Wenn die Angst regieren will

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Zwei Personen aus Ecuador warten in Frankfurt auf einen Zug. Als Migrant*innen teilen sie ihre Geschichten miteinander und unterhalten sich über das, was sie an ihrem Heimatland vermissen: bestimme Gerichte, bestimmte Orte. Nach einer Weile wird die Ruhe des Gesprächs von ihren Sorgen gestört. Es scheint unvermeidbar, dass sie sich auch darüber unterhalten. Die Zärtlichkeit ihrer Erinnerungen verschwindet und wird von der Angst verdrängt, die aus dunklen Ecken kriecht. Eine Angst, die durch die Medien verbreitet wird, eine lähmende Angst in Anbetracht der Situation, die ihre Angehörigen in Ecuador aktuell durchleben.

Seit einigen Monaten gehört diese Angst zum täglichen Leben dazu: Der Staat ist abwesend, kriminelle Banden eignen sich gewaltsam Territorien an. Privatpersonen und kleinere Betriebe werden gegen Schutzgelder erpresst. All das soll vermitteln: „Für deine Sicherheit musst du bezahlen.“ Leichen werden an öffentlichen Orten präsentiert, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Auf offener Straße oder in Tankstellen gibt es Attentate, Menschen werden auf grausame Art und Weise ermordet. Die totale Entmenschlichung rückt Gewalt und Tod in den Vordergrund und versucht, sie zum Zentrum des nachbarschaftlichen Lebens zu machen.

In demagogischer Manier kündigte der konservative Präsident Guillermo Lasso vor einigen Wochen den Erlass eines Dekrets an, das es der Bevölkerung erleichtern soll, sich zu bewaffnen. Das Ganze passierte inmitten von Korruptionsvorwürfen gegen den Präsidenten, der durch das Dekret auch versucht, an Beliebtheit zu gewinnen. Diejenigen, die Schusswaffen fordern, handeln aus der Verzweiflung heraus, die sich in einer Gesellschaft ausbreitet, die von Unsicherheit und zunehmender Gewalt geprägt ist. Doch statt das Leben der Bürger*innen sicherer zu machen, werden Schusswaffen im Besitz der Zivilbevölkerung lediglich zu einer weiteren Ursache für die Zunahme der Gewalt.

Mehr Waffen werden das Gewaltproblem nicht lösen

Waffen sind ebensolche Heilmittel, die schlimmer sind als die Krankheit selbst. Als Migrant*innen sind wir überzeugt: Mehr Waffen werden das Problem der Gewalt nicht lösen.

Wir müssen über eine Politik der Entwaffnung sprechen und zwar nicht nur auf der normativen Ebene, sondern im Rahmen praktischer Ansätze und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft. Diese Politik muss eng mit dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und der Abschaffung von Strukturen sozialer Ungleichheit verbunden sein. Denn die kritische Situation, in der wir uns befinden, hat soziale und wirtschaftliche Wurzeln, die nicht mit Waffen zu lösen sind.

Ecuador galt im Vergleich zu seinen Nachbarländern lange als „Insel des Friedens“. Wie konnte es dazu kommen, dass die Gewalt im Land zu einer Art Währung geworden ist? Eine Gruppe ecuadorianischer Migrant*innen begibt sich auf die Suche nach Antworten. In Ecuador, so vermuten sie, regieren die Drogenhändler*innen. Sie sind es, die über Leben und Tod entscheiden. Sie entscheiden auch über die Sicherheit in den Städten und darüber, was in den Gefängnissen und Häfen geschieht.

Aber in Ecuador sind auch die Machthaber*innen in den Drogenhandel verwickelt. Ein Beispiel: Ruben Cherres, der mit der albanischen Mafia in Verbindung steht und in der Vergangenheit wegen Drogenhandels verurteilt wurde, hat direkten Einfluss auf die Ernennung von Staatsminister*innen. Und zwar auf genau diejenigen, die für die territoriale Kontrolle und die Sicherheit der Häfen des Landes zuständig sind. Über einen seiner Freunde, Danilo Carrera, Schwager von Guillermo Lasso, hatte Cherres eine direkte Verbindung zum Präsidenten. Auf mysteriöse Weise wurde Cherres, Zeuge und Schlüsselakteur zwischen der Mafia und der ecuadorianischen Regierung, Anfang April ermordet, kurz bevor Präsident Lasso in der Nationalversammlung wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt wurde. Natürlich gibt es zu viele von diesen „Zufällen”. Ist der Präsident nur ein weiterer Drogenhändler? Wer solche Gedanken abwegig findet, sollte sich folgende Fragen stellen: Wo wird das Narco-Geld gewaschen? Auf welchem Weg kehrt dieses blutbeschmierte Geld in die Wirtschaft zurück? Die Banken sind, so der berechtigte Verdacht, riesige Geldwäschemaschinen. Und noch etwas: Präsident Guillermo Lasso, ist – das sollte so oft wie nötig betont werden – selbst Banker. Seine Bank und die oligarchischen Banken des Landes haben während seiner Amtszeit exorbitante Gewinne gemacht.

