ES IST NOCH NICHT VORBEI

La marcha más grande de Chile Zur größten Demo Chiles kamen auf Santiagos Plaza Italia 1,5 Millionen Menschen zusammen (Fotos: Diego Reyes Vielma)

Wieder einmal waren es die Schüler*innen, die den Unmut der Gesellschaft auf die Straße brachten. Doch dieses Mal ging es nicht um die seit Jahren unerfüllte Forderung nach kostenloser Bildung, sondern um die jüngste Erhöhung der U-Bahn-Fahrpreise um 30 Pesos (umgerechnet etwa vier Cent). Die Schüler*innen nahmen diese zum Anlass, in organisierten Aktionen über die Drehkreuze zu springen, andere Fahrgäste zum Mitmachen zu animieren und U-Bahn-Stationen in der ganzen Stadt zu besetzen. „Evadir, no pagar – otra forma de luchar“ hallte es aus den Stationen: „Umgehen, nicht bezahlen – eine andere Art zu kämpfen.“
Die Regierung reagierte mit Repression, schickte die Polizei und ließ Schüler*innen verhaften. Angesichts der brutalen Gewalt, mit der die Polizei dabei vorging, schlossen sich viele Fahrgäste den Protesten an. Das U-Bahn-­­­­­Unternehmen schloss daraufhin nach und nach alle Stationen in der Stadt und legte damit den öffentlichen Nahverkehr lahm. Doch die Wut der Menschen, die nun irgendwo in der 6-Millionen-Metropole gestrandet waren, richtete sich nicht gegen die Schüler*innen. Überall durchbrachen Menschenmassen stattdessen die Absperrungen an den Eingängen der U-Bahn-Stationen und beteiligten sich an den Besetzungen. Am 18. Oktober eskalierte die Situation, 25 U-Bahn-Stationen gingen in Flammen auf. Auch an anderen Orten der Stadt formierten sich Proteste, Barrikaden wurden errichtet, Busse und Gebäude in Brand gesetzt, Supermärkte geplündert – nicht immer von den Protestierenden, wie sich herausstellte. Diverse Videos zeigen, wie Polizist*innen Brände legen, oder Plasmafernseher in Polizeiautos laden. Die Staatsanwaltschaft bestätigte erst kürzlich, dass viele der Feuer in U-Bahn-Stationen in für die Protestierenden unzugänglichen Bereichen ausgebrochen waren, was die Vermutung stärkt, dass sie absichtlich gelegt wurden, um die Proteste zu diffamieren.

Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre

Es mag verwunderlich klingen, dass eine Erhöhung um vier Cent eine dermaßen breite Protestbewegung in Gang setzt, doch für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung ist die Grenze des Ertragbaren damit endgültig überschritten. Etwa ein Viertel der chilenischen Erwerbstätigen verdient nicht mehr als den monatlichen Mindestlohn von umgerechnet etwa 360 Euro für eine 45-Stunden-Woche. Diese Menschen müssen schon jetzt ganze 20 Prozent ihres Einkommens für Transportkosten aufwenden. Zwei Drittel der Erwerbstätigen verdient weniger als umgerechnet 600 Euro monatlich, auch da machen vier Cent pro Fahrt einen realen Unterschied. Doch es geht um mehr: „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“, wird die demonstrierende Bevölkerung nicht müde zu betonen.
30 Jahre sind vergangen seit dem Ende der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. 30 Jahre, in denen es keine demokratisch gewählte Regierung, ob links oder rechts, vermochte, am von Pinochet installierten neoliberalen System zu rütteln. Nun haben die meisten Chilen*innen genug. Genug von einer Gesellschaft, in der das reichste Prozent über 30 Prozent des Vermögens verfügt, während die Hälfte der Bevölkerung gerade einmal zwei Prozent unter sich aufteilt. Genug von einem Bildungssystem, in dem Studieren für die meisten Verschuldung bedeutet. Genug von einem Gesundheitssystem, in dem sich nur Reiche eine gute Behandlung leisten können. Genug von einem Rentensystem, das Menschen nach Jahrzehnten harter Arbeit mit 200 Euro dastehen lässt, die nicht einmal für Medikamente reichen. Und genug von einer politischen Elite, die auf die Forderungen nach Reformen immer nur mit kosmetischen Veränderungen reagiert, weil sie zum obersten Prozent gehört, das von dieser Ausbeutung profitiert.

