Ein Mörder und korrupter Diktatur ist tot

“El Chino” Fujimori polarisiert weiterhin die peruanische Gesellschaft (Foto: Alfonso Silva-Santisteban)

Während seiner Regierungszeit übte Fujimori autoritäre Kontrolle aus, gestärkt durch den Selbstputsch (autogolpe) von 1992, im Zuge dessen er den Kongress schloss und eine Verfassunggebende Versammlung einberief. Während seiner Amtszeit setzte er ein neoliberales Wirtschafts­programm um, das die massive Privatisierung staatlicher Unternehmen vorsah und die Rolle des Staates reduzierte. Auswirkungen hatte das vor allem auf vulnerable Bevölkerungsgruppen. Trotz seines Versprechens, keine wirtschaftliche „Schocktherapie“ zu vollziehen, trafen seine Maßnahmen die Ärmsten hart.

Fujimori blieb eine Dekade lang an der Macht. Einmal wurde er durch eine breite Mehrheit wiedergewählt, nachdem er seinen Einfluss gefestigt hatte, ein zweites Mal durch klaren Wahlbetrug. Seine Amtszeit war geprägt von Menschenrechtsverbrechen, Korruption und einer Wirtschaftspolitik, die die Eliten stärkte, während Tausende Arbeiter*innen entlassen wurden und die peruanische Demokratie Rückschritte erfuhr.

Unter den beispielhaften Fällen von Menschenrechtsverletzungen sind die Massaker in Barrios Altos (1991) und La Cantuta (1992), bei denen unschuldige Zivilist*innen ermordet wurden, unter dem Verdacht, mit dem Terrorismus in Verbindung zu stehen. Diese Grausamkeiten waren Teil eines „schmutzigen Kriegs“, der staatliche Gewalt gegen die unbewaffnete Zivilgesellschaft einsetzte. Fujimori wurde für seine Rolle in diesen Operationen verurteilt, die von der so genannten Colina-Gruppe ausgeführt wurden, einer hierfür innerhalb der peruanischen Armee gebildeten Einheit. Zudem war Fujimori an willkürlichen Entführungen beteiligt, wie der des Journalisten Gustavo Gorriti und des Unternehmers Samuel Dyer.

Ein weiteres Verbrechen unter Fujimori waren die systematischen Zwangssterilisationen. Diese waren ein Teil des Programms zur Geburtenkontrolle, welches durch Fujimoris Regierung zwischen 1996 und 2000 eingeführt wurde. Das Ziel des Nationalen Programms für Reproduktive Gesundheit und Familienplanung war die Bekämpfung der Armut durch die Reduzierung der Geburtenrate. Jedoch wurden Tausende vor allem Indigene, arme und aus ländlichen Gemeinschaften stammende Frauen dieser Prozedur ohne ihre Zustimmung oder unter Zwang, unterzogen. Viele dieser Frauen wurden von medizinischem Personal betrogen oder unter Druck gesetzt, Eileiterunterbrechungen durchzuführen, was zu schweren Vorwürfen des Verbrechens gegen ihre Menschenrechte führte. Insgesamt schädigte das Programm mehr als 270.000 Frauen, vor allem in den Anden und im Amazonasgebiet, wo der Zugang zu Informationen begrenzt ist. Trotz der Anschuldigungen und der internationalen Verurteilung hatten die Opfer zahlreiche Schwierigkeiten dabei, Gerechtigkeit zu erlangen. Bis heute waren die Verantwortlichen, einschließlich bis zuletzt der ehemalige Diktator Fujimori selbst, Gegenstand von Ermittlungen, ohne dass es zu konkreten Verurteilungen kam.

