Für Beatriz und für alle

„Beatriz wollte leben und glücklich sein“ Die junge Frau ist zum Symbol des Kampfes für legale Abtreibungen geworden – hier auf einer Demo am 8. März (Foto: Kellys Portillo)

Beatriz’ Recht auf eine Wahl wurde nie respektiert. Es dauerte 84 Tage, bis sie einen Kaiserschnitt bekam, als sie gerade in den Wehen lag. Dem Kind im Mutterleib fehlten aufgrund eines Geburtsfehlers Schädel und Gehirn, wodurch es außerhalb des Mutterleibes nicht überlebensfähig war. Zudem hatte die Schwangerschaft das Leben und die Gesundheit von Beatriz gefährdet, da sie an (der seltenen Autoimmunkrankheit, Anm. d. Übers.) Lupus litt. Jede Schwangerschaft bei einer Erkrankung mit Lupus ist laut medizinischer Fachliteratur mit erhöhten Risiken verbunden.

Beatriz’ Tochter wurde dennoch geboren und überlebte fünf Stunden. Laut der medizinischen Akte fehlten Schädeldecke und Hirngewebe vollständig. Die Akte ist einer der Beweise, die verschiedene Organisationen nun vorgelegten, um den salvadorianischen Staat vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verklagen. Die Begründung: „Weil sie im Jahr 2013 keinen Zugang zu einem legalen, frühzeitigen und rechtzeitigen Schwangerschaftsabbruch hatte. Das gefährdete ihr Leben und beeinträchtigte ihre Unversehrtheit, Gesundheit und andere Rechte“.

Die Tatsache, dass Beatriz dazu gezwungen wurde, die Schwangerschaft 84 Tage lang fortzusetzen, wird von den Kläger*innen als Form der Folter angesehen. „Das absolute Abtreibungsverbot ist eine Form der Folter. Weil Beatriz so viel Leid zugefügt wurde; weil sie wusste, dass ihr Leben und ihre Gesundheit in Gefahr waren, wenn sie nicht abtreiben würde. Und hier müssen wir (…) auch die Tatsache berücksichtigen, dass sie bereits ein anderthalbjähriges Kind hatte. Im Falle von Beatriz‘ Tod würde dieses die Mutter verlieren“, erklärte Gisela de León, Menschenrechtsaktivistin und Anwältin einer der klagenden Organisationen.

2017 entschied auch der damalige UN-Sonderberichterstatter über Folter, Juan E. Méndez, dass „das absolute Abtreibungsverbot gegen das Verbot der grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und in bestimmten Fällen sogar gegen das Verbot der Folter verstößt“. Nun lud der Präsident des Interamerikanischen Gerichtshofs, Ricardo Pérez Manrique, den salvadorianischen Staat und Vertreter*innen der Klägerseite für den 22. und 23. März in Costa Rica vor. Es ist das erste Mal, dass der Corte IDH einen Fall gegen einen Staat verhandelt, der Abtreibungen selbst dann verbietet, wenn das Leben der Mutter in Gefahr oder das Ungeborene nicht überlebensfähig ist. Die Entscheidung wird somit in Bezug auf Abtreibungen einen Präzedenzfall für den gesamten amerikanischen Kontinent schaffen. Beatriz wurden im Alter von 20 Jahren systemischer Lupus erythematodes, Lupus-Nephritis und rheumatoide Arthritis diagnostiziert. Ein Jahr später, im Juli 2011, wurde sie zum ersten Mal schwanger. Sie lebte mit ihrem Partner in Usulután (im Südosten El Salvadors, Anm. d. Red.) in extremer Armut.

Schon ihre erste Schwangerschaft galt als Hochrisikoschwangerschaft. Sie wurde zweimal wegen Blutarmut und Atemnot ins Krankenhaus eingeliefert. Im März 2012 kam ihr Sohn per Kaiserschnitt zur Welt. Er war ein Frühchen, litt an einem Atemnotsyndrom und Entzündungen im Darm und musste 38 Tage im Krankenhaus bleiben.

Eine juristische Odyssee

Ein knappes Jahr später, im Februar 2013, wurde Beatriz zum zweiten Mal schwanger. Wieder eine Hochrisikoschwangerschaft. Die junge Frau war bereits in der 11. Schwangerschaftswoche, als ihr bei einer ärztlichen Untersuchung mitgeteilt wurde, dass der Fötus an Anenzephalie litt, also außerhalb des Mutterleibes nicht überlebensfähig sein würde. Man werde ihren Fall dem Ärzteausschuss vorlegen, „um einen Konsens über den Zeitpunkt des Abbruchs zum Wohle der Mutter zu erreichen“.

