Erdölminister, dem obersten Rechnungsprüfer – die sich im Unterschied zu Glas jedoch allesamt rechtzeitig nach Miami absetzten. Rafael Correa verbürgt sich stets für seine hochrangigen Mitarbeiter*innen, selbst wenn die Indizien schon so unwiderlegbar auf dem Tisch liegen, dass man sich für ihn zu genieren beginnt. Wenn die Indizien dann zu Beweisen werden, bringt er sein tiefes Entsetzen zum Ausdruck darüber, dass er verraten und getäuscht worden sei. Er selbst besteht darauf, als der größte, beste Präsident Ecuadors in die Geschichte einzugehen, und sendet nun seine Samstagsansprachen – während seiner Amtszeit eine institutionelle Machtinszenierung mit riesiger Bühne, Hunderten von „Jubelpersern“ und Liveübertragung auf allen Kanälen – per Internet, aus einer Dachkammer in Belgien. Dort, im Heimatland seiner Frau, lebt er seit Juli mit der Familie. „Der Irre aus der Dachkammer“, so bezeichnet ihn ein in Ecuador populärer Hashtag. In der Tat macht der Ex-Präsident in letzter Zeit oft den Eindruck, als verstünde er die Welt nicht mehr, seit sie sich nicht mehr um ihn dreht.
„Verrat“ und „weicher Putsch“ sind zwei sehr beliebte Vokabeln bei den Funktionär*innen von Alianza País, der Partei von Correas „Bürgerrevolution“. Der Ex-Präsident wendet sie sogar gegen seinen Parteigenossen und Nachfolger an, Präsident Lenín Moreno, der seit dem 24. Mai im Amt ist. Der 64-jährige Moreno stammt aus einem kleinen Ort im Amazonasgebiet an der Grenze zu Peru. 1998 wurde er Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls in Quito und sitzt seither im Rollstuhl. Als Vizepräsident von Rafael Correa (2007-2013) machte er sich vor allem durch die Misión Solidaria Manuela Espejo einen Namen, ein neues, landesweites Programm zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen, das rund 300.000 Menschen umfassend unterstützte und international hoch gelobt wurde. 2013 beschloss Moreno, nicht mehr für das Amt des Vizepräsidenten zu kandidieren und wurde von den Vereinten Nationen als Sondergesandter für Behinderung und Barrierefreiheit nach Genf berufen. Für die Präsidentschaftswahlen in diesem Frühjahr kehrte er von dort zurück.
Bis zu den Wahlen sah es so aus, als wäre Lenín Moreno ein treuer Gefolgsmann Correas.
Bis zu den Wahlen sah es so aus, als wäre Lenín Moreno ein treuer Gefolgsmann Correas, bereit, vier Jahre zu regieren, um dann die Rückkehr des eigentlichen, unumstrittenen Chefs der Bürgerrevolution zu ermöglichen. Die Option auf dessen unbegrenzte Wiederwahl war Ende 2015 mithilfe der Zweidrittelmehrheit, die Alianza País damals im Parlament hatte, im Rahmen einer Verfassungsreform verabschiedet worden, trotz massiver Proteste aus der Bevölkerung. Sie beinhaltete unter anderem ein Streik– und Organisierungsverbot im Öffentlichen Dienst, grünes Licht für Einsätze des Militärs zur Inneren Sicherheit sowie eine Einschränkung von Volksabstimmungen, die seitdem nur von der Regierung, also von oben, angestoßen werden können. Um der politischen Stabilität Willen und auch weil die Umfragen eindeutig für Moreno sprachen, wurde Correas Kandidatur für die Wahl im Frühjahr 2017 einmalig ausgesetzt. Doch mit dem temporären Umweg über Lenín Moreno, der knapp gegen den konservativen Bankier Guillermo Lasso gewann, würde schließlich doch noch alles gut werden.