Opfer staatlicher Gewalt Erinnerung an die Ermordeten von la Cantuta (Foto: The Advocacy Project via Flickr (CC BY-NC SA 2.0))

Systematische Korruption und Kontrolle des Staates

Die Korruption und Überwachung durch den Staat erreichten während Fujimoris Regierung ein tiefgreifendes und systematisches Niveau und betrafen praktisch alle öffentlichen Einrichtungen Perus. Die Korruption seines Regimes reichte vom Abzweigen staatlicher Gelder bis zum Kauf von Kongressabgeordneten, Richter*innen und Medien. Alles mit dem Ziel, seine autoritäre Macht zu festigen und sich dauerhaft im Amt zu halten. Vladimiro Montesinos war die Schlüsselfigur hinter diesem Korruptionssystem. Er kontrollierte ein ausgedehntes Spionage- und Bestechungsnetz ausgehend vom Nationalen Nachrichtendienst. Die Einrichtung verwendete zur Zahlung von Bestechungsgeldern und zum „Kauf“ politischer Gefolgschaft staatliche Mittel, deren Verwendung nicht eindeutig kontrolliert wurde.

Eine der berüchtigtsten Taktiken des Regimes war der Kauf von oppositionellen Kongressabgeordneten, um eine für Fujimori günstige Parlamentsmehrheit zu garantieren. Diese Bestechung wurde von Montesinos organisiert und ist in den bekannten „Vladivideos“ zu sehen, Aufnahmen, die Montesinos im Geheimen machte. Diese Aufnahmen zeigen, wie Kongressabgeordnete wie Alberto Kouri Bargeld als Gegenleistung für ihre Loyalität gegenüber der Fujimori-Regierung annehmen. Montesinos zahlte jedem Oppositionsabgeordneten, der zur Regierung wechselte, bis zu 15.000 Dollar. Dieses System ermöglichte Fujimori die Verabschiedung für ihn günstiger Gesetze, einschließlich seiner Wiederwahl als Präsident im Jahr 2000, und die Blockierung jeglicher parlamentarischer Untersuchung der korrupten Aktivitäten seines Regimes.

Um seine Straffreiheit und die seines engsten Umfelds zu gewährleisten, bestach Montesinos Richter*innen und Staatsanwält*innen und sorgte dafür, dass kein Verfahren gegen die Regierung Erfolg hatte. Insbesondere der Oberste Gerichtshof und das Verfassungsgericht waren Ziel dieser Bestechungen, die es dem Regime ermöglichten, sich der gerichtlichen Kontrolle seiner Korruptionshandlungen und Menschenrechtsverletzungen zu entziehen und Straffreiheit zu genießen. Neben dem Justizsystem manipulierten Fujimori und Montesinos auch die peruanischen Medien, indem sie Journalist*innen und Medien­besitzer*innen mit staatlichen Geldern bestachen und so eine günstige Berichterstattung über die Regierung sicherstellten. Montesinos verteilte Millionen von Dollar an die großen Fernsehsender, um Korruptionsskandale und Menschenrechtsverletzungen zu verharmlosen. Diese Kontrolle der Medien schränkte den Zugang der Bürger*innen zu wahrheitsgemäßen und kritischen Informationen ein und ermöglichte es dem Regime, eine Fassade der Stabilität und Popularität aufrechtzuerhalten.

Fujimori setzte im Rahmen seiner Wirtschaftsreformen ein aggressives Programm zur Privatisierung von Staatsbetrieben durch. Viele dieser Verkäufe wurden jedoch wegen mangelnder Transparenz in Frage gestellt. Bei mehreren Käufer*innen stellte sich heraus, dass sie mit der Regierung verbunden waren oder durch Bestechungsgelder begünstigt wurden, was dazu führte, dass die Unternehmen beim Verkauf preislich unterbewertet wurden.

Die aus diesen Privatisierungen stammenden Mittel, die eigentlich für die Entwicklung des Landes hätten verwendet werden müssen, wurden in vielen Fällen auf persönliche Konten oder für Ausgaben der Regierung umgeleitet. Zwischen 1991 und 2000 verkaufte Peru mehr als 220 staatliche Unternehmen und erzielte damit Einnahmen von mehr als 9 Mrd. US-Dollar, von denen jedoch schätzungsweise 6 Mrd. US-Dollar veruntreut oder missbräuchlich verwendet wurden. Die massive Privatisierung brachte nicht nur dem peruanischen Staat erhebliche Verluste ein, sondern kam auch der Fujimori nahestehenden politischen Elite zugute. Dies trug zur Verarmung von Schlüsselsektoren der Wirtschaft und zur Verschärfung der sozialen Ungleichheiten bei.