Zwei Ultraschalluntersuchungen bestätigten die Diagnose der angeborenen Fehlbildung, die zusammen mit Beatriz’ Erkrankungen die Schwangerschaft verkomplizieren würde. Am 14. März erklärten die Ärzte, dass der Fötus keine Überlebenschance habe. Daher entschied sich Beatriz mit Unterstützung ihrer Familie für einen Schwangerschaftsabbruch. Nach der Antragstellung erhielt sie jedoch die Auskunft, dass dies in El Salvador nicht legal sei, da die Abtreibung seit 1998 vollständig verboten ist. Selbst dann, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist, das Ungeborene außerhalb der Gebärmutter nicht lebensfähig ist und die Schwangerschaft die Folge sexueller Gewalt ist. Dies war der Beginn einer juristischen Odyssee. Am 14. März kam das medizinische Komitee des Nationalkrankenhauses Rosales in der Hauptstadt San Salvador zu dem Entschluss, dass ein längeres Warten auf die Abtreibung die Wahrscheinlichkeit eines vermeidbaren Todes der Mutter erhöhen würde. Sechs Tage später forderte der Ausschuss eine Stellungnahme der Rechtsabteilung des Krankenhauses und der Generalstaatsanwaltschaft und meldete den Fall dem Gesundheitsministerium. Die Leiterin des Rechtsabteilung des Krankenhauses informierte auch den Koordinator des Jugendschutzausschusses über die Situation. Dieser antwortete jedoch in seinem Bericht, er sei nicht zuständig und die Staatsanwaltschaft solle einen Anwalt benennen, der die Interessen des Fötus vertrete.

Als Aktivist*innen und feministische Organisationen von dem Fall erfuhren, kontaktierten sie Beatriz und begannen, sie rechtlich zu vertreten. Marcia Aguiluz, die 2013 Teil des Rechtsteams einer der Organisationen war und heute in der Rechtsabteilung von Women’s Link Worldwide arbeitet, erinnert sich an die Suche nach einer legalen Alternative, um Beatriz’ Leben zu retten. So legten sie am 11. April 2013 eine Verfassungsbeschwerde vor dem Obersten Gerichtshof ein. Als die Richter der Kammer jedoch anfingen, ihre Entscheidung hinauszuzögern, begannen die Organisationen nach rechtlichen Möglichkeiten auf internationaler Ebene zu suchen.

„Was ich will, ist leben“

Als Beatriz am 18. April zu einer psychologischen Untersuchung ins Krankenhaus eingeliefert wurde, beantragten die klagenden Parteien Maßnahmen beim Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte, um eine angemessene medizinische Versorgung für Beatriz sicherzustellen, die ihre Menschenrechte respektiert. Dem psychologischen Gutachten zufolge hatte die junge Frau in den Monaten zuvor Suizidgedanken gehabt. Die Krankenhauspsychologin wies auch darauf hin, dass ihr emotionaler Zustand durch die Distanz zum Sohn beeinträchtigt wurde und sie wegen der Anomalien des Fötus sehr besorgt war. In verschiedenen Interviews mit salvadorianischen und internationalen Medien bekräftigte Beatriz ihre Entscheidung, die Schwangerschaft abzubrechen; ihre Angst vor dem Tod und das Bedürfnis, mit ihrem Sohn zusammen zu sein: „Was ich will, ist leben. Ich möchte bei meinem Kind sein, bei meiner Familie.“

Kein Vergessen Blumen- und Plakatniederlegung am Denkmal für Beatriz in der salvadorianischen Hauptstadt San Salvador (Foto: Kelly Portillo)

Doch mit der Entscheidung veränderte sich das Leben von Beatriz und ihrer Familie. Personen aus verschiedenen Bereichen der salvadorianischen Gesellschaft und auf internationaler Ebene diskutierten öffentlich darüber. Die konservativsten Gruppen drängten sie dazu, ihre Schwangerschaft fortzuführen und schickten ihr Babyausstattung. Eine Vertreterin einer dieser Gruppe schickte ihr einen Hut für das Kind, das später ohne Gehirn geboren werden würde. Für die Familie von Beatriz und die Mitkläger*innen waren solche Aktionen eine Beleidigung. Humberto, einer der Brüder von Beatriz, erinnert sich, dass er und seine Familie Angst um das Leben seiner Schwester hatten. Sie wollten, dass Beatriz‘ Recht auf Selbstbestimmung respektiert wird.

Obwohl die Kammer die Verfassungsbeschwerde zunächst zuließ und eine Vorsichtsmaßnahme erließ, um das Leben und die körperliche und geistige Gesundheit von Beatriz zu garantieren, wies sie die Beschwerde im Mai zurück. Die Begründung lautete, es läge seitens der angeklagten Behörden kein fahrlässiges Verhalten vor. Am 3. Juni 2013 setzten bei Beatriz die Wehen ein. Ihre Tochter kam per Kaiserschnitt zur Welt und starb schon fünf Stunden später. Für Víctor Mata, der Teil des Anwält*innenteams, das Beatriz vertrat und jetzt Zeuge in dem internationalen Gerichtsverfahren ist, hat die Entscheidung der Richter*innen „das Recht von Beatriz auf Integrität verletzt und ihr Leben aufs Spiel gesetzt“.

In einem Sachbericht behauptete der salvadorianische Staat, dass Beatriz Zugang zu Justizmechanismen im Land hatte, als sie die Verfassungsbeschwerde einreichte. Der Staat bestätigte, dass die Entscheidungen der Gerichte auf der geltenden Gesetzgebung beruhten und dass sich Beatriz in einer stabilen Situation befunden habe. Er wies auch darauf hin, dass die Verfassung keine Hierarchie zwischen dem Leben der Mutter und dem Fötus festlegt, weshalb beide das gleiche Schutzniveau genießen.