Chile Despertó Chile ist aufgewacht – und wie. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei sind teils heftig

Auch dieses Mal reagierte der rechtskonservative Präsident Sebastián Piñera statt mit substanziellen Zugeständnissen mit Diffamierung und Gewalt. Am 19. Oktober verkündete er den Ausnahmezustand, verhängte eine nächtliche Ausgangsperre und schickte das Militär auf die Straßen – Zustände wie zuletzt während der Militärdiktatur. Bei Menschen, die diese Zeit miterlebt haben, weckten die Bilder von Soldat*innen und Panzern im Zentrum Santiagos dunkle Erinnerungen. Dennoch wurden die Proteste im Laufe der folgenden Tage immer größer und breiteten sich wie ein Lauffeuer über das ganze Land aus. Als die Regierung ankündigte, die Fahrpreiserhöhung zurückzunehmen, war es für solche Angebote bereits zu spät.
Piñera verkündete, man befinde sich „im Krieg gegen einen mächtigen, unerbittlichen Feind, der nichts und niemanden respektiert und bereit ist, Gewalt und Kriminalität ohne Grenzen anzuwenden.“ Militär und Polizei verstanden das offenbar als Aufforderung. Videos im Netz zeigen die Brutalität, mit der sie während des Ausnahmezustandes im ganzen Land versuchten, die Proteste zu zerschlagen: Wahllos um sich schießende, prügelnde und folternde Soldat*innen und Polizist*innen, illegale Festnahmen von Anführer*innen der Studieren­den­bewegung, der exzessive Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern gegen friedliche Demos.

Mehrere Tote durch Militär und Polizei


Mindestens 150 Personen haben durch Gummigeschosse ein Auge verloren. Das Fazit des Nationalen Menschenrechtsinstituts (INDH) nach drei Wochen: 1.915 in Krankenhäusern behandelte Verletzte, 5.565 Festnahmen, 171 Anzeigen wegen Folter, 52 wegen sexualisierter Gewalt, fünf wegen Mordes. Insgesamt sind im Zuge der Proteste mindestens 23 Menschen ums Leben gekommen. Die Regierung bestätigte mindestens fünf durch Soldat*innen ode Polizist*innen getötete Personen, zwei weitere Menschen starben in Polizeigewahrsam. Von den meisten anderen Todes­opfern heißt es von offizieller Seite, sie wären bei Bränden im Zuge von Supermarktplünderungen ums Leben gekommen, mindestens eine der Leichen wies jedoch Schuss­verletzungen auf.

