ZWEI MORDE UND EIN LABYRINTH UNBEANTWORTETER FRAGEN

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(Illustration: Joan Farías Luan, www.cuadernoimaginario.cl)

Die Waffe, die Marielle Franco tötete, war eine HK MP5 von Heckler & Koch. Die Aktivistin wurde mit vier Kopfschüssen brutal hingerichtet, als sie am 14. März 2018 eine Veranstaltung im Zentrum von Rio de Janeiro verließ. Gemeinsam mit ihr wurde ihr Fahrer, Anderson Gomes, getötet. Seit mehr als zehn Jahren war sie Verteidigerin der Menschenrechte gewesen, vor allem für junge Schwarze und Angehörige der LGBTI*-Gemeinschaft, und wurde so zur fünft meist gewählten Stadträtin des Bundesstaates. Der Mord an der brasilianischen Stadträtin Marielle Franco wäre eine gute Handlung für eine Fernsehserie: die potentielle Beteiligung von Milizen, brutale Auftragsmorde und außerdem mutmaßliche Verbindungen zu hochrangigen Politiker*innen, nämlich zum Sohn des Präsidenten. Aber es ist vor allem eine Geschichte, in der sich Fiktion und Realität vermischen und es keine Grenzen gibt.

Im März 2019 jähren sich die beiden Morde. Kurz vor ihrem Tod hatte Marielle Franco außergerichtliche Hinrichtungen angeprangert, die von Polizei- und Staatsbeamt*innen in den Favelas von Rio de Janeiro durchgeführt wurden. Sie war Berichterstatterin für die Vertreter*innenkommission des Stadtparlaments geworden, deren Ziel es ist, das Eingreifen des Bundes in die öffentliche Sicherheit des Bundesstaates zu überwachen.
Marielle Franco wurde durch ein deutsches Maschinengewehr von Heckler & Koch getötet. Das Modell HK MP5, neun Millimeter Kaliber, hat eine hohe Präzision und wird für gewöhnlich nicht bei Bandit*innen in Brasilien beschlagnahmt. Es ist eine Waffe, die normalerweise von den Eliteeinheiten der Polizei von Rio de Janeiro verwendet wird.Wenn es eine Waffe aus dem Waffenarsenal der Polizei war, wie kam dann die HK MP5, die Franco getötet hat, in die Hände der Mörder*innen? Ermittlungen zufolge sind Milizen aus dem Bundesstaat Rio de Janeiro mögliche Verantwortliche für das Verbrechen. Doch auch ein Jahr nach der Ermordung der Stadträtin und ihres Fahrers ähneln die Ermittlungen eher einem Labyrinth unbeantworteter Fragen.

Die Ermittlungsrichtung, welche von der Politik am ehesten unterstützt und bereits vom Ministerium für Sicherheit von Rio de Janeiro im Dezember letzten Jahres bestätigt wurde, ist jene, dass Marielle Franco möglicherweise von Milizen getötet wurde, die von Landnahmen im Westen des Bundesstaates Rio de Janeiro profitieren. Der Sekretär und General Richard Nunes sagte der brasilianischen Presse im Dezember, dass Kriminelle möglicherweise die Arbeit der Stadträtin gefürchtet hätten. Franco hatte vor, die Bewohner*innen dieses Gebietes für die unrechtmäßige Aneignung ihres Landes zu sensibilisieren. Darüber hinaus wurden im Ermittlungsverfahren Haftbefehle erlassen, zum Beispiel gegen Anführer*innen der Gruppe Escritório do Crime. Die sollen ein Ableger der auf Auftragsmorde spezialisierten Miliz sein. Ihre Mitglieder sind ehemalige Polizist*innen, Elitekiller*innen, die handeln, ohne Spuren zu hinterlassen. Francos Tod soll 200.000 Reais, umgerechnet 47.000 Euro, gekostet haben, wobei von der Gruppe verübte Morde bis zu einer Million Reais, umgerechnet 235.000 Euro, kosten können. Bisher wurden mindestens fünf Personen in Verbindung mit der Ermordnung der Stadträtin und ihres Fahrers verhaftet. Unter den inhaftierten Mitgliedern der Militärpolizei befindet sich auch ein ehemaliger Leutnant im Ruhestand, der Chef der Miliz sein soll. Ein weiterer Verdächtiger befindet sich derzeit auf der Flucht: Es ist der ehemalige Kapitän Adriano Magalhães da Nóbrega aus der polizeilichen Eliteeinheit „Bope“ in Rio de Janeiro.