In Ecuador will die Angst regieren: Entfesselte Gewalt bestimmt über unsere Körper, reguliert unsere Bewegungsfreiheit. Diese Angst kommt in Gestalt von Personen daher, die die Interessen der Reichsten vertreten. Sie sind es, die die wichtigsten Positionen in der Regierung besetzt halten. Doch die Menschen wehren sich dagegen, dass die Angst regiert. Der tägliche Widerstand findet zum Beispiel im Netzwerk von Nachbar*innen statt, die sich gegenseitig zuhören und aufeinander aufpassen. Außerdem leisten wir Widerstand, indem wir uns nicht von unserer Angst blenden lassen: Wir wissen, dass die Gewalt nicht einfach durch die Aufhebung eines Dekrets verschwinden wird und dass sie auch nach einem Regierungswechsel nicht sofort nachlässt.

Wir müssen Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst finden

Gewalt und Angst sind Teil der wirtschaftlichen Ungleichheit, die durch das kapitalistische System, das Patriarchat und strukturellen Rassismus, die Korruption der politischen Systeme und die vom internationalen Markt aufgezwungene Arbeitsteilung geprägt ist. Uns sowohl hier in der Fremde als auch in unserem Herkunftsland in sozialen Strukturen zu organisieren und unseren Gemeinschaftssinn zu stärken, wird uns dabei helfen, Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst zu finden. Um dies zu erreichen, müssen wir uns die Bedeutung der Politik zurückholen und sie vor den jetzigen politischen Vertreter*innen retten. Wir müssen darüber nachdenken, dass Politik wie eine Pflanze ist, die von unten nach oben wächst, die von den Wurzeln genährt wird und die gefüttert werden muss. Die politische Debatte kann eine großartige Nahrungsquelle sein.

Wir müssen eine nicht moralisierende Debatte darüber anstoßen, was wir unter Sicherheit, (Il)Legalität und sozialer Rehabilitation verstehen und uns dabei nicht nur auf Bestrafung beschränken. Wir müssen anfangen, über Tabuthemen wie Drogen, die damit verbundene Kriminalität und die Produktion im Globalen Süden, den Konsum im Globalen Norden und die außerordentlichen Profite, die diese Waren abwerfen, zu sprechen. Wir müssen unseren gesunden Menschenverstand einsetzen, im Alltäglichen, in Angesicht von Leben und Tod. Und wie könnten wir das besser tun, als uns zu organisieren, ebendort, wo wir wohnen?


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PRÄSENZ ZEIGEN

Aldo presente! Leonel Gutiérrez Solana und Sofía de Robina in Stuttgart (Foto: ECCHR)

Es sei der größte Strafprozess im Kleinwaffenbereich, so Rechtsanwalt und Friedensaktivist Holger Rothbauer. Den Angeklagten werden mehr als ein Dutzend gewerbs- und bandenmäßige Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und Außenhandelsgesetz vorgeworfen. Sie und ein in Mexiko wohnhafter Komplize waren mit dafür verantwortlich, dass in Deutschland hergestellte Sturmgewehre des Typs G36 in mexikanische Konfliktgebiete gelangten.

Mexikanische Behörden sind ebenso wie Politiker*innen und Militärangehörige in Geschäfte der organisierten Kriminalität verwickelt. Das Untersuchungsergebnis der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft lässt aber auch vier Jahre nach dem Geschehen dutzende Fragen offen. Unter anderem die große Frage nach dem Verbleib der 43 verschleppten Studenten. In der Kleinstadt Iguala im Bundesstaat Guerrerohatten hatten im Jahr 2014 Polizist*innen und Kriminelle das Feuer aus mindestens sieben Sturmgewehren der Marke Heckler & Koch, hergestellt im süddeutschen Oberndorf, eröffnet. (siehe LN 491, 497).