Die Regierung verbreitet Verschwörungstheorien

In den ersten Tagen der Proteste konzentrierte sich die Regierung darauf, die Proteste als kriminelle und von Venezuela orchestrierte Aktionen zu diffamieren. Die Hauptziele der anfänglichen Proteste, so Innenminister Andrés Chadwick, Cousin des Präsidenten und Pinochet-Anhänger der ersten Stunde, sei es gewesen, „zuerst unseren Nahverkehr zu zerstören und dann der Nahrungsmittelversorgung zu schaden.“ Die Bevölkerung ließ sich von solchen Verschwörungstheorien jedoch nicht beeindrucken – die Bilder von der plündernden und brandstiftenden Polizei sowie der brutalen Gewalt gegen friedliche Proteste hatten sich längst verbreitet. Auf den Vorwurf, für Tote und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich zu sein, reagierte Chadwick mit Zurückweisung: „Ich habe keinerlei politische Verantwortung für diese Situation“, sagte er gegenüber dem Fernsehkanal Mega.
Wer die Proteste in den ersten Tagen medial verfolgen wollte, merkte schnell, dass auch das chilenische Mediensystem Teil des neoliberalen Apparats ist, gegen den die Menschen protestieren. Die großen Fernsehsender Chilevisión, Mega und Canal 13 berichteten vor allem über die gewalttätige Seite der Proteste – brennende U-Bahn-Stationen, Plünderungen und angebliche Schlangen vor den Supermärkten. Über die Großdemonstrationen im ganzen Land berichteten sie, wenn überhaupt, nur mit deutlicher Zeitverzögerung. Keine große Über­raschung, denn die Berichterstattung wird zu weiten Teilen von einigen Medienkonzernen im Besitz superreicher Familien kontrolliert – genau jener superreicher Familien, gegen die derzeit protestiert wird. Der TV-Sender Canal 13 etwa gehört zu 100 Prozent dem Milliardär Andrónico Luksic, dessen Familie mit Forst- und Kupferunternehmen sowie Bankgeschäften ihr Geld gemacht hat. Die Tageszeitung La Tercera gehört dem Unternehmer Álvaro Saieh, viertreichster Chilene, Investmentbanker und von der Chicagoer Schule beeinflusster Wirtschaftswissenschaftler („Chicago Boy“). Und an dem TV-Sender Chilevisión, heute Teil von Time Warner, war Präsident Piñera – selbst Multimilliardär – bis zu seinem ersten Amtsantritt 2010 höchstpersönlich beteiligt. Auch der staatliche Fernsehsender TVN schloss sich der tendenziösen Berichterstattung an.

         Schlachtefeld Santiago Überall in der Stadt brennende Barrikaden…

Doch auch internationale Journalist*innen konnten ihrer Berichterstattung über die Proteste nicht ungehindert nachgehen. Verschiedene Medien berichteten von Polizeigewalt, Festnahmen und Schüssen auf Medienvertreter*innen. Die New York Times veröffentlichte jüngst ein Video, in dem zu sehen ist, wie ein Soldat einem Fotografen ins Bein schießt. Das argentinische Onlinemedium ANRed berichtete von drei Journalisten, die noch am Flughafen von chilenischen Sicherheitsbehörden aufgehalten und ohne rechtliche Begründung mehrere Stunden eingesperrt worden waren. La Izquierda Diario berichtet von zwei Journalistinnen, die sich vor Polizeibeamten in Arica ausziehen mussten. Das INDH hat in diesem Fall inzwischen Klage wegen Folter eingereicht.
Organisationen wie Reporter ohne Grenzen beobachten die Entwicklung mit Sorge. Umso wichtiger waren in den letzten Wochen die sozialen Medien, über welche sich Fotos und vor allem Videos von den Demonstrationen sekundenschnell und international verbreiteten. Auch die Gewalt von Polizei und Militär wurde auf Facebook und Twitter deutlich – anders als in den meisten nationalen und internationalen Medien. Die Tagesschau berichtete in Deutschland zwar von den Protesten, übernahm aber die Bilder und den Diskurs vom Vandalismus und ließ gleichzeitig unerwähnt, dass das Militär bereits Menschen erschossen hatte – obwohl dies bereits von der chilenischen Regierung bestätigt war. Die Echtheit vieler Videos im Netz ist schwer zu verifizieren, in ihrer Gesamtheit und eingeordnet in die sonstige Berichterstattung, geben sie doch ein recht eindeutiges Bild der Geschehnisse ab. Zahlreiche Videos dokumentieren die Gewalt der Carabineros und Militärs – etwa wie ein scheinbar lebloser Körper aus einem fahrenden Polizeitransporter geworfen wird, oder wie Militärs mit vorgehaltener Waffe nackte Menschen Kniebeugen machen lassen.
Doch auch die schöne Seite des Protests wird in den sozialen Medien sichtbar: Etwa die „Marcha más grande de Chile“, Chiles größte Demonstration aller Zeiten mit sechs Millionen Protestierenden im ganzen Land. Oder die nachbarschaftlichen cacerolazos während der Ausgangsperre: überall schallt am Abend das gemeinsame Schlagen von Töpfen und Pfannen aus den Häusern und Apartments der Städte. Das Teatro Municipal beschallte das nächtliche Santiago aus Protest gegen die Ausgangsperre und die Gewalt mit „El derecho de vivir en paz“ von Victor Jara. Das Lied hat sich mittlerweile zu einer Hymne der Proteste entwickelt, Videos zeigen den ergreifenden Moment, als es auf einer Demo von hunderttausenden Menschen gesungen wird.