Fujimori verwendete öffentliche Mittel, um seine Wiederwahlkampagne im Jahr 2000 zu finanzieren, obwohl er versprochen hatte, nicht für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Zu diesem Zweck leitete das Regime schätzungsweise 75 Millionen US-Dollar aus verschiedenen Ministerien, einschließlich des Verteidigungsministeriums, um, um Propaganda, Wähler*innen- mobilisierung und Bestechungsgelder für Wahlhelfer*innen zu finanzieren. Diese Kampagne wurde als Teil des „Kampfes gegen den Terrorismus“ und der „nationalen Entwicklung“ dargestellt, während es sich in Wirklichkeit um ein Manöver handelte, um die eigene Macht zu erhalten. Fujimoris Wiederwahl wurde weithin als Betrug angesehen, was zu Massenprotesten und einer politischen Krise führte, die schließlich zu seinem Sturz beitrug.

Im Jahr 2000 reiste Fujimori, inmitten der Krise um seine gefälschte Wahl, zum APEC-Gipfel nach Brunei, von wo aus er unter Ausnutzung seiner doppelten Staatsbürgerschaft nach Japan flüchtete. Von Tokio aus trat er per Fax vom Präsidentenamt zurück, der peruanische Kongress lehnte seinen Rücktritt jedoch ab und enthob ihn wegen „permanenter moralischer Unfähigkeit“ seines Amtes. Trotz der gegen ihn bestehenden Haftbefehle lebte er in Japan, ohne ausgeliefert zu werden. Im Jahr 2005 reiste er nach Chile, um seine politische Karriere wieder aufzunehmen, wurde aber bei seiner Ankunft aufgrund eines Auslieferungsersuchens aus Peru verhaftet, dem 2007 nach einem langwierigen Gerichtsverfahren schließlich stattgegeben wurde.

Nach seiner Auslieferung wurde Alberto Fujimori wegen Menschenrechtsverletzungen, Korruption und Entführung zu 25 Jahren Haft verurteilt, insbesondere wegen seiner Verantwortung für die Massaker von Barrios Altos und La Cantuta. Im Jahr 2017 wurde er vom damaligen Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski aus humanitären Gründen vorübergehend begnadigt, was zu großen Kontroversen und Ablehnung bei den Familien der Opfer führte. Der Oberste Gerichtshof Perus hob die Begnadigung 2018 auf, und nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt kehrte Fujimori 2019 ins Gefängnis zurück. Sein Fall wurde vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte geprüft, der die Rechtmäßigkeit der Begnadigung in Frage stellte. Im Jahr 2022 setzte das Verfassungsgericht die Begnadigung wieder in Kraft, aber Menschenrechtsorganisationen legten dagegen Berufung ein. Schließlich wurde Fujimori am 6. Dezember 2023 nach einer Vereinbarung zwischen dem Verfassungsgericht, dem von der Partei seiner Tochter Keiko kontrollierten Kongress und der Regierung von Dina Boluarte freigelassen.

Das Erbe des Fujimorismo, angeführt von seiner Tochter Keiko Fujimori, beeinflusst die peruanische Politik nach wie vor durch einen von ihrem Vater geerbten autoritären und klientilistischen Stil. Keiko hat die Struktur der Bewegung beibehalten und sich eine Rhetorik der eisernen Faust (mano dura) zu eigen gemacht. Ihre Führungsrolle ist jedoch von Korruptionsskandalen geprägt, wie dem Fall Odebrecht, der das Weiterbestehen korrupter Machenschaften und Verbindungen zu großen Wirtschaftskonzernen offenlegte.

