GUTES BEISPIEL, SCHLECHTES BEISPIEL

Zu Besuch bei den „Kämpfern“ Der Fußballverein Aucas ist ein Raum der ärmeren Menschen – aber vor allem der Männer (Foto: Luis Herrera R.)

Wenn man vergessen kann, unter welchen Umständen die jüngsten Spiele stattfanden, funktioniert der Sport als eine Art Ablenkung ohne tiefere politische Bedeutung. Doch selbst wenn man die zahllosen Menschrechtsverletzungen rund um die WM in Katar ignoriert, passieren in der Fangemeinde Dinge, die Bände über die politischen Realitäten im Fußball sprechen. Die homofeindlichen Gesänge ecuadorianischer Fans während des Eröffnungsspiels sind dafür das perfekte Beispiel. Deswegen leitete die FIFA, auch wenn es fast ironisch klingt, ein Disziplinarverfahren gegen den ecuadorianischen Fußballverband ein.

In einem der Videos, die im Netz kursieren, sieht man im Fanblock Ecuadors Hunderte gelb gekleideter Fans, die undeutlich einen Text grölen. Obwohl dieser in den meisten Aufnahmen in den lauten Stadiongeräuschen untergeht, erkennt man etwas von der letzten Strophe. Es bedarf keiner besonders ausgeprägten Vorstellungskraft, um die homofeindlichen Ausdrücke zu identifizieren – ich habe viele dieser Gesänge selbst miterlebt und erfahren, wie oft das Wort maricón als Beleidigung gegenüber schwulen Menschen benutzt wird. Die ecuadorianischen Fans bei der WM nutzten ihre homofeindlichen Gesänge, um alten Gegnern eins auszuwischen. Aber so etwas geschieht nicht nur bei wichtigen Turnieren. Ob im Stadion oder gar während eines „freundlichen“ Spiels unter Nachbarn, sind solche Beschimpfungen im Fußball kein Einzelfall.

In diesem Kontext spiegelt Fankultur gesellschaftliche Verhältnisse wider und verdeutlicht, warum Fußball eben doch politisch ist. Wenn Fans solche Ausdrucksformen benutzen, sagt dies viel über deren Haltung gegenüber queeren Menschen aus – und über die Diskriminierungspraktiken, die hinter diesen Beleidigungen stehen. In einem Land, das noch viel dafür tun muss, die Rechte der LGBTQAI+-Community zu gewährleisten, sollten solche Gesänge nicht einfach überhört werden. In vieler Hinsicht ist Fußball und Fankultur von einer cis-männlichen Dominanz geprägt. Auch wenn es in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben hat, werden queerfeindliche Ausdrucksformen weiterhin geduldet, verharmlost oder zumindest nicht kritisch hinterfragt.

In solchen Räumen wird durch derartige Ausdrucksformen festgelegt, wer dazugehört und wer ausgegrenzt wird. Als Frau habe ich mich nicht immer willkommen gefühlt in dieser Kultur der Hinchada (Fußballgemeinde); als junges Mädchen empfand ich sie als bedrohlich. Lauter Männer, die sich betrinken, während sie den Fernseher oder die Spieler auf dem Feld anbrüllen – was soll da schon schief gehen? Später war ich davon überzeugt, dass Fankultur, wie andere männerdominierte Räume, dazu dient, toxisches männliches Verhalten zu reproduzieren.

Doch wann immer die schlechten Beispiele drohen, alles Gute am Fußball zu überschatten, gibt es jemanden, der einen doch noch an das Gute in der Fankultur glauben lässt. Für mich ist das mein Vater, mit dem ich zwei der WM-Spiele Ecuadors per Skype angeschaut habe. Und auch wenn ich nicht glaube, dass mein Vater das Politische am Fußball sieht, liefert er mir ein gutes Beispiel für die positive Kraft der Fangemeinde.

Mein Vater ist schon Zeit seiner Jugend leidenschaftlicher Fußballfan. Besonders schwärmt er von einem Stadion im Süden seiner Heimat Quito, wo er als junger Mann mit brennender Leidenschaft seine Mannschaft Aucas anfeuerte. Im Süden der Stadt lebten in den 1970er-Jahren vor allem Arbeiter*innenfamilien, während die urbane Elite, die früher im Zentrum lebte, begann, in den nördlichen Teil der Stadt zu ziehen. Mein Vater erzählt im Zusammenhang mit seiner Liebe für den Aucas-Fußballverein auch von seinen Erfahrungen mit der Armutsdiskriminierung, die entlang dieser geographischen Aufteilung der Stadt verlief.

