MIT DER KRISE INS WAHLJAHR

Foto: HausOf_Diegoo via Flickr (CC BY 2.0)

In der ersten Jahreshälfte 2017 war es eine Hauptforderung der venezolanischen Opposition: vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Dass ihr Wunsch nun aller Voraussicht nach in Erfüllung gehen wird, löst jedoch keine Freude aus. Am 23. Januar hat Venezuelas Verfassunggebende Versammlung (ANC) beschlossen, die eigentlich für Dezember vorgesehene Präsi­dent­schafts­wahl auf einen Termin vor dem 30. April vorzuverlegen. Es gilt als sicher, dass der Nationale Wahlrat (CNE) dem Ansinnen folgen wird. Politische Beobachter*innen rechneten seit geraumer Zeit mit diesem Schritt. Damit wolle die Regierung die derzeitige Schwäche und Zerstrittenheit der Opposition ausnutzen, so der Tenor. Denn seit der umstrittenen Wahl zur ANC Ende Juli hat die Regierung von Nicolás Maduro politisch Oberwasser. Die monatelangen Proteste kamen zum Erliegen, bei den Regional- und Bürgermeisterwahlen im Oktober und Dezember konnte die regierende Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) auf ganzer Linie triumphieren.

Venezuelas Oberster Gerichtshof hat das wichtigste Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) von der Präsi­dent­schaftswahl ausgeschlossen. Der MUD hätte sich für die Wahl neu anmelden müssen, nachdem das Bündnis die Kommunalwahlen am 10. Dezember boykottiert hatte. Der Ausschluss des MUD, weil einige daran beteiligte Parteien sich neu angemeldet hatten, andere nicht, verhindert, dass ein gemeinsamer Kandidat für die Opposition antreten kann. Leopoldo López von der radikalen Partei Voluntad Popular und Ex-Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles Radonski sind ohnehin aßen vor. López steht wegen seiner Rolle bei den gewaltsamen Protesten 2014 unter Hausarrest. Capriles darf wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten während seiner Zeit als Gouverneur des Bundesstaates Miranda 15 Jahre lang für kein politisches Amt kandidieren. Als vermeintlichen Retter bringen daher immer mehr Oppositionsanhänger*innen den Milliardär Lorenzo Mendoza ins Spiel. Der Chef des größten venezolanischen Lebensmittelkonzerns Polar stünde als politischer Quereinsteiger jenseits der politischen Grabenkämpfe. Zu einer möglichen Kandidatur schweigt er bisher jedoch beharrlich. Daran hat auch der Beschluss der ANC bisher noch nichts geändert.

Das Parlament schätzt die Teuerungsrate für 2017 auf 2.600 Prozent.

Politisch hat die Regierung Maduro Land gewonnen, doch das Land steckt weiter in einer schweren wirtschaftlichen Krise. In den ersten Wochen des neuen Jahres wurden über 100 Plünderungen in verschiedenen Landesteilem gezählt. Diese verlaufen dezentral und unkoordi­niert, doch für die Regierung unter Präsident Nicolás Maduro könnten die spontan wirkenden Ereignisse bedrohlicher werden als die Straßenproteste der rechten Opposition zwischen April und Juli 2017. Denn die Versorgungskrise erzürnt auch viele Venezolaner*innen, die zur traditionellen Basis des Chavismus zählen.

Die Hoffnung vieler Regierungsanhänger*innen, dass sich die Versorgungslage nach der Wahl der omnipotenten ANC bessern werde, ist jedoch nicht aufgegangen. Auch wenn der Erdölpreis langsam wieder steigt und inzwischen wenigstens die 70-Dollar-Schwelle pro Barrel (159 Liter) überschritten hat, fehlt es den meisten Menschen am Nötigsten. Die Supermärkte sind weitgehend leergefegt, Anfang des Jahres hat sich die Lage nochmals verschlechtert. Während auf dem Schwarzmarkt mittlerweile mehr als 200.000 Bolívares für einen US-Dollar gezahlt werden, liegt der monatliche Mindestlohn nach der jüngsten Erhöhung bei gerade einmal 800.000 Bolívares. Die Regierung macht weiterhin vor allem den „Wirtschaftskrieg“ seitens der ökonomischen Eliten und die Sanktionen der USA für die Lage verantwortlich.