Dina Boluarte regiert für und durch den Fujimorismo

Keikos Partei, die Fuerza Popular, hat im Kongress beträchtlichen Einfluss ausgeübt und mit Obstruktionstaktiken demokratische Regierungen destabilisiert. Keiko hat Verachtung für die Justiz an den Tag gelegt, indem sie sich als Opfer politischer Verfolgung darstellte, während gegen sie wegen illegaler Finanzierung ermittelt wurde. Das verdeutlicht, dass politische Manipulation nach wie vor auf ihrer Agenda steht. Der Fujimorismo fördert unter ihrer Führung immer noch den Autoritarismus und ein neoliberales Wirtschaftsmodell, das die Interessen der Wirtschaftselite in den Vordergrund stellt, Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit ignoriert und Ungleichheiten aufrechterhält. Das stellt eine ständige Bedrohung für die peruanische Demokratie dar.

Heute regiert die Diktatorin Dina Boluarte, gestützt vom Fujimorismo und mit einer Agenda, die die vollständige Wiederherstellung der Ordnung der 1990er Jahre anstrebt. Dina Boluarte, die die Ermordung von 50 Menschen während der Demonstrationen von 2022-2023 im Süden Perus zu verantworten hat, regiert für und durch den Fujimorismo, womit sie ihm den Weg zur Macht und zur totalen Kontrolle des Landes ebnet und damit das Wenige, was von der peruanischen Demokratie noch übrig ist, zerstört.

Es ist daher unsere Aufgabe, für das Andenken der Opfer zu kämpfen und das Erbe der Diktatur, das unter anderem in der politischen Verfassung von 1993 zum Ausdruck kommt, für immer aus dem kollektiven Bewusstsein zu tilgen.

Ein Mörder und korrupter Diktator ist tot, aber sein Erbe weigert sich zu sterben und klammert sich mit seinen gewaltigen Krallen an die Macht.


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Biologische Straflosigkeit und dennoch ein Erfolg

Der argentinische Diktaturverbrecher von nebenan Protestaktion gegen Luis Kyburg im Berliner Prenzlauer Berg 2020 (Foto: Ute Löhning)

„In Argentinien wäre er schon verurteilt“, sagt Anahí Marocchi. Ihr Bruder, Omar Marocchi, wurde 1976 als 19-Jähriger zusammen mit seiner schwangeren Partnerin Haydee Susana Valor in Mar del Plata entführt und in die Marinebasis der Stadt in der Provinz Buenos Aires verschleppt, wo ein Gefangenen- und Folterlager eingerichtet worden war. Seitdem gelten sie als Verschwundene. Kyburg war der verantwortliche zweite Kommandant einer Einheit „taktischer Taucher“ auf dem Militärstützpunkt. Er soll persönlich von Folter und Misshandlung gewusst haben und „als Mitglied eines Gremiums entschieden haben, welche Opfer nicht ausnahmsweise freizulassen, sondern zu töten seien“, so die Generalstaatsanwaltschaft. Die meisten dieser Opfer sollen „ahnungslos unter dem Vorwand der ‚Verlegung‘ bei sogenannten Todesflügen umgebracht worden sein“.

Andere ranghohe Offiziere, die in dieser Marinebasis eingesetzt waren, wurden in Argentinien wegen Beteiligung an Mord und Verschwindenlassen verurteilt. Kyburg aber, der wegen seiner deutschen Vorfahren neben der argentinischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, setzte sich 2013 nach Deutschland ab, entzog sich damit der argentinischen Justiz und lebte seit 2013 straflos in Berlin. Deutschland lehnte einen Auslieferungsantrag ab, da es seine eigenen Staatsbürger grundsätzlich nicht an Staaten außerhalb der EU ausliefert. Damit ist Deutschland inzwischen zum Rückzugsgebiet für in Lateinamerika gesuchte Doppelstaatler geworden. Das zeigt auch der Fall von Hartmut Hopp, dem früheren Krankenhausleiter der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile.

Bereits 2019 hatte Anahí Marocchi zusammen mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin Anzeige gegen Kyburg erstattet. In Zusammenarbeit mit der argentinischen Justiz vernahm die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Zeug*innen in Argentinien und Europa und wertete von Argentinien bereitgestellte Militärakten, Einsatzpläne und frühere Urteile aus. Bei einer Durchsuchung von Kyburgs Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg am 31. Januar 2023 wurden Dokumente und Datenträger beschlagnahmt. Am 30. Oktober 2023 wurde die 224-seitige Anklage fertiggestellt und anschließend an das Schwurgericht in Berlin übermittelt, wie Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR bestätigt. Da Mitte November bekannt wurde, dass Kyburg bereits am 11. Oktober 2023 eines natürlichen Todes verstorben ist, wird das Verfahren nun aber laut Generalstaatsanwaltschaft voraussichtlich eingestellt.