In seinen Anfangsjahren war Aucas eine kraftvolle Mannschaft und der Verein wirtschaftlich stark. Aber seit ich mich erinnern kann, war er ein Fußballverein des Südens der Stadt, ein Verein der einfachen Leute. Über die Jahre hinweg verschlechterte sich die Mannschaft und spielte oft in der dritten Liga. Im Jahr 2017 stieg Aucas zum ersten Mal wieder auf.

Seinen größten Erfolg feierte der Verein im Oktober 2022 mit seiner Qualifikation für die Copa Libertadores de America für 2023. Für die Stadtviertel Quitos, die von der Politik traditionell am wenigsten beachtet werden, fühlte es sich wie ein Wunder an. Der Sieg hat bis heute eine symbolische Kraft und sorgte, wenn auch nur begrenzt, für die Sichtbarkeit der Aucas-Fans.

Für meinen Vater und viele andere schafft der Verein einen Raum für Menschen, die sich dem Klassismus in der Gesellschaft entgegenstellen, indem sie ihrem Team den Rücken stärken. Sie besuchen das Stadion auch mit dem Gefühl der Zugehörigkeit, inmitten einer Gesellschaft, von der sie oft diskriminiert werden. Umso passender ist in diesem Kontext der Name des Vereins. Aucas kommt aus dem Kichwa und bedeutet „Kämpfer“.

Und wenn der Erfolg einer Fußballmannschaft die Kraft besitzt, dem Klassismus einer Gesellschaft den Kampf anzusagen, könnte aus diesem guten Beispiel nicht noch etwas Besseres erwachsen? Nämlich ein sicherer Raum, an dem alle, die sonst Diskriminierung erleben, dieses stärkende Gemeinschaftsgefühl genießen können.

“SIE KÖNNEN ALLES VON UNS ERWARTEN, NUR KEINE STILLE”

Espero tua (re)volta Filmstill // Foto: Bruno Miranda

„Warum müssen wir für unsere Bildung kämpfen, wenn Bildung doch unser Recht ist?” Das fragen sich Nayara, Marcela und Koka, die diese jüngste Geschichte Brasiliens aus Sicht der Schüler*innenbewegung erzählen, von den ersten Protesten gegen die Erhöhung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr 2013 bis zur Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro Ende 2018. Espero tua (re)volta, der fünfte Dokumentarfilm der Journalistin und Regisseurin Eliza Capai, berichtet von vielen Brüchen und Niederlagen, aber auch von Mut, Power und Erfolgserlebnissen. Der Film könnte aktueller nicht sein und weiß dies auch. Eine seiner großen Stärken ist die Fülle an Material zu den verschiedenen Formen jugendlicher Rebellion gegen all das, was schon immer ein Problem in Brasilien war und nun mit dem neuen Präsidenten immer akuter wird: Sexismus, Homo- und Trans*phobie, Rassismus und die Unterteilung der Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse.
Espero tua (re)volta, das die „Revolte“ schon im Titel trägt, ist eigentlich ein klassischer Dokumentarfilm – Bilder von Demonstrationen, Versammlungen, besetzten Schulen und, natürlich, exzessiver Polizeigewalt –, die Erzählform ist jedoch besonders. Nayara, Koka und Marcela waren von Anfang an bei den Protesten und den Schulstreiks im Bundesstaat São Paulo dabei, kommentieren die Szenen, in denen ihre jüngeren Ichs teils selbst vorkommen, und leiten die Kamera an. „Geh’ noch mal kurz zurück zu der Szene davor, ich war noch nicht fertig“ oder „wir müssen jetzt doch nochmal einen kurzen Exkurs ins Jahr 2012 machen“, heißt es, und die Kamera gehorcht. Mit viel Humor achten Nayara und Marcela darauf, dass Koka als männlicher Erzähler nicht zu viel Redezeit bekommt. „Jetzt sind wir Frauen wieder dran, deine Zeit ist abgelaufen“, heißt es gleich zu Beginn, und Koka gehorcht, verliert dabei aber nie seinen Mittei­lungs­drang.
Passend zur Energie der drei Erzähler*innen geht der Film musikalisch genauso kraftvoll vor, Baile Funk und Hiphop unterstreichen die rebellischen Szenen, in denen ein Meer junger Menschen durch die Straßen São Paulos zieht und Gerechtigkeit fordert, oder in denen die besetzten öffentlichen Schulen – insgesamt 200, deren Schüler*innen sich gegen die Schließung wehren – zu Orten der Selbstverwaltung werden, wo sich Arbeitsgruppen zu Themen wie Sexismus und Rassismus bilden und die Jungs putzen und kochen müssen. Nicht selten erfolgt plötzlich ein musikalischer Bruch, zu dem die drei ankündigen, dass Szenen voller Polizeigewalt gegen Minderjährige folgen werden. Dazu erfahren wir: „Die Diktatur ist vorbei, aber die Repression blüht.” In diesen Szenen wird deutlich, wie viel die Schüler*innen der Bewegung bereits an Gewalt haben ertragen müssen und wie sehr sie der eigene Kampf mitnimmt. Immer wieder folgt die Warnung: „Dies ist erst der Anfang, es wird wieder passieren.“
Umso wichtiger, dass Espero tua (re)volta trotz allem Hoffnung schenkt. Hoffnung in eine Generation junger Brasilianer*innen, die früh gelernt haben, was es heißt, für die eigenen Rechte zu kämpfen und nicht daran denken, diesen Kampf aufzugeben.