¡Renuncia Piñera! – Piñera, tritt zurück!

Den Ausnahmezustand hat die Regierung nach neun Tagen aufgehoben. Mittlerweile sieht sie sich gezwungen, Zugeständnisse zu machen. Piñera kündigte eine „Neue Sozialagenda“ an und ersetzte Innenminister Chadwick sowie sieben weitere Kabinettsmitglieder. Doch weder diese Maßnahme noch die angekündigte Erhöhung des Mindestlohns von 360 auf 420 Euro, die Anhebung der Mindestrente von 130 auf 160 Euro, oder die Verbilligung von Medikamenten, konnten die Proteste stoppen. Das gleiche gilt für die Senkung der Abgeordnetenbezüge und eine Steuererhöhung für Monatseinkommen über 10.000 Euro.
Die Themen und Akteure der Proteste sind vielfältig, eine*n Anführer*in gibt es nicht – doch die beiden Hauptforderungen sind klar: Der Rücktritt Piñeras und eine neue Verfassung. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CADEM von Anfang November lag der Rückhalt für Piñera bei historisch schlechten 13 Prozent.
Derweil sprachen sich 87 Prozent der Befragten für eine neue Magna Charta aus – denn in der aktuell gültigen Verfassung aus Diktaturzeiten ist das neoliberale System festgeschrieben. 30 Jahre nach Diktaturende soll den Kontinuitäten aus dieser Zeit ein Ende gesetzt werden – wirtschaftlich und politisch-personell. Denn viele Mitglieder des regierenden rechten Parteienbündnisses Chile Vamos waren zum Teil schon damals, und sind es noch heute, Pinochet-Anhänger*innen. Die Abgeordnete Camila Flores von der Partei Nationale Erneuerung (RN) bekannte öffentlich, stolz darauf zu sein, pinochetista zu sein. Von der Regierung hieß es daraufhin lediglich, dies würde die Diversität des Bündnisses widerspiegeln.

…Wasserwerfer und Tränengasschwaden
Die Oppositionsparteien haben eine Verfassungsbeschwerde gegen Piñera eingelegt und fordern seinen Rücktritt. Doch auch an die Opposition hegen viele keine großen Erwartungen, insgesamt ist das Ansehen der politischen Elite schlecht. Der gemäßigten Linken hängen, wie auch der Rechten, Korruptionsskandale der letzten Jahre nach, außerdem stellte sie seit Diktaturende fast alle Regierungen und wird daher für die aktuelle Situation ebenso verantwortlich gemacht, wie das aktuell regierende rechte Lager. Und das vor wenigen Jahren als Hoffnungsträger gestartete und mit einer großen Parlamentsfraktion ausgestattete linke Parteienbündnis Frente Amplio hat durch interne Meinungsverschiedenheiten in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile an Veränderungskraft eingebüßt. Dennoch sind es vor allem Abgeordnete des Frente Amplio und der Kommunistischen Partei, zum Teil ehemalige Anführer­*innen der Studierendenbewegung, wie Camila Vallejos und Gabriel Boric, die sich schnell mit den Protesten solidarisierten. Zumindest von der Regierung werden sie offenbar als parlamentarischer Arm der Bewegung betrachtet, den es zu bekämpfen gilt._ Eine Gruppe von Abgeordneten der rechten Regierungs­parteien hat deshalb nun gegen zwölf von ihnen Verfassungsbeschwerde eingereicht und versucht so, sie ihres Mandats zu entheben – mit der Begründung, die Abgeordneten hätten zur Unruhe und kriminellen Aktionen angestiftet.