„Für mich als Angehörige von Verschwundenen und auch für die deutsche und die argentinische Gesellschaft ist es sehr bitter, dass Kyburg straflos ausgegangen ist“, sagt Anahí Marocchi. „Es ist auch sehr enttäuschend, dass die Justiz so langsam ist.“ Tatsächlich führen langwierige Justizabläufe in vielen Fällen zu einem Phänomen biologischer Straflosigkeit. „So schwere Verbrechen wie systematische Entführung, Folter und Mord dürfen nicht straflos bleiben“, kritisiert Rodrigo Díaz, Neffe des Verschwundenen Omar Marocchi. „Das ist ein schwerer Affront für die argentinische Gesellschaft und die Welt.“

Straflos, aber zumindest angeklagt

Die Enttäuschung über die Einstellung des Strafverfahrens teilt Wolfgang Kaleck. Dennoch betrachtet der Jurist die Anklage „als einen wichtigen Erfolg. Für Argentinien wird es wichtig sein, um das Rollback zu verhindern, das von der neuen Regierung zu befürchten ist“, so Kaleck, denn „insbesondere die designierte Vizepräsidentin (von Javier Milei, Victoria Villarruel, Anm. d. Autorin) tritt als sogenannte Negationistin in der Öffentlichkeit auf, sie bestreitet und relativiert also die Verbrechen der Militärdiktatur.“

Während der argentinischen Diktatur (1976 bis 1983) verschwanden bis zu 30.000 Menschen gewaltvoll. Argentinische Strafgerichte haben fast 1.500 Personen wegen der Verbrechen der Militärdiktatur verurteilt und damit internationale Standards gesetzt. „Wir verstehen es also auch als unsere Aufgabe, als internationale Experten darauf hinzu­weisen, dass die juristische Aufarbeitung der Diktaturverbrechen in Argentinien dem Goldstandard nach völkerrechtlichen und völkerstrafrechtlichen Maßstäben entspricht“, erklärt Kaleck. Er setzt auch „immer noch darauf, dass das Verschwindenlassen der Gewerkschafter bei Mercedes Benz Argentinien wie geplant im nächsten Jahr vor einem Provinzgericht in Buenos Aires in der Verhandlung gegen den ehemaligen Werksleiter Juan Tasselkraut verhandelt wird.“

Auch Leonardo Fossati hofft darauf, dass die argentinische Justiz in offenen Fällen weiter ermittelt. Seine Eltern sind ebenfalls in Argentinien verschwunden: in der Polizeistation Comisaria 5 von La Plata, wo er selbst geboren wurde. Als Baby wurde er illegalerweise als Kind anderer Eltern ausgegeben und erfuhr erst mit über 20 Jahren mithilfe der Großmütter der Plaza de Mayo, wer seine Eltern waren. „Dass Diktaturverbrecher sterben, ohne verurteilt worden zu sein, trifft uns sehr“, sagt Fossati. „Es ist schmerzlich zu sehen, dass sie ihr Leben so leben konnten, als hätten sie keine Verbrechen begangen.“

Heute ist er selbst bei den Großmüttern der Plaza de Mayo aktiv. Er setzt darauf, das Bewusstsein in der Bevölkerung darüber zu stärken, warum Diktaturen in Lateinamerika an die Macht kamen und welche Interessen dahinter standen. So will er dazu beitragen, die Erinnerung wachzuhalten, damit so etwas nie wieder passiert. „Die neu gewählte Regierung (von Javier Milei, Anm. der Autorin) wurde vor allem aus wirtschaftlichen Gründen gewählt“, meint Fossati. Er glaubt, „dass die Bevölkerung immer noch gegen die Verbrechen der Diktatur eingestellt ist und uns im Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit weiter unterstützen wird.“


