ZUFÄLLIGER TOD EINES AKTIVISTEN

Hunderte Menschen verabschiedeten sich in Quintero vom Aktivisten Alejandro Castro (Foto: Frente Fotográfico)

„Ein Anarchist, der verhört wurde, fiel durch ein Fenster. Während meine Kollegen ziemlich vernünftig behaupten, dass der Anarchist Selbstmord begangen hatte, war das Urteil des Gerichts, dass der Tod des Anarchisten ein Unfall war.“ So der ermittelnde Polizeikommissar in der weltberühmten Groteske von Dario Fo „Zufälliger Tod eines Anarchisten“, das auf der wahren Geschichte des Todes des Anarchisten Guiseppe Pinelli basiert. Die Realität für Aktivist*innen in Chile ist mindestens genauso bitter, wie das Theaterstück grotesk ist. Aktivist*innen werden bedroht, zusammengeschlagen, sterben in scheinbaren Unfällen oder bringen sich um. Ermittlungen verlaufen im Sande, Verantwortliche werden selten ausfindig gemacht.
Für das Jahr 2017 hatte die internationale Nichtregierungsorganisation Global Witness in ihrem Bericht „At what cost“ (Zu welchen Kosten) mehr als 120 ermordete Aktivist*innen in Lateinamerika gemeldet, die Zahlen für 2018 sind noch nicht bekannt. Besonders in Kolumbien, Mexiko und Brasilien ist der Einsatz für die Umwelt oft tödlich, nicht zuletzt wegen einer entgrenzten staatlichen Gewalt, ausgeübt von Paramilitärs und Milizen. Diese morden öffentlich und offensichtlich; der Terror gegen die Aktivist*innen soll einschüchtern und tut das auch.

Nicht nur Macarena Valdés ist unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen

In Chile hingegen, wo die Sicherheitslage stabiler ist und staatliche Gewalt in Uniform daherkommt, sterben Umweltaktivist*innen einen stillen Tod. Ihr Ableben wird nur zu gerne als Suizid kategorisiert, wohl am offensichtlichsten im Fall der jungen Mapuche und Umweltaktivistin Macarena Valdés (s. LN 526) Am 22. August 2016 fand ihr damals elfjähriger Sohn seine Mutter erhängt in ihrem Haus in Tranguil in der Nähe der Kleinstadt Pangipulli im Süden Chiles auf. Sie muss gestorben sein, während ihr anderer – zum damaligen Zeitpunkt eineinhalbjähriger – Sohn im Haus war. Nur einen Tag zuvor waren sie und ihr Ehemann Rubén Collío von Unbekannten wegen ihres Einsatzes gegen ein Wasserkraftwerk bedroht worden. Das Projekt wird von der österreichischen Firma RP Global und der chilenischen Firma Saesa vorangetrieben. Das Kleinwasserkraftwerk, das mittlerweile in Betrieb ist, verspricht Energiesicherheit und Jobs im armen Süden Chiles. „Am 21. haben sie dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem wir wohnen, gedroht. Wenn er uns nicht rauswerfen würde, würde uns etwas sehr Schlimmes passieren, weil es Leute gebe, die uns Schaden zufügen wollten. Am nächsten Tag fand man Macarena erhängt in unserem Haus auf, ohne Erklärung”, so Collío in einem Interview mit Radio UChile.
Trotz der Morddrohungen gegen Valdés ist sich die Staatsanwaltschaft bis heute sicher, dass sie Suizid begangen hat. Und das obwohl es mittlerweile ein forensisches Gutachten gibt, das besagt, dass Valdés zum Zeitpunkt, an dem sie aufgehängt wurde, bereits tot war. RP Global bestreitet jedwede Verbindung zum Tod von Valdés.

(Foto: Frente Fotográfico)

