Aktuell | Ecuador | Nummer 587 - Mai 2023

Wenn die Angst regieren will

Gelockerte Waffengesetze und neue Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung verschärfen die Situation in Ecuador

Der Alltag im Land scheint durchzogen von Gewalt und Angst. Schutzgelderpressungen und Attentate der Drogenmafia sowie die öffentliche Zurschaustellung von Leichen gehören dazu ebenso wie ein tatenloser Staat, der selbst in die kriminellen Machenschaften verstrickt ist. Gleichzeitig wehrt sich die Zivilgesellschaft und leistet durch die Vernetzung in Nachbarschaftszentren aktive Gegenwehr. Unterstützt wird sie dabei von der ecuadorianischen Diaspora, die auch hier in Deutschland aktiv ist. So gelingt es, der Angst etwas entgegenzusetzen.

Von Ecuadorminka Deutschland (Übersetzung: Anika Pinz)

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Zwei Personen aus Ecuador warten in Frankfurt auf einen Zug. Als Migrant*innen teilen sie ihre Geschichten miteinander und unterhalten sich über das, was sie an ihrem Heimatland vermissen: bestimme Gerichte, bestimmte Orte. Nach einer Weile wird die Ruhe des Gesprächs von ihren Sorgen gestört. Es scheint unvermeidbar, dass sie sich auch darüber unterhalten. Die Zärtlichkeit ihrer Erinnerungen verschwindet und wird von der Angst verdrängt, die aus dunklen Ecken kriecht. Eine Angst, die durch die Medien verbreitet wird, eine lähmende Angst in Anbetracht der Situation, die ihre Angehörigen in Ecuador aktuell durchleben.

Seit einigen Monaten gehört diese Angst zum täglichen Leben dazu: Der Staat ist abwesend, kriminelle Banden eignen sich gewaltsam Territorien an. Privatpersonen und kleinere Betriebe werden gegen Schutzgelder erpresst. All das soll vermitteln: „Für deine Sicherheit musst du bezahlen.“ Leichen werden an öffentlichen Orten präsentiert, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Auf offener Straße oder in Tankstellen gibt es Attentate, Menschen werden auf grausame Art und Weise ermordet. Die totale Entmenschlichung rückt Gewalt und Tod in den Vordergrund und versucht, sie zum Zentrum des nachbarschaftlichen Lebens zu machen.

In demagogischer Manier kündigte der konservative Präsident Guillermo Lasso vor einigen Wochen den Erlass eines Dekrets an, das es der Bevölkerung erleichtern soll, sich zu bewaffnen. Das Ganze passierte inmitten von Korruptionsvorwürfen gegen den Präsidenten, der durch das Dekret auch versucht, an Beliebtheit zu gewinnen. Diejenigen, die Schusswaffen fordern, handeln aus der Verzweiflung heraus, die sich in einer Gesellschaft ausbreitet, die von Unsicherheit und zunehmender Gewalt geprägt ist. Doch statt das Leben der Bürger*innen sicherer zu machen, werden Schusswaffen im Besitz der Zivilbevölkerung lediglich zu einer weiteren Ursache für die Zunahme der Gewalt.

Mehr Waffen werden das Gewaltproblem nicht lösen

Waffen sind ebensolche Heilmittel, die schlimmer sind als die Krankheit selbst. Als Migrant*innen sind wir überzeugt: Mehr Waffen werden das Problem der Gewalt nicht lösen.

Wir müssen über eine Politik der Entwaffnung sprechen und zwar nicht nur auf der normativen Ebene, sondern im Rahmen praktischer Ansätze und gemeinsam mit der Zivilgesellschaft. Diese Politik muss eng mit dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit und der Abschaffung von Strukturen sozialer Ungleichheit verbunden sein. Denn die kritische Situation, in der wir uns befinden, hat soziale und wirtschaftliche Wurzeln, die nicht mit Waffen zu lösen sind.

Ecuador galt im Vergleich zu seinen Nachbarländern lange als „Insel des Friedens“. Wie konnte es dazu kommen, dass die Gewalt im Land zu einer Art Währung geworden ist? Eine Gruppe ecuadorianischer Migrant*innen begibt sich auf die Suche nach Antworten. In Ecuador, so vermuten sie, regieren die Drogenhändler*innen. Sie sind es, die über Leben und Tod entscheiden. Sie entscheiden auch über die Sicherheit in den Städten und darüber, was in den Gefängnissen und Häfen geschieht.