Doch schon wenige Wochen nach dem Wahlsieg von Moreno waren sich der Präsident und sein Vorgänger spinnefeind. Aus seinem selbstgewählten Exil twittert Correa ununterbrochen Beschimpfungen: „Mittelmäßig“ sei Moreno, „illoyal“, ein „Verräter“, der mit der „Rechten gemeinsame Sache“ mache und über die Wirtschaftslage des Landes „lüge“. Correa selbst hatte behauptet, ökonomisch einen „gedeckten Tisch“ zurückzulassen, an dem man sich nur noch bedienen müsse. Doch nachdem Moreno die Staatsfinanzen durchleuchtet hatte, läutete er die Alarmglocken: Das kleine Land sei viel höher verschuldet als angegeben und damit kaum manövrierfähig, allein acht Milliarden Dollar jährlich seien notwendig, um das Haushaltsdefizit und den Schuldendienst abzudecken.
Bisher hat Moreno wirtschaftspolitisch noch keine Richtung vorgegeben – und auch sonst weiß niemand, wohin er das Land eigentlich führen will. Er hat lediglich einen bewussten Bruch mit dem Regierungsstil seines Vorgängers herbeigeführt, was die Nomenklatura von Alianza País zutiefst verunsichert. Denn das bedeutet die allmähliche Demontage des nach allen Seiten hin abgesicherten Machtapparats, der seit Jahren sowohl die Bereicherung einer neuen Politiker*innenkaste als auch die autoritäre Durchsetzung offizieller Wahrheiten ermöglicht hatte.
Lenín Moreno rief nicht nur alle politischen und organisierten Kräfte des Landes zum Dialog auf. Er tauschte die linientreuen Chefredakteure der staatlichen Medien aus und forderte die privaten Medien offensiv auf, investigativ und kritisch zu berichten, gerade im Kontext von Korruption; dieselben Medien, die unter Correa stets als Lügenpresse beschimpft und mit Gerichtsverfahren überzogen worden waren, bis schierer Überlebenswille bei vielen Selbstzensur zur Regel machte. Kritisch wurde in Ecuador in den vergangenen Jahren nur noch auf Blogs berichtet.
Diese neue Haltung gegenüber den Medien hat nun eine Serie von Enthüllungen zur Folge, die unter anderem aufdeckt, wie Correas Machtclique ausnahmslos alle staatlichen Institutionen – insbesondere die öffentlichen Kontrollinstanzen, das Verfassungs- und Wahlgericht sowie die Justiz – direkt von der Exekutive aus gesteuert hat. Und wie man bei eventuellem Ausscheren schnell seinen Job verlieren konnte: Emails, in denen die oberste Justizverwaltung um die Entlassung von Richter*nnen gebeten wird, weil sie Klagen gegen den Staat stattgegeben oder Umweltschützer*innen freigesprochen haben; oder Tweets, in denen der Geheimdienst SENAIN direkt aufgefordert wird, gegen Kritiker*innen vorzugehen – „SENAIN, bitte kümmern.“
Auf einem Video ist der Onkel des Vizepräsidenten Jorge Glas zu sehen, wie er dicke Geldbündel in eine Reisetasche stopft, wie in einem Gangsterfilm. Dieser Onkel hat die Verhandlungen um große Verträge mit China geführt – in Bezug auf Öl, Bergbau und Kredite, obwohl er keinerlei Staatsamt innehatte. Glas behauptete im Takt der Enthüllungen zunächst, ihn gar nicht zu kennen; dann, ihn nur an Weihnachten zu sehen; dann, dass er ausschließlich wegen seines Satelliten-Fernsehsenders mit ihm per Email kommuniziert habe; schließlich, dass er doch auch nichts dafür könne, einen so korrupten Verwandten zu haben.
Der wichtigste Vorwurf von Correas Gefolgsleuten gegen Lenín Moreno, der auch gern von „linken“ Medien im Ausland kolportiert wird, lautet, er würde mit der Rechten gemeinsame Sache machen.