Valdés ist nicht die einzige Aktivist*in, die unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen ist. Die Gemeinden Quintero, Ventanas und Puchuncaví, rund 50 Kilometer nördlich der Küstenmetropole Valparaíso gelegen, sind in Chile zum Symbol für eine fehlgeleitete Industriepolitik geworden. 1961 wurde der Industriepark Ventanas eingerichtet, er ist eine der sogenannten zonas de sacrificio, der geopferten Zonen, in denen dem industriellen Fortschritt alles, das Meer, die Luft und auch die Gesundheit und das Leben von Menschen untergeordnet, sprich „geopfert“ wird. Mittlerweile gibt es 14 Fabriken und Kraftwerke in der Region, die Wohlstand versprechen, aber Gift und Galle liefern.
Ein trauriger Höhepunkt dieser permanenten Umweltkatastrophe fand im August 2018 statt. Eine Giftwolke zog durch Quintero, die dazu führte, dass mindestens 301 Personen, darunter 53 Schüler*innen, mit Vergiftungserscheinungen behandelt werden mussten. Die lokale Bevölkerung reagierte mit Protest, es gab Straßenblockaden und Schulbesetzungen, die mit Wasser­werfereinsätzen und Tränengas beantwortet wurden. Schließlich wurde auch noch das Militär entsandt, das mit Gummigeschossen auf Demonstrant*innen schoss.
Einer derjenigen, der die Proteste mitorganisierte, war der junge Gewerkschafter Alejandro Castro (27) von der Kleinfischergewerkschaft Sindicato S24. Am 24. September wurde er erhängt neben der U-Bahn in Valparaíso aufgefunden. Die Geschichten gleichen sich. „Ich habe Zweifel, genau wie seine ganze Familie, und das sind berechtigte Zweifel, denn es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass Alejandro sie durchlebt hat. Er wurde von Carabineros der siebten Polizeistation in Santiago bedroht. Sie haben unsere Leute angegriffen. Er war mein Freund, er ist mein Freund, er hatte einen Sohn, er war ein engagierter Mann, mit viel Disziplin, Loyalität, er war ein Verteidiger der Umwelt wie kein anderer.“ erklärte Carolina Orellana Sepúlveda, eine Freundin von Castro der Tageszeitung La Tercera.
Mehrere Quellen bestätigten, dass Castro bedroht wurde. Bei einer Demonstration hat ein unbekannter Polizist ihm zugerufen: „Alejandro Csatro, wir haben dich auf dem Zettel!“ Für die ermittelnden Behörden war dennoch schnell klar, dass sich Castro das Leben genommen hat und dass keinerlei Dritte an seinem Tod beteiligt waren. Auch wenn selbst die Kriminalpolizei davon ausgeht, dass Castro wiederholt bedroht wurde. Wieder ein Aktivist, der in der Öffentlichkeit erhängt aufgefunden wurde, nachdem er bedroht wurde. Anders als im Fall von Macarena Valdés ermittelt im Fall von Castro ein Sonderstaatsanwalt, die Ergebnisse seiner Ermittlungen stehen allerdings noch aus.
Am 31. Januar 2019 wurde der 47-jährige Marcelo Vega Cortés in der Mündung des Lingue-Flusses tot aufgefunden. Sein Pick-up-Truck war halb versenkt. Vega war Präsident der Vereinigung der indigenen Gemeinschaften von Chan Chan und ein historischer Gegner der Installation einer Pipeline der Firma Celulosa Arauco – CELCO zur Deponierung von Abfällen im Meer von Mehuín.
Eliab Viguera, Sprecherin des Komitees zur Verteidigung des Meeres von Mehuín, wies darauf hin, dass die Bedingungen, unter denen das von Vega besetzte Fahrzeug gefunden wurde, „eine äußerst gründliche Untersuchung verdienen, da der LKW halb untergetaucht war, eine Situation, die es Marcelo ermöglicht hätte, aus dem Fahrzeug auszusteigen und sich zu retten, vor allem, da es sich um eine Person mit Kenntnissen im Tauchen handelt”. Es ist gut möglich, dass es sich beim Tod von Vega um einen einfachen Autounfall handelt. Zweifel bleiben aber trotzdem bestehen – gerade auch, weil Gewalt gegen Aktivist*innen in Chile alltäglich ist. Zuletzt wurde am 22. April bekannt, dass Manuel Montenegro von der Gewerkschaft Sinamoc brutal zusammengeschlagen wurde. Sinamoc befindet sich im Arbeitskampf mit der Firma Acciones, die in Talca ein neues Gefängnis baut. Im Arbeitskampf geht es darum, dass Acciones fünf Arbeiter, die sich in Verhandlung mit der Firma befanden, entlassen hat. Montenegro wurde in einem Internetcafé mit Knüppeln verprügelt. Nach Angaben des Onlinemagazins El porteño riefen die Angreifer, bevor sie flüchteten: „Wenn du nicht abhaust und aufhörst die Firma zu nerven, wirst du das teuer bezahlen. Und wenn du nicht die Forderungen zurückziehst, bringen wir deine Familie um.“
Rodrigo Mundaca, von der Organisation Modatima, die sich in Petorca, wo Avocado-Plantagen ganze Landstriche austrocknen, für Umweltschutz einsetzt, hält diese vielen zufälligen Todesfälle für unwahrscheinlich. Mundaca selbst wurde wegen seinem Einsatz für das Wasser in Petorca mit Mord gedroht, genau wie seine Partnerin. „All dies führte zu einem Wiederaufleben von Drohungen und Folgemaßnahmen, so dass der Staatsanwalt der Region Valparaíso, Pablo Gómez, im Juli 2018 Schutzmaßnahmen für mich und unsere Kollegin Verónica Vilches erließ”, so Mundaca in der Onlinezeitschrift El soberano. Dort ergänzt er auch: „Mehrere Genossen haben davon berichtet, dass versucht wurde, sie zu überfahren, sie bei der Arbeit zu verfolgen … Es ist offensichtlich. In Chile müssen wir anfangen, uns anzusehen, was mit den sozialen Kämpfern passiert.“ Kleinkriegen lassen will er sich, wie viele andere Aktivist*innen auch, trotz der Gewalt nicht, trotz der Drohungen, trotz der vielen zufälligen Todesfälle: „Wir werden aber deswegen nicht aufhören zu kämpfen und Probleme sichtbar zu machen.“