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SCHWERER STAND FÜR MENSCHENRECHTE

Foto: Bettina Müller

„Ob es 9.000 Verhaftete und Verschwundene oder 30.000 waren, ich weiß es nicht. Für mich macht diese Debatte keinen Sinn.“ Mit dieser Aussage macht sich Mauricio Macri gemein mit denjenigen, die die Verbrechen der letzten argentinischen Militärdiktatur von 1976-83 relativieren wollen. Macri tätigte diese Aussage in einem Interview zum 41. Jahrestag des Putsches am 24. März. So wie er, sehen es auch Parteimitglieder und regierungsnahe Politiker*innen. Wahlweise drücken sie Zweifel an der im kollektiven Gedächtnis verankerten Zahl der 30.000 Verhaftet-Verschwundenen unter der vergangenen Militärdiktatur aus, einer Zahl, die von den Menschenrechtsorganisationen immer wieder bestätigt wurde, verneinen schlicht, dass diese ein systematisches Programm zur Eliminierung subversiver, linksorientierter Kräfte vorantrieb.

Schon vor seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2015 hatte der argentinische Präsident Mauricio Macri angekündigt, dass er mit dem „Schwindel der Menschenrechte“, die in den zwölf Jahren Kirchner-Regierungen eine zentrale Rolle eingenommen hatten, Schluss machen würde – und er hat Ernst gemacht.

Es ist nicht nur die Zahl der Opfer der Militärdiktatur, die die Regierung wenig interessiert. Allgemein steht das Thema Menschenrechte und die Aufarbeitung der Verbrechen unter der Militärdiktatur sowie der Verfolgung derjenigen, die diese begangen haben, nicht sonderlich weit oben auf ihrer Prioritätenliste. Es verwundert also nicht, dass Estella Carlotto, eine der sichtbarsten Figuren der Großmütter der Plaza de Mayo, dem Präsidenten nach einem Jahr Regierungszeit ein Armutszeugnis im Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte ausstellte – und sie ist nicht allein mit ihrer Kritik.

Während die Regierung Unsummen in Eigenwerbung steckt, um trotz der desaströsen Lage im Land ein Gefühl des Fortschrittes zu generieren, hat sie an anderen Stellen massiv eingespart. Mit zwischen 15 Prozent und bis zu 50 Prozent weniger finanziellen Mitteln als noch im vergangenen Jahr müssen das Sekretariat für Menschenrechte und eine Reihe von Programmen, die sich unter anderem mit der Begleitung der Opfer der Diktatur befassen, 2017 auskommen.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein.

Auch bei der Strafverfolgung der Täter der Militärdiktatur „spart“ die Regierung ein. Waren es von 2011 bis 2015 jährlich mindestens 20 Verurteilungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sank diese Zahl 2016 auf neun. Gleichzeitig profitierten aber 50 der verurteilten Verbrecher von einer Minderung ihres Strafmaßes und wurden in den Hausarrest entlassen. Zudem stieg der Staat als Ankläger aus einer Reihe von Verfahren gegen Verbrecher der Militärdiktatur aus. Gingen noch bis vor 17 Monaten Menschenrechtsorganisationen im Justizministerium ein und aus, sind es heute die Familienmitglieder der verurteilten Verbrecher*innen und ihre Anwält*innen, zu denen der derzeitige Justizminister Germán Garavano aktive Beziehungen unterhält.