Der wichtigste Vorwurf von Correas Gefolgsleuten gegen Lenín Moreno, der auch gern von „linken“ Medien im Ausland kolportiert wird, lautet, er würde mit der Rechten gemeinsame Sache machen. Doch bisher hat der neue Präsident sich lediglich mit konservativen Politiker*innen an einen Tisch gesetzt wie auch mit linken, Indigenen, Unternehmer*nnen, Gewerkschaften – im Rahmen eines umfassenden Dialogprogramms. Dass er von Konservativen für die Wiederherstellung einer lebendigen politischen Debatte im Land gelobt wird, macht ihn noch lange nicht zu deren Komplizen. Vielmehr ist es die Verantwortung der Führungsriege von Alianza País, dass Themen wie Meinungs-, Organisations- und Pressefreiheit, Gewaltenteilung und Transparenz in den vergangenen Jahren von der politischen Rechten vereinnahmt werden konnten.
Gleichzeitig wird Ecuador immer tiefer in den Korruptionsskandal hineingezogen, der rund um Verträge des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht die ganze Region erschüttert (siehe LN 519/520) und als der größte Bestechungsskandal der Geschichte Lateinamerikas gilt. Er wirkt weit über die Grenzen Brasiliens hinaus: Derzeit wird gegen hochrangige, progressive wie neoliberale, Politiker*innen und Ex-Präsident*innen aus 15 Ländern ermittelt, die allesamt Schmiergelder entgegengenommen haben sollen. Unter anderem sitzen der peruanische Ex-Präsident Ollanta Humala und seine Frau deshalb in Unter-suchungshaft, und jetzt auch der ecuadorianische Vizepräsident Jorge Glas. Marcelo Odebrecht, Kopf des Odebrecht-Konzerns, war bereits 2015 verhaftet und zu 19 Jahren Haft verurteilt worden. Dank Kronzeugenregelung benennen er und weitere Manager*innen derzeit nach und nach die Empfänger*innen der Millionenschmiergelder, die Odebrecht ein Quasi-Monopol bei großen Infrastrukturvorhaben in Lateinamerika verschafft hatten.
Der tiefe Riss, der Alianza País heute durchzieht, ist nicht mehr zu kitten. Was ist die bessere Strategie, um die eigene politische Zukunft zu retten? Das fragen sich derzeit zahlreiche Wendehälse: Zu Correa halten, der als einziger in der Lage wäre, den Sumpf aus Korruption, der offenbar zehn Jahre lang gewachsen ist, wieder zu deckeln, oder sich rechtzeitig auf die Seite der „rückhaltlosen Aufklärung“ und damit auf die Seite Morenos zu schlagen?
So feiert die Doppelmoral auch im Sozialismus des 21. Jahrhunderts fröhliche Urstände. Die Weltbank wurde von Correa längst nach Ecuador zurückgeholt, in den vergangenen Jahren stieg die Armut wieder, und vom Antiimperialismus bleibt nur hohle Rhetorik. Die jüngsten Fakten legen nahe, dass die Anführer*innen der Bürgerrevolution den durch die hohen Ölpreise bewirkten Geldsegen nicht nur in die Infrastruktur des Landes, sondern zu einem erheblichen Teil auch in die eigenen Taschen gesteckt haben. Unbeirrt behauptet der harte Kern um Correa dennoch bis heute, man habe stets eine „Revolution der Ethik“ vorangetrieben und Korruption bis aufs Messer bekämpft. Dabei ist noch nicht ansatzweise aufgeklärt, wie viel Geld rund um die Öl- und Bergbaugeschäfte mit China versickert ist.
Anfang kommenden Jahres soll nun ein Referendum abgehalten werden, mit dem Moreno seine Position konsolidieren und den Rivalen Correa endgültig aus dem Rennen werfen will. Sieben Fragen hat er dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt, unter anderem die Abschaffung der unbegrenzten Wiederwahl. Auch wenn das für eine wirkliche Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse nur wenige, zaghafte Schritte sind, so beinhaltet die aktuelle Situation doch eine Chance für Ecuador und die Linke. Die Chance, doch noch aus der Geschichte zu lernen: Nämlich dass Emanzipation nicht von Lichtgestalten ausgeht, die an der Spitze eines pyramidalen Machtapparats stehen, sondern von unten links, und dass sie einer lebendigen, organisierten, kritischen Öffentlichkeit bedarf, die sich an der politischen Debatte um die Zukunft aktiv beteiligt.