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DIFFAMIERUNG STATT AUFKLÄRUNG

Ein Jahr ist seit dem Mord an Berta Cáceres vergangen. Der Schock über den Verlust und die grausame Tat ist längst nicht überwunden. Berta Cáceres war eine nicht nur in Honduras herausragende Persönlichkeit, die sich schwer in Kategorien einordnen ließ. Sie war mehr als eine Umweltschützerin oder Menschenrechtsverteidigerin, sie war Kämpferin für indigene Rechte, Feministin, Antikapitalistin. Sie hatte den Zivilen Rat für Indigene und Basisbewegungen Honduras (COPINH) maßgeblich mit aufgebaut und dafür gesorgt, dass nicht nur die Verteidigung der Territorien der indigenen Gruppe der Lenca auf dem Programm stand, sondern auch ein kritischer Umgang mit patriarchalen Strukturen innerhalb der eigenen Organisation. Sie war trotz all ihrer Reisen am liebsten vor Ort in den Lenca-Gemeinden.

Die Botschaft der Mörder bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten.

„Sie haben geglaubt, dass sie auf diese Art nicht nur die in Lateinamerika und weltweit bekannte Führungspersönlichkeit vernichten, sondern zugleich auch die Idee, den Kampf, das politische Projekt und die Organisation COPINH, dessen Mitbegründerin und Tochter Berta war“, schreibt COPINH über die Intention der Mörder. Gelungen ist ihnen das nicht, nach wie vor fordern solidarische Gruppen weltweit Gerechtigkeit für Berta. Berta Cáceres’ Name fand sich bereits im Jahr 2013 auf einer Todesliste. Sie erhielt über die Jahre eine Vielzahl von Morddrohungen. Viele glaubten, dass man es nicht wagen würde, Berta Cáceres zu ermorden, weil sie zu bekannt war. Doch in der Nacht vom 2. auf den 3. März 2016 erschossen Auftragsmörder sie in ihrem eigenen Haus. Der Zeuge Gustavo Castro, mit dessen Anwesenheit die Mörder nicht gerechnet hatten, wurde angeschossen. Er überlebte, weil er sich tot stellte. Die schockierende Botschaft der Mörder an die Öffentlichkeit bleibt: Wenn wir Berta töten können, können wir jeden töten. In dem Jahr seit Bertas Tod wurden weitere Menschenrechts- und Umweltaktivist*innen ermordet: Nelson García und Lesbia Urquía von COPINH, José Ángel Flores und Silmer Dionisio George von der Bauernbewegung MUCA, José Santos Sevilla, aus der Führung des indigenen Volks der Tolúpan. Honduras ist, wie die internationale NGO Global Witness in ihrem Ende Januar erschienenen Bericht feststellt, das gefährlichste Land weltweit für Umweltschützer*innen und Kämpfer*innen für Landrechte. Der Mordfall Berta Cáceres droht sich als beispielhaft für eine Gesellschaft zu erweisen, in der Morde und Attentate durch die höchsten politischen und wirtschaftlichen Kreise gedeckt werden.

Global Witness stellt aktuell fünf Fälle von Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landkonflikten ausführlich dar und benennt Mitverantwortliche aus Politik, Wirtschaft und Militär. Seither läuft eine Diffamierungskampagne gegen die Verfasser*innen des Berichts sowie gegen die Gemeinden und Organisationen, die Informationen dazu beigetragen haben. Einmal mehr handeln die honduranischen Autoritäten nach dem Motto: diffamieren und kriminalisieren anstatt ernsthaft zu ermitteln. Am 8. Februar 2017 wurde Óscar Aroldo Torres Velásquez als achter Tatverdächtiger im Mordfall Berta Cáceres verhaftet. Er soll derjenige sein, der auf den einzigen Zeugen Gustavo Castro geschossen hat. Zwei der Beschuldigten haben Verbindungen zum Staudammunternehmen Desarrollos Energéticos S.A. (DESA), das für den Bau des von COPINH abgelehnten Wasserkraftprojekts Agua Zarca auf indigenem Territorium verantwortlich ist. Vier der Beschuldigten sind Militärs oder Ex-Militärs.