 “Eine kriegerische Erinnerung, die nicht erlischt” Murales in Rio erinnern an Marielle Franco (Foto: Dominik Zimmer)

Das politische Ansehen des umstrittenen und konservativen Bolsonaro-Clans wurde bereits im ersten Monat der Regierung erschüttert: Die brasilianische Presse berichtete, dass Untersuchungen einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ermordung von Stadträtin Marielle Franco und dem Sohn von Präsident Jair Bolsonaro aus der PSL Partei ergeben hätten. Diese Verbindung habe einen Namen: Adriano Magalhães da Nóbrega. Wie brasilianische Medien im Januar ausführlich berichteten, beschäftigte das Büro des ehemaligen Abgeordneten und gewählten Senators Flávio Bolsonaro, Sohn des Präsidenten, bis November 2018 die Mutter und die Frau des ehemaligen Polizisten Nóbrega. Die Staatsanwaltschaft in Rio de Janeiro bezeichnete Nóbrega als Kopf der Miliz „Escritório do Crime“. Dabei handelt es sich um die gleiche Organisation, die bei den Ermittlungen als mutmaßlich verantwortlich für die Ermordung von Marielle Franco gemacht wird. Die Tageszeitung O Globo berichtet, dass der sich auf der Flucht befindende Adriano Magalhães da Nóbrega ein Freund von Flávio Bolsonaros ehemaligem Berater Fabrício Queiroz sei. Dieser stehe im Verdacht, so heißt es weiter, die Mitarbeiter*innengehälter des Politikers einzuziehen. Wegen dieser mutmaßlichen Taten laufen aktuell Ermittlungen gegen ihn. Laut dem Bericht war die Mutter des ehemaligen Polizisten, Raimunda Veras Magalhães, außerdem eine der Mitarbeiter*innen, die Überweisungen auf das Konto von Queiroz tätigten. Amnesty International Brasilien hat kürzlich einen Bericht veröffentlich, in dem die Einzelheiten der Untersuchung des Mordes an Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes dokumentiert werden. Der Bericht zeigt, dass Marielle Franco mit vier Kopfschüssen, von insgesamt 13 Schüssen, getötet wurde. Die Originalmunition, mit neun Millimeter Kaliber, wurde zum ersten Mal verwendet und war Teil einer Charge, welche normalerweise die brasilianische Bundespolizei verwendet.

Die Charge mit dem Namen UZZ-18 sei 2006 von dem Unternehmen Companhia Brasileira de Cartuchos (CBC) an die Bundespolizei verkauft worden, heißt es in dem Bericht weiter. Es handelt sich bei dem Unternehmen um einen der größten Munitionshersteller der Welt, das der „strategischen Verteidigung“ dient. CBC ist die Konzernmutter der Firma Taurus. Im Dezember 2018 berichtete die brasilianische Zeitung Folha de São Paulo, dass der Gerichtshof von Rio de Janeiro Aktiengeschäfte von CBC blockiert habe. Denn es besteht der Verdacht, dass der Unternehmenschef, Daniel Birmann weitere Unternehmen gegründet habe, einige davon in Steueroasen, um Vermögenswerte geheim zu halten. Wiederum sei die von CBC verkaufte Charge, die UZZ-18, 2009 von der Post des Bundesstaates Paraíba abgezweigt worden, zitiert Amnesty International den brasilianischen Minister für Sicherheit. Die Post erklärte, dass der Vorfall nicht dokumentiert sei. Es ist jedoch bekannt, dass Waffen derselben Charge im Jahr 2015 bei einem Massaker in São Paulo in den Regionen Osasco und Barueri eingesetzt wurden. 20 Menschen wurden bei den Vorfällen getötet. Möglicherweise waren daran Polizist*innen eben jener Killereinheit beteiligt, die auch die Stadträtin aus Rio de Janeiro getötet hat. Obwohl die Fingerabdrücke der möglichen Mörder*innen der Stadträtin und ihres Fahrers auf den Patronenhülsen gefunden wurden, gibt es in den Ermittlungen bisher keinen Hinweis darauf, wer diese Personen sind. Außerdem ist nicht klar, wie die Munitionscharge der Bundespolizei abhanden gekommen ist – und durch wen. Genauso, wie die Spur der verwendeten Munition, mit der Marielle Franco und ihr Fahrer Anderson Gomes getötet wurden, durch ihre Charakteristika, Fakten und beteiligte Personen unklar ist, so ist auch der Verkauf von Waffen der deutschen Firma Heckler & Koch nach Brasilien ein umstrittenes Thema.