Der verfassungs-gebende Prozess hat schon begonnen

Überall im Land nehmen die Menschen das Heft nun selber in die Hand und diskutieren in selbstorganisierten Räten die aktuellen Missstände und mögliche Wege hin zu einer neuen Verfassung. Favorisiert wird dabei der Weg über eine verfassungsgebende Versammlung. Rechtlich ist die Sache jedoch nicht so einfach. Verfassungsrechtler*innen sehen den nächsten Schritt in einem Plebiszit, der darüber entscheidet, ob eine solche verfassungsgebende Versammlung einberufen wird. Allerdings bräuchte es vorher eine Verfassungsänderung, um den Entscheid verbindlich zu machen. Abgeordnete der Opposition kündigten an, diesen Prozess in Gang setzen zu wollen. Wenn ein solches Plebiszit stattfindet und die Bevölkerung mehrheitlich für eine verfassungsgebende Versammlung votiert, muss jedoch weiterhin geklärt werden, wie diese ausgestaltet wird, um eine möglichst breite Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen.
Bis jetzt zieht Piñera weder einen Rücktritt noch eine verfassunggebende Versammlung in Betracht. Unter dem Druck der Proteste akzeptiert die Regierung zwar nun das Ziel einer neuen Verfassung, ausarbeiten sollen sie aber Parlamentarier*innen nach einer Erfassung von Beschlüssen der Bürger*innenversammlungen. Die Bevölkerung soll nur am Ende in einem Plebiszit über die Annahme entscheiden dürfen.
Die Absage des für Chile prestigeträchtigen internationalen Klimagipfels COP25 sowie des Gipfels der Asiatisch-Pazifischen Wirtschafts­gemeinschaft APEC zeigt, dass die Regierung offenbar nicht mit einem schnellen Ende der Proteste rechnet und im Gegenteil fürchtete, ihm auch noch internationale Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zu Recht, denn auch Anfang November versammelten sich wieder Hunderttausende auf den Plätzen und forderten „Renuncia Piñera“ („Tritt zurück, Piñera“) und „Asamblea Constituyente ya!“(„Verfassungsgebende Versammlung jetzt!“). Nichts macht den Anschein, als würde sich die protestierende Bevölkerung mit weniger zufrieden geben. Sollte sie es schaffen, könnten die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen der Anfang vom Ende der neoliberalen Ära in Chile gewesen sein.


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ROTE ERDE

Mitte Dezember fuhr der 13-jährige Isaías mit seinem Fahrrad die Straße von Collipulli in der südchilenischen Region La Araucanía entlang. Mit ihm unterwegs war sein Bruder, der 17-jährige Brandon. Collipulli ist Mapudungún, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie rote Erde – wenig später wurde der Name bittere Realität. Ein Stück weiter die Straße runter trafen sie auf eine Gruppe Polizist*innen, die gerade dabei war, die Insassen eines Fahrzeugs zu kontrollieren. Einer der Polizisten hielt Isaías fest, der erschreckt zu schreien begann. Sein Bruder Brandon kam dazu, aber der Polizist hielt auch ihn fest, warf ihn zu Boden und schoss ihm aus einem halben Meter Entfernung mit einer Schrotflinte Kaliber 12 in den Rücken. Normalerweise ist ein Schuss aus dieser Entfernung tödlich, wochenlang musste Brandon im Krankenhaus behandelt werden.