Laut dem Interamerikanischen Gerichtshof ist der Schutz des Lebens ab der Empfängnis zwar ein legitimes Ziel, aber die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bei Unvereinbarkeit des Fötus mit dem Leben genüge den Anforderungen der Eignung nicht. Die Nicht-Überlebensfähigkeit des Fötus bricht die Beziehung zwischen Kriminalisierung und verfolgtem Zweck, da das Leben des Fötus zwangsläufig nicht gewährt werden könne. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass der fehlende Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen das Recht auf Leben, Gesundheit, persönliche Unversehrtheit und Privatleben von Beatriz ernsthaft beeinträchtigte und in diesem Fall die höchste Schwere erreichte. Laut dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte sind „Einschränkungen des Zugangs zu sicheren Abtreibungen das Ergebnis sozialer Einstellungen, die Frauen stigmatisieren und ihre Körper zu Instrumenten politischer, kultureller, religiöser und wirtschaftlicher Ziele anderer machen. Die Kriminalisierung der Abtreibung verfestigt die Stigmatisierung und Diskriminierung weiter und verletzt die Würde und körperliche Unversehrtheit der Frau.“

Für Gabriela Paz, Sozialanthropologin und feministische Aktivistin, ist der Fall von Beatriz ein disruptives Beispiel für den Widerspruch der Norm: Obwohl Beatriz die Lebenserfahrung hatte, um die Mutterschaft auszuüben, und in einer heterosexuellen und monogamen Beziehung lebte, wurde sie zu einer Person, die sich der Norm widersetzte, da sie den Wunsch äußerte, ihre Schwangerschaft zu beenden. Paz betont, wie wichtig es ist, anzuerkennen, dass das Leben von Menschen ein grundlegender Wert ist, die Norm daher überprüft und an die Realitäten und Bedürfnisse der Menschen angepasst werden muss.

Am 8. Oktober 2017 verstarb Beatriz an gesundheitlichen Komplikationen, verschlimmert durch einen Verkehrsunfall. Sie hatte Atemprobleme und erlitt zwei Herzstillstände. Ihre Familie und die klagenden Organisationen fordern, dass der Interamerikanische Gerichtshof den salvadorianischen Staat nach der Anhörung am 22. und 23. März verurteilt und umfassende Wiedergutmachungen für ihre Familie, sowie weitere Maßnahmen, festlegt. Dies solle verhindern, dass andere Frauen und Mädchen das Gleiche wie Beatriz erleiden müssen. Darüber hinaus fordern sie die Abschaffung des absoluten Verbotes von Schwangerschaftsabbrüchen. „Das Recht von Beatriz, selbst zu entscheiden, wurde vom Staat verletzt. Er ließ sie im Stich. Unsere Motivation für die internationale Klage ist, dass andere Frauen nicht das Gleiche durchmachen wie meine Tochter“, erklärt Delmi, die Mutter von Beatriz. Der Interamerikanische Gerichtshof wird sein Urteil im letzten Quartal 2023 bekannt geben.

Es ist bereits das zweite Mal, dass El Salvador im Zusammenhang mit den sexuellen und reproduktiven Rechten von Frauen vor den Interamerikanischen Gerichtshof gebracht wird: Am 2. November 2021 wurde El Salvador im sogenannten Fall Manuela verurteilt. Manuela wurde wegen eines geburtshiflichen Notfalls zuhause behan-delt, wobei das Kind verstarb. Manuela wurde wegen schweren Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Zu den vom Gericht angeordneten Maßnahmen gehört eine Neuregelung der ärztlichen Schweigepflicht, seiner Ausnahmen sowie die Anpassung der medizinischen Leitfäden und Dokumentation für die Behandlung geburtshilflicher Notfälle.

ENTFÜHRER*INNEN IN POLIZEIWESTEN

Gegen Gewaltsames Verschwindenlassen Protest auf der Straße zwischen Tela y La Ceiba (Foto: Deiby Yánes)

Es war an einem Samstagmorgen um fünf Uhr und es herrschte wegen der Corona-Pandemie Ausgangsperre, als drei Fahrzeuge ohne Nummernschilder mit Schwerbewaffneten in die Garífuna-Gemeinde Triunfo de la Cruz im Norden von Honduras einfuhren. Die Bewaffneten waren maskiert und trugen Westen der Ermittlungspolizei (DPI). Sie steuerten gezielt die Häuser von Snider Centeno, Suami Mejía, Milton Martínez, Gerardo Róchez und Junior Juarez an, holten sie zum Teil aus ihren Betten und nahmen sie ohne weitere Erklärung mit. Das geschah am 18. Juli 2020. Seither fehlt von den fünf Entführten jede Spur. Drei der jungen Männer setzten sich aktiv für die Landrechte der Garífuna ein, Snider Centeno ist zudem der Gemeinderatsvorsitzende von Triunfo de la Cruz. Die Organisation Fraternal Negra de Honduras (OFRANEH), die sich seit mehr als 40 Jahren für die Rechte der Garífuna einsetzt, spricht von einem Fall gewaltsamen Verschwindenlassens, ebenso wie das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte.

Seit dem 18. Juli fehlt von den Entführten jede Spur

„Sie wurden an einem Tag aus ihren Häusern entführt, an dem eigentlich niemand auf der Straße unterwegs sein sollte. Nur die Vertreter der Staatsgewalt, die Polizei und das Militär dürfen sich an einem frühen Samstagmorgen auf der Straße bewegen“, erläutert die Koordinatorin von OFRANEH, Miriam Miranda. Es ist daher unwahrscheinlich, dass die drei Fahrzeuge mit Bewaffneten unbeobachtet von Polizei oder Militär nach Triunfo de la Cruz gelangen konnten. Das legt nahe, dass es auf staatlicher Seite entweder Mitwissende oder selbst an der Entführung Beteiligte gibt. Doch die Ermittlungsbehörden hüllen sich in Schweigen.

Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat den honduranischen Staat am 6. August aufgefordert, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um den Aufenthaltsort der Entführten zu ermitteln. Am 25. August hat der Staat, wie vom Gerichtshof gefordert, einen Bericht über die bisher ergriffenen Maßnahmen vorgelegt. Allerdings ist der Bericht nach Einschätzung von Miriam Miranda absolut unzureichend: „Der Bericht sagt fast nichts. Er enthält nur Sitzungsprotokolle, aber nichts Substanzielles, was Fortschritte in den Ermittlungen zeigen würde. Wir als OFRANEH weisen diesen Bericht zurück, weil er nicht dem entspricht, was der Gerichtshof vom honduranischen Staat verlangt hat.“ OFRANEH schätzt es außerdem als problematisch ein, dass mit der DPI dieselbe Polizeibehörde in die Ermittlungen einbezogen ist, die auch am Verschwinden der fünf Männer beteiligt sein könnte. Hier würde ein Interessenskonflikt bestehen.

Über das Verschwindenlassen wird kaum berichtet

Nicht nur der honduranische Staat und die Ermittlungsbehörden schweigen, auch in den meisten Medien wird kaum über das Verschwindenlassen berichtet. Stattdessen kursieren Falschmeldungen und Diffamierungen in sozialen Medien, die die Verschwundenen mit dem Drogenhandel in Verbindung bringen – eine altbekannte Strategie, um politische Aktivist*innen zu diskreditieren. Beispielsweise passierte dies gegen den OFRANEH-Aktivisten Alfredo López aus Triunfo de la Cruz, der unter dem falschen Vorwurf des Drogenbesitzes sieben Jahre im Gefängnis verbrachte, bis der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte den honduranischen Staat dazu verurteilte, López freizulassen.

Im Fall von Snider Centeno könnte es eher so sein, dass er den Aktivitäten von kriminellen Drogenbanden in die Quere kam. Denn die geschäftlichen Aktivitäten der sogenannten narcos in Honduras sind vielfältig und beschränken sich nicht allein auf den Drogenhandel. Wie OFRANEH berichtet, hatte Centeno gemeinsam mit einer Gruppe junger Leute aus Triunfo de la Cruz versucht zu verhindern, dass Mangroven für die Anpflanzung von Ölpalmen abgebrannt werden. Illegale Ölpalmenplantagen in Naturschutzgebieten gehören zum Geschäftsportfolio von narcos. Nachdem sich die Bewohner*innen Triunfos im Sommer vergangenen Jahres der Umweltzerstörung in den Weg stellten, erhielt Centeno mehrfach Drohungen, weshalb er sich im November an den Schutzmechanismus für Menschenrechtsverteidiger*innen gewandt hatte.

Doch die Aktivitäten von Centeno und anderen Landrechtsaktivist*innen aus Triunfo de la Cruz mögen nicht nur kriminellen Drogenbanden ein Dorn im Auge gewesen sein. Es geht auch um ihren andauernden Einsatz für die kollektiven Landrechte der Garífuna und die Umsetzung eines Urteils des Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte aus dem Jahr 2015. Dieses besagt, dass der honduranische Staat dafür zu sorgen hat, dass die Gemeinde ihren kollektiven Landbesitz an angestammten Territorien zurückerhält. Innerhalb der Gemeinde gibt es nach wie vor Grundstücke, die sich – widerrechtlich – im Besitz mächtiger Oligarch*innen befinden. Ähnlich ist die Situation in der kleineren Garífuna-Gemeinde Punta Piedra, für die der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ebenfalls die Rückgabe von Grundstücken an die Gemeinde angeordnet hat. Doch in beiden Fällen tut der honduranische Staat nichts, um den Garífuna-Gemeinden ihre Territorien zurückzugeben. Denn dazu müsste er besagte Oligarch*innen enteignen und möglicherweise entschädigen. Dass sich der Staat über das Urteil eines internationalen Gerichtshofs hinwegsetzt, kann als Freibrief verstanden werden, die Garífuna weiter von ihren angestammten Territorien zu vertreiben.

„Der Staat leugnet, dass er mit seiner Weigerung, die Verantwortung zu übernehmen und seinem fehlenden politischen Willen, die Urteile umzusetzen, die Voraussetzungen für die jetzigen Taten geschaffen hat. In diesem Moment, inmitten der Pandemie, haben Verfolgung, Repression und Gewalt gegen die Garífuna-Gemeinden zugenommen. Es ist eine Auseinandersetzung darüber, wer die Territorien der Garífuna kontrolliert“, meint Miranda. Viele der 46 Gemeinden an der Nordküste des Landes haben in den vergangenen Jahren eine Zunahme der Gewalt erlebt; allein im Jahr 2019 wurden 17 Garífuna ermordet. Erst im Juni dieses Jahres war in Punta Piedra der 71-jährige Antonio Bernardez verschwunden und nach einigen Tagen ermordet aufgefunden worden.