SCHWERE ZEITEN FÜR QUEERE KUNST

Fotos: Lanchonete.org

Die christliche Rechte in Brasilien befindet sich im Aufwind. Unlängst wurde eine Ausstellung in Porto Alegre nach Protesten abgesagt. Was ist genau passiert?
Es sollte eine Ausstellung mit den Werken von zahlreichen jungen und anerkannten queeren Künstler*innen stattfinden. Dagegen organisierten konservative Gruppen Proteste. Im Gegensatz zur Linken ist die Rechte in Brasilien sehr gut organisiert. Es ist ihnen gelungen, einige Werke mit Pädophilie und Zoophilie in Verbindung zu bringen. Das ist riesiger Schwachsinn! Die Werke, die vermeintlich Pädophilie rechtfertigen, stammen von Künstler*innen, die selbst darunter gelitten haben. Mit den Werken sollte thematisiert werden, dass auch viele junge LGBT Opfer von Pädophilie werden. Das große Problem für diese Menschen ist, dass Kindern eine sexuelle Orientierung zugeschrieben wird. Die Solidarisierung mit den Protesten war leider sehr groß. Es war zu hören: „Diese Schwuchteln machen degenerierte Kunst“. Das erinnert mich an die Rhetorik der Nazis.

Und daraufhin wurde die Ausstellung abgesagt?
Ja, sie hatten damit Erfolg. Am Ende hat die Santander-Bank, die Sponsor war, die Ausstellung abgesagt. Es war aber nicht einfach nur die Entscheidung einer privaten Bank – es geht viel weiter. Das war eine Rechtfertigung, um Menschen zu diskriminieren. Den Künstler*innen wurde ein Stempel aufgedrückt: Wenn man jetzt ihre Namen bei Google sucht, wird ihre Kunst mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Das ist ungerecht und absurd!

Gibt es noch weitere Beispiele?
Ein Theaterstück, bei dem eine transsexuelle Schauspielerin Jesus spielt, wurde in verschiedenen SESCs (Kulturzentren, Anm. d. Red.) aufgeführt. Als es in der Stadt Jundiaí im Bundesstaat São Paulo gezeigt werden sollte, entschied ein Richter, dass das Stück eine Beleidigung des Christentums darstelle. Konsequenz: Es durfte nicht aufgeführt werden. Das war Zensur! In anderen Städten wurde das Stück zwar weiter gespielt und am Ende wurde das Urteil von einem anderen Richter aufgehoben. Trotzdem bleibt: Ein Theaterstück in Brasilien wurde zensiert. Das ist unglaublich. So etwas sollte eigentlich keinen Platz in einer Demokratie haben. In einem anderen Fall wurde ein Künstler aus Brasília während einer Performance brutal von Polizisten verhaftet, weil er nackt war.

Wie erklären Sie diesen massiven Rechtsruck?
Es gibt verschiedene Gründe. Die Bildung in Brasilien ist sehr schlecht. Keine Regierung nach dem Ende der Diktatur konnte daran etwas ändern – auch weil man kaum Fortschritte in ein oder zwei Amtszeiten erreichen kann. Auch mit dem Rohstoffboom gab es keine Verbesserungen. Zum anderen befindet sich der Katholizismus seit den neunziger Jahren im Rückgang und die evangelikalen Kirchen gewinnen immer mehr Einfluss. Die Kirche Igreja Universal do Reino de Deus besitzt den am drittmeist gesehenen Fernsehsender des Landes. Auch die anderen evangelikalen Kirchen haben großen Raum in den Medien. Die Sendezeit erkaufen sie sich mit dem Geld ihrer Anhänger*innen. Bei vielen Gottesdiensten können die Gläubigen ihren „Zehnten“ (Kirchensteuer, Anm. d. Red.) direkt mit der Kreditkarte bezahlen.