Aber in Ecuador sind auch die Machthaber*innen in den Drogenhandel verwickelt. Ein Beispiel: Ruben Cherres, der mit der albanischen Mafia in Verbindung steht und in der Vergangenheit wegen Drogenhandels verurteilt wurde, hat direkten Einfluss auf die Ernennung von Staatsminister*innen. Und zwar auf genau diejenigen, die für die territoriale Kontrolle und die Sicherheit der Häfen des Landes zuständig sind. Über einen seiner Freunde, Danilo Carrera, Schwager von Guillermo Lasso, hatte Cherres eine direkte Verbindung zum Präsidenten. Auf mysteriöse Weise wurde Cherres, Zeuge und Schlüsselakteur zwischen der Mafia und der ecuadorianischen Regierung, Anfang April ermordet, kurz bevor Präsident Lasso in der Nationalversammlung wegen Korruptionsvorwürfen angeklagt wurde. Natürlich gibt es zu viele von diesen „Zufällen”. Ist der Präsident nur ein weiterer Drogenhändler? Wer solche Gedanken abwegig findet, sollte sich folgende Fragen stellen: Wo wird das Narco-Geld gewaschen? Auf welchem Weg kehrt dieses blutbeschmierte Geld in die Wirtschaft zurück? Die Banken sind, so der berechtigte Verdacht, riesige Geldwäschemaschinen. Und noch etwas: Präsident Guillermo Lasso, ist – das sollte so oft wie nötig betont werden – selbst Banker. Seine Bank und die oligarchischen Banken des Landes haben während seiner Amtszeit exorbitante Gewinne gemacht.

In Ecuador will die Angst regieren: Entfesselte Gewalt bestimmt über unsere Körper, reguliert unsere Bewegungsfreiheit. Diese Angst kommt in Gestalt von Personen daher, die die Interessen der Reichsten vertreten. Sie sind es, die die wichtigsten Positionen in der Regierung besetzt halten. Doch die Menschen wehren sich dagegen, dass die Angst regiert. Der tägliche Widerstand findet zum Beispiel im Netzwerk von Nachbar*innen statt, die sich gegenseitig zuhören und aufeinander aufpassen. Außerdem leisten wir Widerstand, indem wir uns nicht von unserer Angst blenden lassen: Wir wissen, dass die Gewalt nicht einfach durch die Aufhebung eines Dekrets verschwinden wird und dass sie auch nach einem Regierungswechsel nicht sofort nachlässt.

Wir müssen Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst finden

Gewalt und Angst sind Teil der wirtschaftlichen Ungleichheit, die durch das kapitalistische System, das Patriarchat und strukturellen Rassismus, die Korruption der politischen Systeme und die vom internationalen Markt aufgezwungene Arbeitsteilung geprägt ist. Uns sowohl hier in der Fremde als auch in unserem Herkunftsland in sozialen Strukturen zu organisieren und unseren Gemeinschaftssinn zu stärken, wird uns dabei helfen, Alternativen zum neoliberalen Imperium der Angst zu finden. Um dies zu erreichen, müssen wir uns die Bedeutung der Politik zurückholen und sie vor den jetzigen politischen Vertreter*innen retten. Wir müssen darüber nachdenken, dass Politik wie eine Pflanze ist, die von unten nach oben wächst, die von den Wurzeln genährt wird und die gefüttert werden muss. Die politische Debatte kann eine großartige Nahrungsquelle sein.

Wir müssen eine nicht moralisierende Debatte darüber anstoßen, was wir unter Sicherheit, (Il)Legalität und sozialer Rehabilitation verstehen und uns dabei nicht nur auf Bestrafung beschränken. Wir müssen anfangen, über Tabuthemen wie Drogen, die damit verbundene Kriminalität und die Produktion im Globalen Süden, den Konsum im Globalen Norden und die außerordentlichen Profite, die diese Waren abwerfen, zu sprechen. Wir müssen unseren gesunden Menschenverstand einsetzen, im Alltäglichen, in Angesicht von Leben und Tod. Und wie könnten wir das besser tun, als uns zu organisieren, ebendort, wo wir wohnen?

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