Chile | Colonia Dignidad | Nummer 450 - Dezember 2011

50 Jahre und kein Ende in Sicht

Die Flucht von Hartmut Hopp nach Deutschland eröffnet neue Chancen für die bislang weitgehend unterbliebene Aufarbeitung des Falls Colonia Dignidad

Die strafrechtliche und politische Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad stockt seit Jahren. Die Flucht der langjährigen Führungsfigur Hartmut Hopp von Chile nach Deutschland hat dem Fall Colonia Dignidad wieder großes Medieninteresse beschert. Auch strafrechtlich tut sich was: Bei der Staatsanwaltschaft Krefeld sind inzwischen mehrere Strafanzeigen gegen Hopp eingegangen. So könnte an der weit reichenden Straflosigkeit der von der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen gekratzt werden. In der heute „Villa Baviera“ genannten Siedlung führt die Bundesregierung indessen „Maßnahmen zur Integration der Villa Baviera in die chilenische Gesellschaft“ durch. Die verbleibende Mischung aus Täter_innen und Opfern feiert dieses Jahr das 50-jährige Bestehen der Siedlung und möchte gerne „nach vorne schauen“.

Daniela Schildmann

Was haben Thomas Drach, der Entführer von Jan Philipp Reemtsma, und Hartmut Hopp, die einstige rechte Hand Paul Schäfers, gemeinsam? Einen Rechtsanwalt namens Helfried Roubicek aus Börgerende-Rethwisch an der Ostsee. Der Fall Colonia Dignidad war schon immer für Skurilitäten gut.
Hartmut Hopp braucht gerade einen guten Anwalt. In Chile ist der ehemalige Krankenhaus-Direktor und „Außenminister“ der Colonia Dignidad bereits mehrfach verurteilt. Die meisten gegen ihn gerichteten Verfahren sind jedoch noch nicht rechtskräftig abgeschlossen – auch weil ganze Anwaltsteams den ehemaligen jerarcas (Führungspersonen) der Colonia Dignidad zur Seite stehen und alle verfügbaren Rechtsmittel ausschöpfen. Keine_r der Täter_innen der Colonia Dignidad musste bisher eine Haftstrafe antreten – nur der im vergangenen Jahr im Hochsicherheitsgefängnis von Santiago verstorbene Sektenführer Paul Schäfer. Doch das könnte sich schon bald ändern: Für die kommenden Wochen wird der endgültige Urteilsspruch des chilenischen Obersten Gerichtshofs im Verfahren um den systematischen Kindesmissbrauch in der Colonia erwartet. Die Eltern von 26 chilenischen Kindern hatten 1996 gegen Paul Schäfer und seine Helfershelfer Strafanzeige wegen Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch erstattet. 26 Personen waren deswegen seit 2004 erstinstanzlich verurteilt worden. 2006 wurde Paul Schäfer – nach seiner Festnahme und Ausweisung aus Argentinien – zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im vergangen Januar bestätigte das Berufungsgericht Talca die Urteile, nach denen ein Großteil der noch lebenden Führungsriege der Colonia Dignidad zu Haftstrafen zwischen eineinhalb und fünf Jahren verurteilt wurde. Fünf Jahre betrug das Strafmaß für Hartmut Hopp – ohne Bewährung.
Fünf Jahre Gefängnis vor Augen, entschied sich Hartmut Hopp im vergangenen Mai zur Flucht nach Deutschland. Schließlich liefert Deutschland seine eigenen Staatsbürger_innen nicht aus, und die Chancen, dass ihm die deutschen Staatsanwaltschaften nicht zu nahe treten, standen – ein Blick in die Vergangenheit genügte – recht gut: 22 Jahre lang hatte die Staatsanwaltschaft Bonn gegen Hopp wegen „Freiheitsberaubung, Körperverletzung usw.“ ermittelt, im September 2010 wurden die Ermittlungen eingestellt, „da Tathandlungen in nicht rechtsverjährter Zeit nicht zu belegen waren“. Nach dem Tod von Paul Schäfer könne man das Ermittlungsbuch zuklappen, so dachte man wohl bei der Staatsanwaltschaft.