Bereits im Juni 2016 sprach ein weiterer ehemaliger Militärangehöriger gegenüber der Zeitung The Guardian von einer Todesliste, auf der Cáceres’ Name gestanden habe. Im September 2016 entdeckten Mitglieder von COPINH einen Militärspion in ihren Reihen, der Informationen über ihre Aktivitäten an das Präsidialamt schickte. „DESAs Verflechtungen mit dem honduranischen Militär reichen bis in die obersten Ränge. Dem Unternehmensregister zufolge, in das Global Witness Einsicht hatte, ist DESAs Präsident Roberto David Castillo Mejía ein ehemaliger Geheimdienstoffizier und Angestellter des staatlichen Energieunternehmens Empresa Nacional de Energía Eléctrica“, so Global Witness. Bereits 2009 habe es Indizien für korrupte Geschäfte Castillos gegeben. Unter anderem bezog er noch ein Gehalt der Armee, nachdem er dort ausgeschieden war und verkaufte überteuerte Waren an seinen ehemaligen Arbeitgeber. In DESAs Vorstand sitzen Vertreter der gut vernetzten wirtschaftlich-politischen Elite wie Ex-Minister Roberto Pacheco Reyes oder der Präsident der Bank BAC Honduras, Jacobo Nicolás Atala Zablah, der zu einer der reichsten und einflussreichsten Familien des Landes gehört.

Die international investigativ tätige NGO Global Witness zeigt sich in ihrem Bericht davon überzeugt, dass die Auftraggeber*innen im Mordfall Cáceres in der gesellschaftlichen Hierarchie weiter oben stehen als die bisher Verhafteten. Die Verfasser*innen der Recherchen halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass die Hintermänner gefasst werden, wenn sie wirklich Verbindungen in die oberen Ebenen des Staudammprojekts oder des Militärs besitzen.

Nicht nur im Mordfall Berta Cáceres hat Global Witness belastendes Material gegen führende Unternehmer*innen, Politiker*innen oder Militärs zusammengetragen, etwa gegen die Vorsitzende der Nationalen Partei, Gladis Aurora López. So ist die Diffamierungskampagne, die bereits vor der Vorstellung der Studie begann, kaum verwunderlich. Es tauchten manipulierte Plakate im Internet auf, auf denen die Lenca- Organisationen MILPAH und COPINH, das Honduranische Zentrum zur Förderung der Gemeindeentwicklung CEHPRODEC sowie die NGO Global Witness bezichtigt werden, Honduras in Misskredit zu bringen sowie ökonomisch davon zu profitieren. Auf einem solchen Plakat abgebildet ist unter anderem Berta Isabel Zúñiga, Tochter von Berta Cáceres. Während eines Auftritts in der Fernsehtalkshow Frente a frente wurden Billy Kyte von Global Witness sowie zwei Vertreter von MILPAH als „Lügner“, „Entwicklungsfeinde“ und „Feinde des honduranischen Volkes“ verbal attackiert. Der Staatssekretär für Energie, Ressourcen, Umwelt und Bergbau, José Antonio Galdames, forderte in einem Telefonanruf während der Sendung, dass die Staatsanwaltschaft Kyte verhaften solle.

Auch dem Mord an Berta Cáceres war eine Diffamierungskampagne vorausgegangen, in der die Koordinatorin des COPINH der Lüge bezichtigt wurde und COPINH-Mitgliedern Vandalismus unterstellt wurde. Besonders im Monat vor dem Mord häuften sich die Diffamierungen. Global Witness betonte nach der jüngsten Rufmordkampagne, dass ihre Mitarbeiter* innen durchaus ein positives Bild der honduranischen Bevölkerung hätten: „In der vergangenen Woche haben uns die Führungspersonen der Gemeinden und der Indigenen erneut inspiriert, die Frauen und Männer, die die Menschenrechte verteidigen, die Mitglieder der Nichtregierungsorganisationen. Sie sind Heldinnen und Helden. Wenn der Regierung ein besseres Honduras wirklich am Herzen liegen würde, würde sie deren Sicherheit garantieren und ihre Stimmen anhören.“


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