ROTE ERDE

Mitte Dezember fuhr der 13-jährige Isaías mit seinem Fahrrad die Straße von Collipulli in der südchilenischen Region La Araucanía entlang. Mit ihm unterwegs war sein Bruder, der 17-jährige Brandon. Collipulli ist Mapudungún, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie rote Erde – wenig später wurde der Name bittere Realität. Ein Stück weiter die Straße runter trafen sie auf eine Gruppe Polizist*innen, die gerade dabei war, die Insassen eines Fahrzeugs zu kontrollieren. Einer der Polizisten hielt Isaías fest, der erschreckt zu schreien begann. Sein Bruder Brandon kam dazu, aber der Polizist hielt auch ihn fest, warf ihn zu Boden und schoss ihm aus einem halben Meter Entfernung mit einer Schrotflinte Kaliber 12 in den Rücken. Normalerweise ist ein Schuss aus dieser Entfernung tödlich, wochenlang musste Brandon im Krankenhaus behandelt werden.

Der Polizist Cristian Rivera, der auf Brandon geschossen hat, ist nach wie vor im Dienst. Von seinen Kolleg*innen wird er gedeckt, bei der Polizei spricht man von einem Unfall. Brandons Mutter, Ada Huentecol, glaubt das nicht. „Ich habe eine Erklärung verlangt und sie sagten mir, es sei ein Unfall gewesen. Aber wieso haben sie denn auf ihn geschossen, wenn er schon am Boden lag? Meine Söhne sind keine Verbrecher. Ich bin wirklich wütend!“ Das Institut für Menschenrechte in Chile (INDH) erstattete im Januar Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

Die Liste der gewaltsamen „Zwischenfälle“ in jüngster Zeit ist lang. Die Territorien der indigenen Mapuche, die ihre Autonomie südlich des Bío-Bío-Flusses über die gesamte Kolonialzeit bewahren konnten, wurden erst in der sogenannten „Pacificación de La Araucanía“ 1861 von Chile besetzt. Damals verteilte der Staat das Land an weiße Siedler*innen. Viele Mapuche verlangen, dass der chilenische Staat ihrem Volk gegenüber seine historische Schuld begleicht. Von den verschiedenen Regierungen Chiles fühlten sie sich immer wieder hintergangen. Bei den vielen lokalen Konflikten geht es meist um die Rückgabe oder Schutz von indigenem Territorium, das sich heute in Privatbesitz befindet und für die Energie-, Forst- und Agrarwirtschaft genutzt wird oder genutzt werden soll. Neben Demonstrationen und Protesten versuchen die Mapuche ihren Forderungen auch mit Landbesetzungen und Brandanschlägen auf Fahrzeuge und Maschinen der Unternehmen Nachdruck zu verleihen. Die Regierungen reagierten darauf mit Repression, sodass sich der Konflikt zusehends verschärfte.

Das Institut für Menschenrechte erstattete Anzeige wegen versuchten Mordes gegen die Polizei.

In jüngster Zeit häufen sich wieder die Zwischenfälle: In Ercilla stürmten Ende Januar über hundert Polizist*innen mit gepanzerten Fahrzeugen, die Tränengas versprühten, eine Mapuche-Gemeinde während einer kulturellen Feier. Für die Aktion gab es keinen richterlichen Beschluss. Die Polizist*innen schossen auf die Anwesenden und nahmen elf Personen fest, darunter fünf Minderjährige und zwei Neugeborene, wie ein anwesender Reporter von werken.cl berichtete.

In Freire, südlich der Stadt Temuco, nahmen Sicherheitskräfte Mitte Januar bei einer weiteren Personenkontrolle drei Mapuche-Frauen wegen Störung der öffentlichen Ordnung fest, eine von ihnen war minderjährig. Die Anwältin der Frauen, Manuela Royo, erklärte gegenüber Radio Villa Francia, Polizist*innen hätten die drei geschlagen, beleidigt und ihre Waffen auf sie gerichtet, auch nach der Festnahme, im Inneren des Polizeiautos: „Die Situation dort war extrem gewalttätig, die Polizisten wollten insbesondere der Jüngsten Angst einjagen. Auch die Informationen über ihren Aufenthaltsort wurden über mehrere Stunden zurückgehalten. Die Frauen wurden mittags festgenommen und tauchten erst wieder gegen 18 Uhr auf der Polizeistelle in Temuco auf. Die Polizei hat sie geschlagen und einer der Frauen den Arm umgedreht, das verstehen wir ganz klar als Folter.“

In Tirúa, etwa 150 Kilometer westlich von Collipulli in der Region Bío Bío schossen Polizisten Ende Dezember auf ein Fahrzeug mit einer Gruppe unbewaffneter Mapuche. Zwei der Insassen wurden von den Kugeln getroffen und schwer verletzt. Nach Angaben von Radio Villa Francia behauptet die Polizei, das Auto hätte trotz Aufforderung der Beamt*innen nicht gehalten, woraufhin diese das Feuer eröffnet hätten. Isaac Neculqueo, Präsident der indigenen Gemeinschaft, versicherte jedoch das Gegenteil: „So eine Polizeikontrolle hat niemals stattgefunden, die Polizisten haben aus dem fahrenden Auto geschossen und sind dann abgehauen.”

Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Durch die hohe Polizeipräsenz und die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer. Laut einem Polizeibericht des vergangenen Jahres sind allein in der Region La Araucanía knapp 1400 Polizist*innen stationiert und 50 gepanzerte sowie über 90 halbgepanzerte Fahrzeuge im Einsatz. Neben den ständigen Personenkontrollen werden auch geheimdienstliche Aktionen durchgeführt und raumbezogene Datenverarbeitungssysteme wie Radaranlagen, Drohnen, Flugzeuge und Helikopter eingesetzt. Mit dem Schutz der Bevölkerung hat das erhöhte Polizeiaufgebot jedoch nichts zu tun. Es dient in erster Linie dem Schutz von Unternehmen. Im Süden Chile existieren 77 große Forstindustrieanlagen in drei Regionen: 47 in Los Ríos, sieben in La Araucanía und 23 in Bío Bío. 15 stehen unter dauerhaftem Polizeischutz. Neun davon gehören zu Forestal Mininco. Das Unternehmen ist Teil der Matte-Gruppe. Matte ist eine der einflussreichsten Familien Chiles. Der Konzern steht unter  dem Verdacht der Korruption und Preisabsprache und gilt als wichtiger Akteur, der maßgeblich den Konflikt mit den Mapuche polarisiert.