Hopp flüchtete trotz eines chilenischen Ausreiseverbots über Argentinien und Paraguay nach Deutschland und ließ sich mit seiner Frau Dorothea – die bereits vorgereist war – in Willich bei Krefeld nieder. Dort beantragten beide Sozialhilfe. Der chilenische Ermittlungsrichter hingegen beantragte einen internationalen Haftbefehl und richtete ein Auslieferungsersuchen an die deutsche Justiz, doch Hopp blieb erst einmal auf freiem Fuß.
Bereits eine Woche nach Hopps Ankunft in Deutschland meldete die chilenische Presse seinen Aufenthaltsort: Bärbel Schreiber, die mit Hopps Adoptivsohn Michael verheiratete Tochter des ehemaligen Finanzchefs der Sekte, Albert Schreiber, hatte geplaudert, Hopp sei in Krefeld. Krefeld ist eine wichtige Anlaufstelle für nach Deutschland zurückkehrende Dignidad-Mitglieder: Hier hat die „Freie Volksmission“ des freikirchlichen Predigers Ewald Frank ihren Sitz. Frank, der Paul Schäfer bereits seit den 1950er Jahren kennen soll, war 2004 erstmals in die Villa Baviera (ex-Colonia Dignidad) gereist und hatte dort Massentaufen durchgeführt. Auch Hartmut Hopp wurde von Ewald Frank getauft. Die chilenische Regierung befürchtete daraufhin, dass Frank das Erbe von Schäfer als „neuem Messias“ der Colonia Dignidad antreten wolle und verhängte gegen ihn im Oktober 2005 eine Einreisesperre.
Seither waren mehrere Mitarbeiter Franks nach Chile in die Villa Baviera gereist – und Deutschland-Rückkehrer der Kolonie kommen zahlreich zu seinen monatlichen Massengottesdiensten nach Krefeld. Albert Schreiber, zum Beispiel, besuchte nach seiner Flucht vor der chilenischen Justiz nach Deutschland die Gottesdienste in der Freien Volksmission – und Hartmut Hopp nutzte zumindest das sekteneigene Faxgerät: „Zunächst möchte ich emphatisch erklären, dass ich weder zu Kindesmissbrauch noch Menschenrechtsverletzungen, noch irgendwelchen anderen strafrechtlichen Verstößen gleich welcher Art zu irgendeinem Augenblick Beihilfe oder andere Beteiligung gehabt habe. Alle Behauptungen, die das Gegenteil zu manifestieren versuchen, sind Verleumdungen“, faxte Hartmut Hopp Ende August aus der Freien Volksmission als Leserbrief an die Westdeutsche Zeitung.
Die Opfer der Colonia Dignidad sehen das anders. Die Berliner Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf und das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) reichten daraufhin im August und Oktober drei Strafanzeigen gegen Hartmut Hopp ein. Tatvorwürfe sind dabei mehrfacher Mord an chilenischen Oppositionellen, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern und schwere Körperverletzung durch systematische Verabreichung von Psychopharmaka an Siedlungsbewohner_innen. Die Staatsanwaltschaft Krefeld leitete infolgedessen ein neues Ermittlungsverfahren gegen Hopp ein. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Klaus Schreiber gab die Übersetzung des 500-seitigen chilenischen Missbrauchsurteils gegen Hopp in Auftrag. Im November dann, so Schreiber, könne gesagt werden, wie es mit den Ermittlungen weitergehe.