Der in Deutschland lebende Aktivist Jürgen Grässlin untersucht seit Jahrzehnten die deutsche Firma Heckler & Koch. Grässlin schätzt, dass seit der Gründung des Unternehmens im Jahr 1949 durchschnittlich alle 13 Minuten ein Mensch auf der Welt durch eine dieser Waffen stirbt.
Nach dem Skandal der illegalen Waffenlieferungen nach Mexiko (siehe S. 22), die zum Tod mehrerer unschuldiger junger Menschen führten, kündigte das Unternehmen 2016 neue Regeln an, die auch einen Handelsstop mit Ländern mit niedrigem Demokratieindex beinhalteten. „Nach den vom Unternehmen 2016 angekündigten Regeln dürfte Heckler&Koch nicht mehr versuchen, in Brasilien Geschäfte zu machen“, sagte Grässlin der Deutschen Welle im Mai 2018. Brasilien scheint jedoch nicht unter den Ländern zu sein, mit denen Heckler & Koch in den letzten Jahren seinen Waffenvertrieb vermieden hat. Laut demselben Artikel der Deutschen Welle belegt der Jahresbericht des deutschen Waffenherstellers, dass zwischen Januar und April 2017, 37 Waffenexporte nach Brasilien stattfanden. Das Geschäftsvolumen der Exporte beträgt mehr als zehn Millionen Euro. Ein vielleicht für die deutsche Regierung ausreichendes Argument, die Exporte nach Brasilien einzuschränken, wäre, dass das lateinamerikanische Land laut der kürzlich veröffentlichten Studie Atlas de Violência des Instituts für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA) eine 30 Mal höhere Mordrate hat als Europa. Deutschland ist einer der fünf größten Waffenexporteure der Welt und beschäftigt mindestens 50.000 Personen in dieser Industrie.

Neben allen Kontroversen um den Namen der Firma Heckler & Koch und darum, wie eine Schusswaffe eingesetzt werden soll, damit Töten „ethisch vertretbar“ wird, definiert das Rüstungsunternehmen für seinen Waffenhandel „compliance standards“. „Unlauteres oder unethisches Verhalten gefährdet den Erfolg unseres Unternehmens bis hin zum Existenzrisiko“, heißt es dazu auf der Unternehmenswebseite. Geht man davon aus, dass die Waffe HK MP5 der Marke Heckler & Koch, die Marielle getötet hat, aus ethischen Gründen nicht in einem Land wie Brasilien kursieren darf, dessen Mord- und Kriminalitätsraten seit Jahrzehnten die Nachrichten prägt, bleibt die Frage: Warum gelangte die Waffe dann dorthin? Aber es ist nur eine der vielen Fragen, für die Menschenrechtsaktivist*innen versuchen, Antworten zu finden. Für die, wie im Fall von Marielle Franco, nur Spuren des Verbrechens in ein Labyrinth unbeantworteter Fragen führen.

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Aldo presente! Leonel Gutiérrez Solana und Sofía de Robina in Stuttgart (Foto: ECCHR)

Es sei der größte Strafprozess im Kleinwaffenbereich, so Rechtsanwalt und Friedensaktivist Holger Rothbauer. Den Angeklagten werden mehr als ein Dutzend gewerbs- und bandenmäßige Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und Außenhandelsgesetz vorgeworfen. Sie und ein in Mexiko wohnhafter Komplize waren mit dafür verantwortlich, dass in Deutschland hergestellte Sturmgewehre des Typs G36 in mexikanische Konfliktgebiete gelangten.

Mexikanische Behörden sind ebenso wie Politiker*innen und Militärangehörige in Geschäfte der organisierten Kriminalität verwickelt. Das Untersuchungsergebnis der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft lässt aber auch vier Jahre nach dem Geschehen dutzende Fragen offen. Unter anderem die große Frage nach dem Verbleib der 43 verschleppten Studenten. In der Kleinstadt Iguala im Bundesstaat Guerrerohatten hatten im Jahr 2014 Polizist*innen und Kriminelle das Feuer aus mindestens sieben Sturmgewehren der Marke Heckler & Koch, hergestellt im süddeutschen Oberndorf, eröffnet. (siehe LN 491, 497).

Nun hat sich Leonel, der Bruder des seitdem im Koma liegenden Aldo Gutiérrez Solana, im September auf den Weg nach Deutschland gemacht. Die Richter und Angeklagten in Stuttgart sollen durch seine Anwesenheit mit dem Schicksal seines Bruders konfrontiert werden. Über seine Erfahrungen spricht Gutiérrez Solana bei einer anschließenden Podiumsdiskussion in Berlin. Es sei wichtig gewesen, am Gericht zu erscheinen, obwohl die Familie nicht als Nebenklägerin zugelassen worden ist. Seine Anwesenheit sei wie ein „atmosphärischer Einschlag“ im Gerichtssaal gewesen, bewertet der Jurist Christian Schliemann vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) den Besuch von Gutiérrez Solana und der Menschenrechtlerin Sofía de Robina vor Gericht.

Angesprochen auf ihre Erwartungen in Hinblick auf den bevorstehenden Regierungswechsel in Mexiko äußert Sofía de Robina vom mexikanischen Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez A.C. die Hoffnung, dass die von Andrés Manuel López Obrador angekündigte Wahrheitskommission endlich Licht ins Dunkel des Falles bringt und ihre Arbeit endlich Aufwind erhält. Das Thema müsse den verantwortlichen Waffenkonzernen und politischen Gremien solange angekreidet werden, bis sich die Kontrolle von Rüstungsexporten ändere. Nur so könne garantiert werden, dass sich die Ereignisse von Iguala nicht wiederholten. Eine gerichtliche Entscheidung im Fall der ehemaligen Angestellten von Heckler & Koch wird in Stuttgart für den 25. Oktober erwartet.

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