Durch die zunehmende Militarisierung der Region wird der Konflikt immer schärfer.

Auch juristisch geht der chilenische Staat gegen die Indigenen des Landes vor. Ein emblematischer Fall ist der der Machi (Heilerin und religiös-spirituelle Autorität) Francisca Linconao, die sich neun Monate in Untersuchungshaft befand. Ihr wird vorgeworfen, an einem Brandanschlag auf das Anwesen der Familie Luchsinger im Januar 2013 beteiligt gewesen zu sein, bei dem die Großgrundbesitzer*innen Werner Luchsinger-Mackay und seine Frau Vivianne Mackay ums Leben kamen. Das Ehepaar befand sich seit Jahren in direkter Konfrontation mit den indigenen Gemeinden der Zone, Francisca Linconao war daran jedoch nicht beteiligt. Sie streitet ab, etwas mit den Geschehnissen zu tun zu haben und die Beweislage gibt ihr recht. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft vorbrachte, waren nicht nur nicht ausreichend, sondern stützten sich auch auf falsche und unter Folter erbrachte Zeugenaussagen. Im Umfeld der Machi glaubt man, dass man sie mit dem Fall in Verbindung bringen will, um Rache dafür zu nehmen, dass sie sich seit Jahren unermüdlich für die Rückgabe ehemalig indigenen Territoriums an die Mapuche-Gemeinden einsetzt. Und sie ist kein Einzelfall: 2014 wurde bereits der Machi Celestino Córdova im Fall Luchsinger-Mackay nach einseitigen Ermittlungen und einer zweifelhaften Beweislage wegen Brandstiftung mit Todesfolge zu 18 Jahren Haft verurteilt.

Dass auch die Machi Francisca Linconao trotz mangelnder Beweise einem so langen Freiheitsentzug ausgesetzt wurde, liegt am chilenischen Anti-Terror-Gesetz aus Diktaturzeiten. Es räumt der Staatsanwaltschaft umfangreiche Möglichkeiten bezüglich Ermittlung und Anklage ein, wenn es sich um des Terrorismus Verdächtige handelt. „In der Region Araucanía herrscht ein anderes Recht. Eines, das auf Mapuche und ihre Anführer*innen angewendet wird und demzufolge die Staatsanwaltschaft keine Beweise für begangene Verbrechen vorlegen muss, um Angeklagte einsperren zu lassen. Es reicht, sie anzuklagen. Der Angeklagte und seine Verteidigung müssen dann die Unschuld des Angeklagten beweisen. “Verkehrte Welt“, schrieb der unabhängige Abgeordnete und Mitglied der Menschenrechtskommission Gabriel Boric in einem offenen Brief.

Bereits vor drei Jahren verurteilte der Interamerikanische Gerichtshof (CIDH) den chilenischen Staat für begangene Menschenrechtsverletzungen am Volk der Mapuche. Die chilenischen Gerichte hätten das Legalitätsprinzip und das Recht auf Unschuldsvermutung in mindestens acht Fällen verletzt, so der Gerichtshof in San José, Costa Rica. Dennoch erlebt die Machi Francisca Linconao heute wieder genau das. Zwar konnte sie mit einem 14-tägigen Hungerstreik kürzlich bewirken, dass die vorbeugende Haft in einen Hausarrest umgewandelt wurde, aber der eigentliche Prozess steht noch aus. Das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofes scheint keinerlei Effekt gehabt zu haben.

“DAS URTEIL IST VÖLLIG HALTLOS!”

Am 11. Juli 2016 hat ein paraguayisches Gericht elf Kleinbauern zu Strafen von bis zu 30 Jahren Haft – 40 Jahre mit Sicherheitsverwahrung – für das Massaker von Curuguaty verurteilt. Das Gericht befand die Aktivist*innen schuldig, mehrere Verbrechen begangen zu haben, unter anderem Mord, Besetzung fremden Eigentums und Bildung einer terroristischen Vereinigung. Was halten Sie von diesem Verfahren?

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Aitor Martínez Jiménez hat als Anwalt die Klage gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof vorgebracht. Martínez ist derzeit Professor für Jura an der Universität Nebrija, Madrid, zuvor hatte er einen Lehrauftrag für Menschenrechte an der Autonomen Universität von Asunción, Paraguay. Er hat an der Universität Carlos III in Madrid über internationales Recht promoviert. Aitor Martínez beschäftigt sich mit Paraguay, seit er 2007 für die spanische Botschaft in Paraguay arbeitete. Dabei hat er dauerhafte Kontakte zur paraguayischen Zivilgesellschaft aufgebaut und in mehreren Fällen die Opfer von Menschenrechtsverbrechen verteidigt. Er arbeitet auch für das International Legal Office for Cooperation and Development, das von dem bekannten Juristen Baltasar Garzón geführt wird.