Nun hat sich Leonel, der Bruder des seitdem im Koma liegenden Aldo Gutiérrez Solana, im September auf den Weg nach Deutschland gemacht. Die Richter und Angeklagten in Stuttgart sollen durch seine Anwesenheit mit dem Schicksal seines Bruders konfrontiert werden. Über seine Erfahrungen spricht Gutiérrez Solana bei einer anschließenden Podiumsdiskussion in Berlin. Es sei wichtig gewesen, am Gericht zu erscheinen, obwohl die Familie nicht als Nebenklägerin zugelassen worden ist. Seine Anwesenheit sei wie ein „atmosphärischer Einschlag“ im Gerichtssaal gewesen, bewertet der Jurist Christian Schliemann vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) den Besuch von Gutiérrez Solana und der Menschenrechtlerin Sofía de Robina vor Gericht.

Angesprochen auf ihre Erwartungen in Hinblick auf den bevorstehenden Regierungswechsel in Mexiko äußert Sofía de Robina vom mexikanischen Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez A.C. die Hoffnung, dass die von Andrés Manuel López Obrador angekündigte Wahrheitskommission endlich Licht ins Dunkel des Falles bringt und ihre Arbeit endlich Aufwind erhält. Das Thema müsse den verantwortlichen Waffenkonzernen und politischen Gremien solange angekreidet werden, bis sich die Kontrolle von Rüstungsexporten ändere. Nur so könne garantiert werden, dass sich die Ereignisse von Iguala nicht wiederholten. Eine gerichtliche Entscheidung im Fall der ehemaligen Angestellten von Heckler & Koch wird in Stuttgart für den 25. Oktober erwartet.


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HECKLER&KOCHS MORDGESCHÄFTE

Der blutige Angriff auf Studenten in der mexikanischen Stadt Iguala wird nun auch die deutsche Justiz beschäftigen. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat im Namen eines der Opfer Akteneinsicht in einem Verfahren gegen den Waffenhersteller Heckler&Koch (H&K) beantragt. „Diese Informationen können den Weg für weitere zivilrechtliche und strafrechtliche Schritte gegen das Unternehmen ebnen“, erklärt Christian Schliemann von der in Berlin ansässige Menschenrechtsorganisation.
Die Oberndorfer Waffenschmiede muss sich wegen des Verstoßes gegen das Außenwirtschafts- und das Kriegswaffenkontrollgesetz vor dem Stuttgarter Landgericht verantworten. Sie soll illegal Gewehre vom Typ G36 nach Mexiko geliefert haben. Diese Waffen kamen auch bei dem Einsatz gegen die Studenten zum Einsatz. Deshalb soll nun geprüft werden, ob sich H&K der Beihilfe schwerer Straftaten schuldig gemacht hat.
Am 26. September 2014 griffen Polizei und Kriminelle gemeinsam die Lehramtsanwärter im Bundesstaat Guerrero an. Sechs Menschen starben, 43 wurden verschleppt. Bis heute ist unklar, was mit den Verschwundenen passiert ist. Aldo Gutiérrez Solano, den das ECCHR im Auftrag seiner Eltern vertritt, wurde von den Schüssen eines Polizisten in den Kopf getroffen. Seither liegt er im Koma. Laut mexikanischen Ermittlungsakten besaß die Polizei von Iguala 56 der deutschen Gewehre, die nie dorthin hätten geliefert werden dürfen. Kriminaltechnische Untersuchungen bestätigen, dass drei davon dort eingesetzt wurden, wo die Beamt*innen auf Gutiérrez geschossen hatten.
Noch ist nicht bewiesen, dass der junge Mann tatsächlich Opfer von Patronen der G36 geworden ist. Sollte dem so sein, ist sowohl eine Schadensersatzklage als auch ein Strafverfahren wegen der Beihilfe zur schweren Körperverletzung denkbar. Das ECCHR will damit einen Präzedenzfall schaffen. „Wir wollen deutlich machen, dass Verfahren gegen Rüstungsexporteure nicht allein mit Blick auf das Außenwirtschaftsgesetz geführt werden können, sondern die konkreten Auswirkungen in den Empfängerländern zu berücksichtigen sind“, erklärte Schliemann. So könne den Opfern der Gewaltverbrechen in Deutschland zu Gerechtigkeit verholfen werden.
Die Akteneinsicht könnte auch die Ermittlungen in Mexiko unterstützen. Dort werfen Angehörige der Studenten und Menschenrechtsorganisationen den Behörden vor, Informationen zu vertuschen und die Täter nicht konsequent zu verfolgen. Auch für die Schüsse auf Gutiérrez sitzt bislang niemand im Gefängnis. Außer Frage steht jedoch, dass die illegalen Waffen aus dem Schwarzwald weite Verbreitung fanden: 15 der verhafteten Polizist*innen, die in der Nacht ein G36 trugen, wird vorgeworfen, in die organisierte Kriminalität verstrickt zu sein.


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