Mehrere hundert Menschen, vor allem aus Krefeld und Umgebung sind inzwischen Teil einer Facebook-Gruppe mit dem Titel: „Herr Hopp, Sie sind in Krefeld unerwünscht!“. Als im August bekannt wurde, dass Hartmut und Dorothea Hopp aus Willich in den Stadtteil Krefeld-Linn ziehen wollten, organisierten einige Dutzend Krefelder_innen eine Unterschriftensammlung vor der neuen Wohnung der Hopps. Der Vermieter kündigte daraufhin den Hopps.
Indessen wird in Chile des 50-jährigen Bestehens der Siedlung gedacht. In der Festschrift „50 Jahre Villa Baviera“ wird die landschaftliche Schönheit des Koloniegeländes betont und die harte Aufbauarbeit gewürdigt, die notwendig war, um das Land urbar zu machen. Und auch das Auswärtige Amt ist aktiv geworden. Seit 2008 führt das AA mit Haushaltsmitteln von ca. 250.000 Euro pro Jahr „Maßnahmen zur Integration der Villa Baviera in die chilenische Gesellschaft“ durch. Dazu gehören die psychotherapeutische und seelsorgerische Betreuung, Bildungsprojekte sowie – mit über der Hälfte der Gelder – Betriebsberatung durch die deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ und den Senior Experten Service. Eine Thematisierung der dunklen Vergangenheit der Colonia Dignidad unterbleibt hingegen vollständig. Während viele andere Orte des Foltern und Mordens des Pinochet-Geheimdienstes DINA inzwischen in Gedenkstätten umgewandelt wurden oder wenigstens eine Gedenktafel an die dort begangenen Verbrechen erinnern, ist das in der ehemaligen Colonia Dignidad bislang gänzlich unterblieben.
Regelmäßig heißt es, die Firmen der Villa Baviera stünden kurz vor der Pleite, doch irgendwie geht es immer weiter. In die genauen Vermögensverhältnisse der ehemaligen Colonia Dignidad hat niemand so richtig Einblick: „Nähere Erkenntnisse hierzu liegen der Bundesregierung nicht vor“, so die Antwort auf eine kleine Anfrage des Abgeordneten Jan Korte (Linkspartei). Die Vermögenswerte der Colonia Dignidad wurden durch jahrzehntelange unentlohnte Arbeit der Siedlungsbewohner_innen, aber auch durch Waffenhandel, Steuer- und Zollbetrug und andere kriminelle Tätigkeiten angehäuft. Um eine Auflösung der Colonia Dignidad durch die chilenische Regierung nach der Rückkehr zur Demokratie 1990 zu umgehen, wurden alle Vermögenswerte auf ein Geflecht von Aktiengesellschaften übertragen und zu ungleichen Anteilen unter den Kolonie-Bewohner_innen verteilt. Unbekannte Summen wurden zudem ins Ausland verbracht. Hartmut Hopp sagte im September 2005 vor dem chilenischen Sonderrichter Jorge Zepeda aus, er wisse von Konten und Vermögenswerten in den USA, Kanada, Argentinien, Uruguay und auf Karibikinseln. Geld sei auch über die Zweigstelle der Chemical Bank in New York geflossen. Ob die Justiz diese Geld- und Vermögenswerte untersucht hat, ist nicht bekannt.
Seit zwei Jahren hat die Villa Baviera einen externen Berater engagiert, um die Kolonieunternehmen wettbewerbsfähiger zu machen. Er heißt Falk W. Spahn und arbeitet unentgeltlich. 25 Jahre lang war er in Bogotá Vorstand der Sarah Consult, einer Firma, die deutsche Unternehmen bei ihrer Niederlassung in Kolumbien berät. Davor war er bei der Unternehmensberatung Kienbaum tätig. Auch Helfried Roubicek, der neue Anwalt von Hartmut Hopp, arbeitete bei Kienbaum und war davor Geschäftsführer der Deutsch-Kolumbianischen Industrie und Handelskammer. Vielleicht kennt man sich ja noch aus alten Zeiten.