Das Gerichtsverfahren wurde von Anfang an mit einem Ziel geführt, die Kleinbauern zu verurteilen, die Verbrechen gegen die Kleinbauern wurden nicht einmal untersucht. Zivilgesellschaftliche Organisationen haben mehrere schweren Menschenrechtsverbrechen, die während des Massakers von den Sicherheitskräften begangen worden sind, dokumentiert und angezeigt: Es wurden Leichen von Kleinbauern gefunden, denen in den Mund geschossen worden war. Fernsehsender filmten am nächsten Tag Leichen von Kleinbauern, die offensichtlich nach ihrem Tod in Maisfeldern versteckt wurden. Und das sind nur einige Beispiele für die Beweismittel, die wir bei der Staatsanwaltschaft eingereicht haben. Doch die ging nicht darauf ein, von Anfang an ging es nur darum, die Kleinbauern zu verurteilen.

Sie haben 2014 eine Beschwerde gegen Paraguay vor dem Interamerikanischen Gerichtshof gegen das Gerichtsverfahren zum Massaker von Curuguaty vorgebracht. Auf was bezieht sich die Beschwerde konkret?

Dabei geht es vor allem um Verstöße gegen die Amerikanische Konvention für Menschenrechte (CADH). Zum einen wurden die Angeklagten ohne hinreichende Beweise angeklagt und wichtige Beweismittel, die auf dem Tatort gefunden wurden, fanden keine Verwendung. Bei dem Verfahren kam es zu massiven Verstößen gegen die Prozessordnung. Außerdem gab es Verstöße gegen das Menschenrecht, Zugang zur Justiz und gerichtlichen Schutz zu bekommen. Aber die Staatsanwaltschaft hat keine Klagen gegen die involvierten Sicherheitsbeamten angenommen. Polizisten wurden wegen außergerichtlicher Hinrichtungen, Versuch des Verschwindenlassens, Folter und anderer Delikte angezeigt. Mehrere Anzeigen mit umfangreichen Beweismitteln wurden eingereicht, dennoch hat die Staatsanwaltschaft nie in diese Richtung ermittelt. Den Opfern wurde also der Zugang zur Justiz verweigert.

Der Interamerikanische Gerichtshof hat dem paraguayischen Staat im vergangenen Jahr eine Frist von drei Monaten gewährt, um auf diese Beschwerden einzugehen. Was ist daraus geworden?

Die paraguayische Justiz antwortete, dass den Verurteilten noch immer innerhalb Paraguays Rechtsmittel zur Verfügung stünden, deshalb sei der Interamerikanische Gerichtshof noch nicht für den Fall zuständig. Tatsächlich steht im Fall Curuguaty immer noch ein Berufungsverfahren aus, das im August 2016 eingereicht worden ist. Doch die Justiz hat noch nicht darauf reagiert, obwohl die Fristen, die sich die paraguayische Justiz selbst setzt, abgelaufen sind. Es ist also doch so, dass für die Angeklagten keine weiteren Rechtsmittel zur Verfügung stehen, denn es ist ja der paraguayische Staat selbst, der das Berufungsverfahren blockiert.
Gehen wir auf die Einzelheiten des Falls ein. Dem Urteil des Gerichts zufolge hat der Anführer der Landbesetzer, Rubén Villalba, der Polizei eine Falle gestellt und dann den Polizeioffizier Erven Lovera auf kurze Distanz mit einer Schrotflinte erschossen. Daraufhin sei dann ein Schusswechsel ausgebrochen, bei dem weitere 16 Personen starben. Viele zweifeln an dieser Version. Was glauben Sie, was in Curuguaty wirklich passiert ist?
Dem Gericht zufolge hat Rubén Villalba mit einer Schrotflinte auf Erven Lovera geschossen, aber aus dem polizeilichen Gutachten geht hervor, dass aus dieser Flinte gar nicht geschossen worden ist. Man hat die Patronenkammer und den Lauf untersucht und fand keine Schmauchspuren.
Während der Beweiserhebung wurde der Antrag gestellt, die Fingerabdrücke der Angeklagten mit denen zu vergleichen, die man auf dieser und anderen beschlagnahmten Waffen gefunden hat. Aber das wurde einfach nicht gemacht, ein eklatanter Mangel an Sorgfalt. Und das sind nur einige krasse Beispiele für die Unstimmigkeiten in diesem völlig haltlosen Urteil. Was wirklich in Curuguaty passiert ist, kann man deshalb nicht wissen. Die Staatsanwaltschaft, also die Institution, die den Auftrag hatte, die Geschehnisse zu untersuchen, hat ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Sie berichteten von unterdrückten Beweismitteln, das ging auch durch die Presse. Können sie noch mehr Beispiele für Beweismittel geben, die einfach „verschwunden“ sind?

Wenn man den Bericht über die Beweismittelsammlung am Tatort mit dem Bericht über die Beweismittel vergleicht, für die forensische Gutachten erstellt wurden, sieht man sofort, dass die nicht zusammenpassen. Es gibt Beweismittel, die am Tatort gesammelt worden sind, die aber nicht begutachtet wurden. Andere Gegenstände wurden nicht am Tatort gesammelt, aber dennoch gibt es Gutachten über sie.
Auf der anderen Seite tauchen fundamental wichtige Beweismittel nirgendwo auf, wie etwa die Videoaufnahmen, die vom Helikopter aus gemacht wurden, der die Polizeioperation begleitete. Ebenso die vielleicht wichtigsten Beweismittel, die hunderten Patronenhülsen vom NATO-Kaliber 5,56mm, die am Tatort gefunden worden sind. Diese Patronen werden in automatischen Waffen verwendet. Über Monate hinweg hat der Staatsanwalt Jalil Rachid behauptet, dass nur Munitionshülsen von Schrotflinten gefunden wurden. Videoaufnahmen eines Fernsehsenders zeigen aber, wie er selbst Taschen voller 5,56mm Patronenhülsen am Tatort entgegennimmt.