Anfang Mai erreichte die von der Regierung gelebte Politik der Geschichtsvergessenheit ihren vorläufigen Höhepunkt. Der 2011 zu 13 Jahren verurteilte Luis Muiña, der im geheimen Folterzentrum des Krankenhauses Posadas wirkte, sollte bereits nach der Hälfte der Zeit aus dem Gefängnis entlassen werden, so der Oberste Gerichtshof Argentiniens. Die Richter*innen beriefen sich bei ihrer Entscheidung auf ein Gesetz, dass es Straffälligen möglich macht, bei guter Führung und unter Berücksichtigung einiger weiterer Faktoren, nach der Hälfte der Zeit frei zu kommen. Dieses Gesetz war jedoch 2001 abgeschafft worden und galt ohnehin nie für Täter*innen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So begründeten auch zwei der fünf Richter*innen ihre Entscheidung gegen die Minderung des Strafmaßes von Luis Muiña, wobei sie jedoch von den drei anderen, Elena Highton de Nolasco, Carlos Rosenkrantz und Horacio Rosatti, überstimmt wurden. Rosenkrantz und Rosatti wurden übrigens per Dekret von Präsident Macri ernannt und in zweiter Instanz durch den Senat bestätigt.
Die Antwort der Menschenrechtsorganisationen, sozialer Bewegungen und von einem Großteil der Parteien und Gewerkschaften erfolgte umgehend. Noch am selben Tag, dem 3. Mai, zirkulierten eine Vielzahl von Erklärungen, die die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes verurteilten. Keine Woche darauf, einem Aufruf des Zusammenschlusses von Menschenrechtsorganisationen „Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit“ folgend, versammelten sich mehr als 500.000 Menschen vor dem Regierungsgebäude auf der Plaza de Mayo, um ihre Sorge zur Lage der Menschenrechte im Land zum Ausdruck zu bringen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfen nicht begnadigt werden und sie verlieren auch nichts an ihrer Schwere über die Zeit“, so Nora Cortiñas, eine der Mütter der Plaza de Mayo, während der Kundgebung.

Der öffentliche Druck auf die Regierung war derart groß, dass Mauricio Macri, kaum hatte das Parlament die Nicht-Anwendbarkeit des strafmaßmindernden Gesetzes auf Verbrecher*innen der Militärdiktatur erneut ratifiziert, diese Entscheidung bestätigte und sich von den Richter*innen distanzierte.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt.

Doch die Sorge um die Lage der Menschenrechte im Land bleibt. Bereits im vergangenen Jahr gab Mauricio Macri dem Militär die Autonomie zurück, die der damalige Präsident Raúl Alfonsín nach dem Ende der Diktatur eingeschränkt hatte. Außerdem lud er Militärs, die sich mehrfach positiv zur Diktatur geäußert hatten, zu offiziellen Regierungsfeierlichkeiten ein, so erst jüngst zum 207. Jahrestag der Unabhängigkeit am 25. Mai.
Auch immer häufiger auftretende Polizeirazzien an Schulen, Universitäten und in Stadtteilzentren, wo deren Präsenz eigentlich per Gesetz untersagt ist, und das Schweigen der Regierung diesbezüglich, sind äußerst bedenklich. Hinzu kommt die Verfolgung von politischen Aktivist*innen und Gewerkschaftsführer*innen. Ein Fall, der sogar die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte auf den Plan rief, ist jener der Anführerin der Tupac Amaru, Milagro Sala, die seit über einem Jahr in der nördlichen Provinz Jujuy im Gefängnis sitzt, angeblich, weil sie auf einer Demonstration mit Eiern warf.

Unter Berufung auf das von der Regierung verabschiedete Protokoll zur Unterbindung von Straßenbarrikaden (Protocolo Antipiquete) ordnete die Sicherheitsministerin Patricia Bullrich zudem in jüngster Zeit verstärkt die Unterdrückung sozialer Proteste an. Spätestens seit im März auf den Straßen des Landes fast täglich Demonstrationen stattfanden, versucht die Regierung, die Idee der destabilisierenden Gefahr von Links im öffentlichen Raum zu etablieren.

Auch die wachsende Diskriminierung von Migrant*innen und die nicht zu übersehende Verstrickung des Clans Macri mit der Militärjunta sollten nicht unerwähnt bleiben: Die Firmengruppe SOCMA (SOCiedad MAcri) wuchs zwischen 1976 und 1983 von sieben auf 46 Unternehmen an und sie profitierte von der Verstaatlichung der privaten Schulden 1982. Die Regierung Macri hat viele Wahlversprechen gebrochen, eines nicht: Die Menschenrechte und die Kultur der Erinnerung nebensächlich laufen zu lassen.


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