Infokasten: Systematische Fluchtbewegung

Hartmut Hopp ist nicht das erste Mitglied der Colonia Dignidad, das sich durch Flucht nach Deutschland dem Zugriff der chilenischen Justiz entzieht. Etwa zehn weitere Colonia Dignidad Mitglieder werden teilweise mit Interpol-Haftbefehlen von chilenischen Justizbehörden gesucht. Weltweit könnten sie festgenommen und nach Chile ausgeliefert werden. Nur in Deutschland nicht, denn das Grundgesetz verbietet eine Auslieferung an Drittstaaten. Jedoch besteht bei von deutschen Staatsbürger_innen begangenen schweren Straftaten wie Mord oder sexuellem Missbrauch eine Ermittlungspflicht für hiesige Strafverfolgungsbehörden. Ermittlungsverfahren deutscher Staatsanwaltschaften gegen von der chilenischen Justiz flüchtige Colonia Dignidad-Mitglieder wurden bislang regelmäßig eingestellt. Vor Hartmut Hopp war Albert Schreiber der bekannteste nach Deutschland geflüchtete Colonia Dignidad-Funktionär (er ist inzwischen verstorben). Auch seine Frau Lilli und sein Sohn Ernst, die sich in Chile den gegen sie erhobenen Ermittlungen wegen Kindesentführung durch Flucht entzogen hatten, wohnen unbehelligt in Deutschland.
Ähnliches gilt auch für das ehemalige Führungsmitglied Hans-Jürgen Riesland und auch für den ehemaligen Chauffeur Paul Schäfers, Reinhard Döring. Riesland wird von der chilenischen Justiz Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Döring hingegen soll nach vertraulichen Zeugenaussagen vor Gericht auch an Gefangenentransporten zu Exekutionsstätten beteiligt gewesen sein.

Infokasten: Wikileaks-Enthüllungen zum Fall Colonia Dignidad

Auch in Chile gestaltet sich die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad schwierig. Bereits 1991 hatte der Bericht der chilenischen Wahrheitskomission („Informe Rettig“) angedeutet, dass viele politische Gefangene während der Militärdiktatur in der Colonia Dignidad verhört, gefoltert und ermordet wurden. Dutzende Gerichtsaussagen von ehemaligen DINA-Agenten und Mitgliedern der Colonia Dignidad haben dies in den letzten 20 Jahren bestätigt. Trotzdem tut sich die chilenische Justiz schwer damit, die Täter_innen zu benennen und zu verurteilen.
Kürzlich von Wikileaks enthüllte State Department-Berichte deuten an, dass Sonderrichter Zepeda mit Informant_innen in der Colonia Dignidad zusammenarbeitet. Diese fungieren möglicherweise als Kronzeug_innen und verraten Taten – aber keine Täter_innen – und könnten dafür selbst straffrei ausgehen. Botschafter Kelly schickte am 20. Dezember 2005 zwei Berichte an das State Department, die ein ausführliches Treffen des US-Konsuls Sean Murphy mit Sonderrichter Jorge Zepeda am Vortag wiedergeben. Zepeda berichtete dem Konsul, seine Ermittlungen hätten ergeben, dass direkt nach dem Putsch 1973 sowie Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre politische Gefangene von der DINA und den Wachmannschaften der Kolonie zu Verhören und Folterungen in die Colonia Dignidad gebracht wurden und teilweise auch dort ermordet worden seien. Er habe solide Beweise über fünf politische Gefangene, die in der Colonia gefoltert, ermordet und vergraben worden seien, und plane, die Ermittlungen dazu im Januar 2006 abzuschließen.
Zepeda betonte die engen Beziehungen zwischen den Sicherheitsbehörden der Diktatur und der Kolonie und zeigte dem Konsul ein Foto, das Paul Schäfer gemeinsam mit dem Chef der Geheimpolizei DINA, Manuel Contreras, auf einem nächtlichen Jagdausflug auf dem Sektengelände zeigt. Verbindungen wie diese seien der Grund dafür, dass die Colonia Dignidad bis weit in die demokratischen Transitionsjahre hinein weiterbestand. Der Richter erzählte dem Konsul ferner, dass er in der Kolonie mit einer Reihe von Informant_innen zusammenarbeite, die ihm präzise Informationen zukommen lassen. Trotz der Ankündigung Zepedas, die Fälle im Januar 2006 abzuschließen, sind diese weiterhin offen, der Ermittlungsstand ist weitgehend unbekannt.

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