Warum sind die evangelikalen Kirchen so erfolgreich in Brasilien?
Weil diese Kirchen eine der wenigen Orte sind, wo die Armen und Allerärmsten ein Gemeinschaftsgefühl bekommen. Mehr noch: Sie erhalten dort psychologische Unterstützung. Für viele Brasilianer*innen wäre dies sonst undenkbar. In der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind Therapien nicht eingeschlossen. Die evangelikalen Kirchen haben ein strenges moralisches Wertesystem. Das führt dazu, dass die Gläubigen anfangen zu denken, dass sie immer recht haben und die anderen auf jeden Fall falsch liegen. Auch hat sich bei diesen Menschen die Idee durchgesetzt, dass Künstler*innen nichts mit ihrer Realität zu tun haben und ihre Anliegen Wohlstandsprobleme seien. Das mag für die Künstler*innen von Globo (größter Fernsehsender und Medienmonopol, Anm. d. Red.) stimmen – aber für den Rest ist eher das Gegenteil der Fall.

Im vergangenen Jahr übernahm Michel Temer nach einem juristisch fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren den Präsidentschaftsposten. Welche Rolle spielt seine Regierung in den aktuellen Debatten?
Auf den ersten Blick scheint die Regierung nichts damit zu tun zu haben. Temer hat sich zu keinem der Fälle öffentlich geäußert, die ich anfänglich erwähnt habe. Der Präsident arbeitet aber gerade mit Hochdruck daran, die Rechte abzubauen, die sich die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten hart erkämpft hat. Viele Künstler*innen haben das scharf kritisiert. Die Menschen kümmern sich aber leider mehr um vermeintliche Pädophilie in Kunstwerken, als um eine Arbeitsrechtsreform oder einen erneuten Freispruch von Temer, der wegen mehrerer Verbrechen angeklagt ist. Die aktuellen Debatten schaffen also für die Regierung eine perfekte Nebelwand, um die verheerende Austeritätspolitik zu verschleiern.

Sie stammen aus São Paulo. Wie ist die Situation für LGBT in ihrer Heimatstadt?
Auf der einen Seite ist São Paulo als größtes Finanzzentrum Lateinamerikas sehr konservativ. Auf der anderen Seite hat es aber auch eine lange queere Geschichte. Der wirklich bewegende Film São Paulo em Hi-Fi zeigt die LGBT-Szene während der Militärdiktatur in den sechziger und siebziger Jahren. In dieser Zeit gab es herausragende Persönlichkeiten wie Celso Curi, der die erste Kolumne für LGBT in Brasilien geschrieben hat. Er gründete auch ein wichtiges Kulturzentrum. Das war der erste Ort für homosexuelle Paare und ist bis heute eine wichtige Referenz.

Was macht die Szene so besonders?
Ich bin viel gereist und was São Paulo wirklich besonders macht, ist die hohe Anzahl von homosexuellen Paaren in der Öffentlichkeit. Anfang der Nullerjahre haben wir angefangen, uns in Einkaufszentren und auf Plätzen zu treffen. Zum ersten Mal konnten wir uns öffentlich so zeigen, wie wir waren, und mit derjenigen Person zusammen sein, mit der wir wollten. Die unheimliche Dynamik der Stadt hat auch dazu geführt, dass LGBT mit viel Geld aus ganz Brasilien nach São Paulo kamen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Orte wie den Arouche-Platz, wo man einen halben Liter Schnaps für zwei oder drei Reais kaufen kann. Die Stadt spricht verschiedene sozioökonomische Bevölkerungsgruppen an.

Sie haben als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ausstellung Queer City – Geschichten aus São Paulo mitgearbeitet, die derzeit im Schwulen Museum in Berlin zu sehen ist. Glauben Sie, dass Kunst ein Mittel für politische Veränderungen sein kann?
Das will ich hoffen! Ich wünsche mir, dass das, was wir machen, Auswirkungen haben wird und unsere Kunst die Menschen in Brasilien und außerhalb zum Denken anregt. Auch für Deutschland und den Rest der Welt beginnt gerade eine schwierige Phase – deshalb will ich daran glauben.

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