Zwar spielen diese Faktoren eine Rolle, die Vorwürfe wirken ein halbes Jahr nach der Wahl der ANC jedoch zunehmend hilflos. Als der von der Regierung versprochene Schinken für den Festtagsbraten zu Weihnachten nicht eintraf, beschuldigte Maduro Portugal der Sabotage, obwohl Venezuela zuvor offenbar Rechnungen portugiesischer Lebensmittelexporteure nicht beglichen hatte. Auf die jüngsten Plünderungen reagierte die Regierung mit der Entsendung von Soldaten, die vereinzelt Supermärkte bewachen sollen. Die Verbraucherschutzbehörde Sundde wies 26 Lebensmittelketten an, die Preise bestimmter Produkte auf das Niveau von Mitte Dezember zu senken. Offizielle Daten zur Höhe der Inflation gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Das oppositionell besetzte, aber machtlose Parlament schätzt die Teuerungsrate für 2017 auf 2.600 Prozent. Um sich finanziell unabhängiger zu machen und Sanktionen zu umgehen, pocht Maduro nun darauf, eine eigene Kryptowährung auszugeben. Anders als der Bitcoin soll das digitale Geld staatlich reguliert und mit den Erdölreserven physisch abgesichert sein. Die Krise beenden wird dies wohl kaum.
Vertreter von Regierung und Opposition kamen indes im Januar in der Dominikanischen Republik zu mehreren Dialogtreffen zusammen. Der Opposition ging es in den Gesprächen vor allem um faire Regularien zur Präsidentschaftswahl, die Freilassung der als politische Gefangene angesehenen Personen und humanitäre Hilfe. Der Sinn des Dialogs ist intern aber umstritten, radikale Oppositionelle liebäugeln mit neuen Straßenprotesten. Eine Annäherung zwischen Regierung und Opposition schien dennoch bereits in greifbare Nähe gerückt. Beide Seiten hatten erklärt, es habe substanzielle Fortschritte in mehreren Punkten gegeben.

Seit der umstrittenen Wahl zur ANC hat die Regierung von Maduro politisch Oberwasser.

Doch dann sagte der MUD seine Teilnahme an den für den 25. Januar geplanten Gesprächen ab. Zur Begründung hieß es, die Regierung unterstelle fälschlicherweise Oppositionspolitikern, sie hätten Verbindungen zu einer Gruppe von Aufständischen gehabt, die Mitte Januar gewaltsam aufgelöst wurde. Deren Aufenthaltsort sei durch Hinweise aus den Reihen des MUD ermittelt worden. Durch die einseitig vorgezogene Präsidentschaftswahl dürfte der Dialog nun ohnehin vor dem kompletten Aus stehen.

Am 18. Januar hatten venezolanische Sicherheitskräfte eine Operation gegen die seit Monaten gesuchten Aufständischen um den früheren Krimi­nal­polizisten Óscar Pérez, geführt. Dieser hatte im vergangenen Juni in einem gekaperten Hubschrauber mehrere Regierungsgebäude beschossen. Sieben Mitstreiter, darunter auch Pérez selbst, und zwei Polizisten wurden bei dem Einsatz getötet. Der Ablauf der Aktion ist umstritten. Pérez stellte noch kurz vor seinem Tod ein Video online, in dem er behauptete, sich ergeben zu wollen. Während die Opposition von extralegalen Hinrichtungen spricht, feiert die Regierung das Ausschalten einer Terrorzelle. In der Kritik stehen venezolanische Sicherheitskräfte immer wieder. Vorwürfe extralegaler Hinrichtungen werden etwa im Rahmen der Kriminalitätsbekämpfung regelmäßig erhoben. Auch im bevorstehenden Wahlkampf werden Gewalt und Kriminalitätsbekämpfung sicher ein Thema sein.

 

VERHANDLUNGEN INMITTEN DES KRIEGES

Am Morgen des 19. Februar erschütterte eine Explosion den belebten Stadtteil La Macarena im Herzen der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Ziel des Anschlags waren offenbar Polizist*innen der mobilen Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung (ESMAD). Diese bereitete sich zu diesem Zeitpunkt auf die Überwachung der geplanten Proteste gegen die Wiedereinführung von Stierkämpfen in der angrenzenden Arena vor. Die Bilanz des Anschlags: 30 Verletzte, darunter 26 Polizist*innen. Ein Polizist erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen.

Analyst*innen zählen seit dem 7. Februar mindestens zehn Anschläge von der ELN.

Dies war bereits der vierte Anschlag im laufenden Jahr in Bogotá. Weniger als 24 Stunden zuvor explodierte ein Sprengkörper in einem Restaurant im Stadtviertel La Quesada. Ein ähnlicher Sprengkörper explodierte eine Woche vorher in einem Restaurant in der Nachbarschaft und verletzte sieben Menschen. Mitte Januar wurden bei einem Attentat im Eingangsbereich der staatlichen Zollbehörde (DIAN) zwei Menschen verletzt.