Der Polizist Cristian Rivera, der auf Brandon geschossen hat, ist nach wie vor im Dienst. Von seinen Kolleg*innen wird er gedeckt, bei der Polizei spricht man von einem Unfall. Brandons Mutter, Ada Huentecol, glaubt das nicht. „Ich habe eine Erklärung verlangt und sie sagten mir, es sei ein Unfall gewesen. Aber wieso haben sie denn auf ihn geschossen, wenn er schon am Boden lag? Meine Söhne sind keine Verbrecher. Ich bin wirklich wütend!“ Das Institut für Menschenrechte in Chile (INDH) erstattete im Januar Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

Die Liste der gewaltsamen „Zwischenfälle“ in jüngster Zeit ist lang. Die Territorien der indigenen Mapuche, die ihre Autonomie südlich des Bío-Bío-Flusses über die gesamte Kolonialzeit bewahren konnten, wurden erst in der sogenannten „Pacificación de La Araucanía“ 1861 von Chile besetzt. Damals verteilte der Staat das Land an weiße Siedler*innen. Viele Mapuche verlangen, dass der chilenische Staat ihrem Volk gegenüber seine historische Schuld begleicht. Von den verschiedenen Regierungen Chiles fühlten sie sich immer wieder hintergangen. Bei den vielen lokalen Konflikten geht es meist um die Rückgabe oder Schutz von indigenem Territorium, das sich heute in Privatbesitz befindet und für die Energie-, Forst- und Agrarwirtschaft genutzt wird oder genutzt werden soll. Neben Demonstrationen und Protesten versuchen die Mapuche ihren Forderungen auch mit Landbesetzungen und Brandanschlägen auf Fahrzeuge und Maschinen der Unternehmen Nachdruck zu verleihen. Die Regierungen reagierten darauf mit Repression, sodass sich der Konflikt zusehends verschärfte.

Das Institut für Menschenrechte erstattete Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

In jüngster Zeit häufen sich wieder die Zwischenfälle: In Ercilla stürmten Ende Januar über hundert Polizist*innen mit gepanzerten Fahrzeugen, die Tränengas versprühten, eine Mapuche-Gemeinde während einer kulturellen Feier. Für die Aktion gab es keinen richterlichen Beschluss. Die Polizist*innen schossen auf die Anwesenden und nahmen elf Personen fest, darunter fünf Minderjährige und zwei Neugeborene, wie ein anwesender Reporter von werken.cl berichtete.

In Freire, südlich der Stadt Temuco, nahmen Sicherheitskräfte Mitte Januar bei einer weiteren Personenkontrolle drei Mapuche-Frauen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest, eine von ihnen war minderjährig. Die Anwältin der Frauen, Manuela Royo, erklärte gegenüber Radio Villa Francia, Polizist*innen hätten die drei geschlagen, beleidigt und ihre Waffen auf sie gerichtet, auch nach der Festnahme, im Inneren des Polizeiautos: „Die Situation dort war extrem gewalttätig, die Polizisten wollten insbesondere der Jüngsten Angst einjagen. Auch die Informationen über ihren Aufenthaltsort wurden über mehrere Stunden zurückgehalten. Die Frauen wurden mittags festgenommen und tauchten erst wieder gegen 18 Uhr auf der Polizeistelle in Temuco auf. Die Polizei hat sie geschlagen und einer der Frauen den Arm umgedreht, das verstehen wir ganz klar als Folter.“

In Tirúa, etwa 150 Kilometer westlich von Collipulli in der Region Bío Bío schossen Polizisten Ende Dezember auf ein Fahrzeug mit einer Gruppe unbewaffneter Mapuche. Zwei der Insassen wurden von den Kugeln getroffen und schwer verletzt. Nach Angaben von Radio Villa Francia behauptet die Polizei, das Auto hätte trotz Aufforderung der Beamt*innen nicht gehalten, woraufhin diese das Feuer eröffnet hätten. Isaac Neculqueo, Präsident der indigenen Gemeinschaft, versicherte jedoch das Gegenteil: „So eine Polizeikontrolle hat niemals stattgefunden, die Polizisten haben aus dem fahrenden Auto geschossen und sind dann abgehauen.”