Nichtregierungsorganisationen, wie etwa die Koordination Menschenrechte Paraguay CODEHUPY kritisieren die Rolle, die der Staatsanwalt Jalil Rachid in dem Fall gespielt hat. Wie bewerten Sie dir Rolle von Jalil Rachid? War es eine politische Entscheidung, ihm den Fall zu übertragen?

Wenige Tage nach dem Vorfall, als bekannt wurde, dass das Parlament ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Fernando Lugo wegen des Massakers anstrengen wird, wurde der zuständige Staatsanwalt ausgetauscht. So kam Jalil Rachid an den Fall. So wurde sichergestellt, dass die Justiz die Argumentation, mit der die Absetzung Lugos begründet werden sollte, bestätigt: Dass Kleinbauern, die durch Lugos Politik für eine Landreform radikalisiert worden seien, die Polizei angegriffen hätten.
Jalil Rachid ist der Sohn von Bader Rachid, dem ehemaligen Vorsitzenden der Colorado-Partei, die für die Absetzung Lugos gestimmt hatte. Und Jalil Rachid ist selbst Parteimitglied der Colorados. Er war also ein Vertrauensmann für die Opposition.
Darüber hinaus ist die Familie Rachid befreundet mit der Familie des verstorbenen Blas N. Riquelme, der auch ein ehemaliger Vorsitzender der Colorados war. Riquelme war der vorgebliche Besitzer des Grundstücks Marina Kué.

Wenige Monate nach dem Massaker von Curuguaty hat das Unternehmen Campos Morombi das Grundstück Marina Kué  dem paraguayischen Staat „geschenkt“, obwohl es ja eigentlich nie offiziell dem Unternehmen gehört hat. Warum wurde das gemacht? Wie bewerten sie die Tatsache, dass der Staat dieses „Geschenk“ angenommen hat?

Offensichtlich war das ein juristisches Manöver. Während der mündlichen Verhandlung des Massakers wurde schnell klar, dass das Unternehmen Campos Morombi sich das Grundstück illegal angeeignet hatte. Die Landbesetzer waren also im Recht. Wenn das juristisch festgestellt worden wäre, hätte man die Kleinbauern nicht wegen Besetzung fremden Eigentums belangen können. Und man hätte Untersuchungen gegen Campos Morombi und gegen die Richter und Staatsanwälte einleiten müssen, die im Juni 2012 die Räumung befohlen hatten.
Dieser Trick wurde aus folgendem Grund angewandt: Campos Morombi überschrieb das Grundstück dem Staat, und der nahm das Grundstück an. Nur auf dieser Grundlage konnte das Gericht argumentieren, dass zum Zeitpunkt der Besetzung das Land der Firma Campos Morombi gehörte und dementsprechend die Kleinbauern verurteilen.

Derzeit existiert ein weiterer Landkonflikt um einige Grundstücke in Guahory, die sich einige Farmer mit brasilianischem Migrationshintergrund illegal angeeignet haben. Was für eine Verbindung sehen Sie zwischen diesem aktuellen Fall und dem von Curuguaty?

In dem Fall von Guahory vertrete ich ebenfalls die Opfer vor dem Interamerikanischen Gerichtshof, das sind ungefähr 200 Familien. In diesem Fall haben wir eine einstweilige Verfügung beantragt, damit das Gericht interveniert. Die Familien wurden auf brutale Weise enteignet, wobei gegen jede Rechtsstaatlichkeit verstoßen wurde.
Die Räumung von Guahory wurde ohne gerichtliche Verordnung durchgeführt und von den Agrarunternehmern dieser Region finanziert, die offen zugegeben haben, dass sie die Sicherheitskräfte dafür bezahlt haben. Außerdem haben diese Agrarunternehmer sich aktiv an der Polizeiaktion beteiligt, indem sie die Hütten der Kleinbauern mit ihren Traktoren und Bulldozern zerstörten, mit dem einzigen Ziel, sich umstrittene Grundstücke anzueignen.
Der Fall von Guahory zeigt, wie der Staat und seine Institutionen vor den Interessen einer kleinen unternehmerischen Oligarchie zurückweichen.
In Curuguaty wurde nach demselben Modell vorgegangen. Das Grundstück Marina Kué gehörte dem Staat und war eigentlich für eine Landreform vorgesehen. Dennoch hat die Firma Campos Morombi – die dem Ex-Vorsitzenden der Colorados, Blas N. Riquelme gehörte – sich dieses Grundstück einfach angeeignet. Am Ende hat die Macht dieses privaten Unternehmens erreicht, dass eine illegale Räumung der Landbesitzer in einer Tragödie endete.
Man sieht: Die Parallelen sind deutlich. Sie korrespondieren mit dem wichtigsten strukturellen Problem in Paraguay, der extremen Ungleichheit der Landverteilung. Man muss daran denken, dass in diesem Land etwa 89 Prozent des Landes etwa zwei Prozent der Landbesitzer gehört.

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