Aus Sicht der Regierung waren die Schuldigen schnell gefunden. Der Verteidigungsminister Luis Carlos Villegas erklärte kurz nach dem Anschlag in La Macarena: „Der Bombenanschlag hängt sehr wahrscheinlich mit den Attentaten der vergangenen Wochen zusammen. Alles deutet darauf hin, dass urbane Zweige der ELN dahinterstecken“.

Nachdem die ELN Anfang Februar den Lokalpolitiker Odin Sánchez freigelassen hatte, begann am 7. Februar die öffentliche Phase der Friedensverhandlungen zwischen Vertreter*innen der Regierung und der Guerilla. Den Gesprächsrunden, die unter internationaler Beobachtung in Quito stattfinden, ging eine dreijährige Erkundungsphase voraus, während der die Themen auf der Friedensagenda definiert wurden (siehe LN 511).

Während die ELN von Anfang an die Notwendigkeit eines beidseitigen Waffenstillstandes als Voraussetzung für den Friedensprozess betonte, hält die kolumbianische Regierung an ihrer Prämisse der Verhandlungen inmitten des Krieges fest. Eduardo Álvarez, Direktor der Abteilung für die Dynamik von Friedensprozessen der kolumbianischen Stiftung Ideen für den Frieden (FIP), begründete diese Politik mit einer Fehleinschätzung der Regierung: „Viele Analysten machen den Fehler, die ELN auf ihre militärische Stärke zu reduzieren: Sie hat 1800 Kämpfer, also ist sie schwach und leicht zu demobilisieren“, erläuterte er gegenüber dem Internetmedium La Silla Vacía. „Allerdings agiert die ELN völlig anders als die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte (FARC). Sie leistet sich weniger offene Gefechte mit den Streitkräften, sondern agiert vielmehr mit gezielten Entführungen und punktuellen terroristischen Attentaten, die nur wenig Aufwand erfordern: Anschläge auf die Infrastruktur, auf militärische Posten oder auf Polizisten wie im Fall des Attentates in La Macarena“. Demnach seien diese Anschläge vielmehr eine symbolische Ansage an die Regierung: „Wenn wir keinen beidseitigen Waffenstillstand schließen, setzen wir die Attentate fort“.

Pablo Beltrán: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse”.

Bereits kurz nach dem Anschlag in La Macarena forderten oppositionelle Politiker*innen ein sofortiges Ende der Friedensverhandlungen. Der ehemalige Präsident und Gegner des Friedensprozesses Álvaro Uribe Vélez beschuldigte die Regierung der Tatenlosigkeit: „Die ELN greift die Zivilbevölkerung Bogotás an, verletzt unzählige Menschen und es passiert gar nichts. Die Gespräche müssen sofort ausgesetzt werden, bis die ELN sämtliche militärischen Aktivitäten einstellt“, äußerte er in einer Fernsehansprache.

Die Forderung nach einem einseitigen Waffenstillstand ist zu diesem Zeitpunkt angesichts der schwachen Position der ELN absolut unrealistisch, und wird der Struktur der Guerilla auch nicht gerecht. Im Gegensatz zu den FARC ist die ELN eher horizontal organisiert: Während die Führungsspitze der FARC ihren Kämpfer*innen vom Verhandlungstisch in Kuba aus Befehle erteilen konnte, agieren die einzelnen Gruppen der ELN mitunter autonom. Die FARC konzentrierten sich in den letzten Jahrzehnten hauptsächlich auf militärische Aktionen in abgelegenen Gebieten Kolumbiens. Große Teile der ELN hingegen verstehen sich eher als sozio-politische Organisation. Seit ihrer Gründung 1964 rekrutierte die Guerilla ihre Unterstützer*innen hauptsächlich aus dem urbanen, intellektuellen Milieu und verfügt somit über eine viel breitere Basis innerhalb der Zivilgesellschaft als etwa die FARC. Ein Ende der Friedensverhandlungen mit der Guerilla würde dabei eher jenen ELN-Kämpfer*innen helfen, die intern gegen die Gespräche revoltieren. Analyst*innen wie der Journalist und Friedensaktivist Moritz Akermann verweisen daher auf die internen Grabenkämpfe der Guerilla: „Es gibt innerhalb der ELN verschiedene Gruppen, die gegen den Friedensprozess sind“, äußerte er gegenüber der Wochenzeitschrift Semana. „Attentate richten sich daher nicht direkt gegen die Bevölkerung, sondern können auch als Kritik an den ELN-Vertretern in Quito gedeutet werden“. Akermann betonte auch, dass die Regierung die ELN grundsätzlich falsch einschätze: „Die Regierung hat sich jahrzehntelang auf den Kampf gegen die FARC konzentriert. Teile der Streitkräfte haben sogar mit der ELN kooperiert, um eine Art Gegengewicht zu den FARC zu konstruieren.“