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Durch die hohe Polizeipräsenz und die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer. Laut einem Polizeibericht des vergangenen Jahres sind allein in der Region La Araucanía knapp 1400 Polizist*innen stationiert und 50 gepanzerte sowie über 90 halbgepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Neben den ständigen Personenkontrollen werden auch geheimdienstliche Aktionen durchgeführt und raumbezogene Datenverarbeitungssysteme wie Radaranlagen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter eingesetzt. Mit dem Schutz der Bevölkerung hat das erhöhte Polizeiaufgebot jedoch nichts zu tun. Es dient in erster Linie dem Schutz von Unternehmen. Im Süden Chile existieren 77 große Forstindustrieanlagen in drei Regionen: 47 in Los Ríos, sieben in La Araucanía und 23 in Bío Bío. 15 stehen unter dauerhaftem Polizeischutz. Neun davon gehören zu Forestal Mininco. Das Unternehmen ist Teil der Matte-Gruppe. Matte ist eine der einflussreichsten Familien Chiles. Der Konzern steht unter  dem Verdacht der Korruption und Preisabsprache und gilt als wichtiger Akteur, der maßgeblich den Konflikt mit den Mapuche polarisiert.

Durch die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer.

Auch juristisch geht der chilenische Staat gegen die Indigenen des Landes vor. Ein emblematischer Fall ist der der Machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität) Francisca Linconao, die sich neun Monate in Untersuchungshaft befand. Ihr wird vorgeworfen, an einem Brandanschlag auf das Anwesen der Familie Luchsinger im Januar 2013 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger-Mackay und seine Frau Vivianne Mackay ums Leben kamen. Das Ehepaar befand sich seit Jahren in direkter Konfrontation mit den indigenen Gemeinden der Zone, Francisca Linconao war daran jedoch nicht beteiligt. Sie streitet ab, etwas mit den Geschehnissen zu tun zu haben und die Beweislage gibt ihr recht. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorbrachte, waren nicht nur nicht ausreichend, sondern stützten sich auch auf falsche und unter Folter erbrachte Zeugenaussagen. Im Umfeld der Machi glaubt man, dass man sie mit dem Fall in Verbindung bringen will, um Rache dafür zu nehmen, dass sie sich seit Jahren unermüdlich für die Rückgabe ehemalig indigenen Territoriums an die Mapuche-Gemeinden einsetzt. Und sie ist kein Einzelfall: 2014 wurde bereits der Machi Celestino Córdova im Fall Luchsinger-Mackay nach einseitigen Ermittlungen und einer zweifelhaften Beweislage wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Dass auch die Machi Francisca Linconao trotz mangelnder Beweise einem so langen Freiheitsentzug ausgesetzt wurde, liegt am chilenischen Anti-Terror-Gesetz aus Diktaturzeiten. Es räumt der Staatsanwaltschaft umfangreiche Möglichkeiten bezüglich Ermittlung und Anklage ein, wenn es sich um des Terrorismus Verdächtige handelt. „In der Region Araucanía herrscht ein anderes Recht. Eines, das auf Mapuche und ihre Anführer*innen angewendet wird und demzufolge die Staatsanwaltschaft keine Beweise für begangene Verbrechen vorlegen muss, um Angeklagte einsperren zu lassen. Es reicht, sie anzuklagen. Der Angeklagte und seine Verteidigung müssen dann die Unschuld des Angeklagten beweisen. “Verkehrte Welt“, schrieb der unabhängige Abgeordnete und Mitglied der Menschenrechtskommission Gabriel Boric in einem offenen Brief.

Bereits vor drei Jahren verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof (CIDH) den chilenischen Staat für begangene Menschenrechtsverletzungen am Volk der Mapuche. Die chilenischen Gerichte hätten das Legalitätsprinzip und das Recht auf Unschuldsvermutung in mindestens acht Fällen verletzt, so der Gerichtshof in San José, Costa Rica. Dennoch erlebt die Machi Francisca Linconao heute wieder genau das. Zwar konnte sie mit einem 14-tägigen Hungerstreik kürzlich bewirken, dass die vorbeugende Haft in einen Hausarrest umgewandelt wurde, aber der eigentliche Prozess steht noch aus. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes scheint keinerlei Effekt gehabt zu haben.


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