Ein beidseitiger Waffenstillstand käme der ELN insofern gelegen, als das dieser die militärischen Aktionen beider Parteien untersagen würde – nicht jedoch die Entführungen und Sabotageakte, die einen Großteil der Aktionen der ELN ausmachen. Der unter dem Alias „Pablo Beltrán“ bekannte Anführer der ELN-Verhandlungskommission machte Anfang Februar im Interview mit der Zeitung El Espectador deutlich: „Die Diskussion über den Frieden ist innerhalb der kolumbianischen Linken und auch innerhalb der ELN sehr facettenreich. Wir werden in Quito nichts vereinbaren, was nicht alle Teile unserer Organisation tragen können“, und ergänzte: „Wir sind keine Anhänger einseitiger Zugeständnisse. An diesem Verhandlungstisch gibt es zwei Parteien – also müssen beide Parteien auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.“

Dass die Entscheidungswege innerhalb der ELN deutlich länger als innerhalb der FARC sind, wird auch an ihren offiziellen Mitteilungen deutlich. Erst eine Woche nach dem Anschlag in La Macarena bekannte sich die Führungsriege der Guerilla zu dem Attentat. Dieses habe sich gegen die Polizeieinheit ESMAD gerichtet. Die Einheit begehe ungestraft Menschenrechtsverletzungen und unternehme nichts, um Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen zu schützen, lautete die Begründung.
Allein seit Beginn des Jahres wurden mindestens 15 Aktivist*innen in verschiedenen Teilen des Landes ermordet, davon mehrere mit Verweis auf ihre (vermeintliche) Nähe zur ELN. Seit Beginn der Demobilisierung der FARC übernehmen zunehmend kriminelle und paramilitärische Organisationen die Kontrolle über die von den FARC geräumten Gebiete. Doch auch die ELN füllen in einigen Regionen das neu entstandene Machtvakuum und bauen damit ihre politische Position aus.

Während sie die Menschenrechtsverletzungen von staatlicher Seite anprangert, verübt die Guerilla auch parallel weiter Anschläge. So werden der ELN nicht nur die Attentate in Bogotá zugeschrieben. Analyst*innen zählen allein seit Beginn der Verhandlungen am 7. Februar mindestens 10 Anschläge, deren Ausführung die Handschrift der ELN trägt. Zuletzt wurden am 25. März fünf Menschen bei einem Angriff in der Region Chocó getötet, mindestens 50 Personen mussten aus ihren Häusern fliehen. Laut Augenzeugenberichten trugen die Angreifer die Banderole der ELN. Auch die Regierung lässt weiter Stellungen der ELN angreifen.

Angesichts dieser Situation lässt sich an baldigen Fortschritten am Verhandlungstisch in Quito zweifeln. Doch statt die Friedensgespräche abzubrechen oder einen einseitigen Waffenstillstand der Guerilla zu fordern – der schon bei den FARC mehrfach nach Angriffen auf Stellungen der Guerilla scheiterte – sollte die Regierung vielmehr an die Zivilbevölkerung appellieren und den Kampf gegen die elementaren Probleme des Landes angehen: gegen fehlende Bildungs- und Gesundheitsversorgung, fehlende Nahrungsmittel und die Bedrohung durch paramilitärische Verbände. Denn gerade die engen politischen und sozialen Verbindungen der ELN verpflichten die Guerilla zur Rechenschaft gegenüber ihren Unterstützer*innen. Fehlte die politische Legitimation für Anschläge, Sabotageakte und Entführungen, würde die Position der Guerilla somit deutlich effektiver geschwächt als durch Militärschläge und Drohungen. Doch solange die Regierung weiterhin ihre elementaren Aufgaben nicht wahrnimmt und viele Regionen des Landes sich selbst – und damit kriminellen und paramilitärischen Banden – überlassen bleiben, wird die ELN auch weiterhin Legitimation und Unterstützung für ihre Aktionen finden.

 

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