Ecuador | Nummer 596 - Februar 2024

Wenn die Angst regiert

Die Noboa-Regierung setzt nach Eskalation der Bandengewalt auf Militarisiserung – auch mit Hilfe der USA

Nachdem Anfang Januar die Gewalt von Drogenbanden in den Gefängnissen sowie auf den Straßen Ecuadors eskalierte, hat Präsident Daniel Noboa den Ausnahmezustand ausgerufen. Kurz darauf erklärte er, das Land befinde sich in einem „internen bewaffneten Konflikt“. Seitdem gehen Polizei und Armee verstärkt gegen die Banden vor. Die Gründe für die Ausbreitung des organisierten Verbrechens und der Gewalt werden indes nicht thematisiert.

Von Frederic Schnatterer
Ecuadorianische Regierung Verteidigungs- und Außenminister bei einer Pressekonferenz am 17. Januar (Foto: Iván Matute / Asamblea Nacional via Flickr, CC BY-SA 2.0 Deed)

Militarisierung gegen die ausufernde Bandengewalt, so lautet das Rezept der noch jungen ecuadorianischen Regierung. Nachdem Anfang Januar die Flucht des Anführers der Gruppe Los Choneros, José Adolfo Macías Villamar alias Fito, aus einem Gefängnis in der Hafenstadt Guayaquil bekanntgeworden war, kam es in mehreren Haftanstalten zu Revolten. Im ganzen Land griffen Bandenmitglieder auch zivile Ziele an. Insbesondere die live übertragenen Bilder aus einem Studio des Senders TC Televisión, in das bewaffnete Jugendliche eingedrungen waren, machten Eindruck auf die verschreckte Bevölkerung.

Noboa, zu dem Zeitpunkt noch keine drei Monate im Amt, erklärte einen 60-tägigen Ausnahmezustand. Neben dem verstärkten Einsatz von Polizei und Militär sieht dieser eine nächtliche Ausgangssperre vor. Tags darauf, am 8. Januar, erließ der Präsident zudem ein Dekret, das noch weiter geht. Demnach herrsche in Ecuador ein „interner bewaffneter Konflikt“, insgesamt 22 Gangs erklärt das Dekret zu „Terroristen und nichtstaatlichen Kriegsakteuren“. Auf der Plattform X schrieb Noboa: „Ich habe die Streitkräfte angewiesen, militärische Operationen auszuführen, um diese Gruppen zu neutralisieren.“ Sein Land befinde sich im „Krieg“.

Seitdem gehen die Einsatzkräfte gegen mutmaßliche und vermeintliche Mitglieder von Drogenbanden vor. Laut offizieller Lesart mit Erfolg. Am 22. Januar, also zwei Wochen nach der Ausrufung des Ausnahmezustands, zeigte sich Noboa siegesgewiss. „Alles stand gegen uns, aber wir gewinnen diesen Kampf“, erklärte er bei der Übergabe neuer Ausrüstung an die Nationalpolizei nördlich der Hauptstadt Quito. Bis zu dem Zeitpunkt waren offiziellen Angaben zufolge mehr als 3.000 Personen verhaftet worden, davon 158 wegen „Terrorismus“. Fünf Bandenmitglieder seien getötet worden, ebenso wie zwei Polizist*innen. Auch wurden Waffen, Sprengstoff und Drogen beschlagnahmt.

Dass die Gewalt in Ecuador in den vergangenen Jahren zugenommen hat, ist kein Geheimnis. Seitdem mit Expräsident Lenín Moreno 2017 eine neoliberale Phase eingeleitet wurde, steigt die Zahl der Tötungsdelikte rapide an. Im vergangenen Jahr wurden je 100.000 Einwohner*innen 42,6 Personen ermordet. Das entspricht einem Anstieg der Mordrate um 64,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr 2022. Seit 2016 stieg die Rate um ganze 850 Prozent an. Damals konnte der Indikator unter Präsident Rafael Correa (2007-2017) auf einen Tiefstand von sechs pro 100.000 Einwohner*innen gesenkt werden.

Ecuador ist heute eines der gefährlichsten Länder ganz Lateinamerikas

Während Ecuador noch vor kurzem als besonders sicher galt, ist es heute eines der gefährlichsten Länder ganz Lateinamerikas – noch vor Mexiko, Kolumbien oder Brasilien. Das liegt vor allem daran, dass in den Handel mit illegalen Drogen verstrickte Gruppen in den letzten Jahren Fuß fassen konnten. Es wird geschätzt, dass sie heute 20.000 bis 50.000 Mitglieder haben. Die größte Bande, Los Choneros, hat ihre Ursprünge in der Küstenprovinz Manabí. Ihr werden Kontakte zum mexikanischen Sinaloa-Kartell nachgesagt, für das sie als Zwischenhändlerin agiert. Die zweitgrößte Gruppe, Los Lobos, die sich nach dem Mord am früheren Choneros-Chef, Jorge Luis Zambrano alias Rasquiña, Ende 2020 eigenständig machte, gilt als mit dem Kartell Jalisco Nueva Generación verbunden.

Heute ist Ecuador Drehscheibe des weltweiten Kokainhandels, wobei dem Land die Rolle des Zwischenhändlers zukommt. In den beiden wichtigsten Anbauländern Kolumbien und Peru produziertes Kokain wird über Ecuador in die Welt und insbesondere in die USA und nach (West-)Europa verfrachtet. Mittlerweile geht der Großteil der Droge, laut Zahlen der Polizei, über den Hafen von Guayaquil.

Laut dem Global Cocaine Report 2023 des UN-Büros für Drogen und Kriminalität (UNODC) geht der Großteil des Kokains, das über Ecuador weitertransportiert wird, heute nach Europa. Waren noch 2019 nur neun Prozent des von den ecuadorianischen Behörden beschlagnahmten Kokains für Europa bestimmt, handelte es sich 2022 bereits um mehr als die Hälfte. Gut möglich, dass der Anstieg auch mit der verstärkten Präsenz europäischer Akteure im Drogengeschäft zu tun hat. Dazu gehören die italienische ‘Ndrangheta und die albanische Mafia, die in den letzten Jahren in Ecuador Fuß fassen konnten.

Es ist aber nicht nur die geographische Lage, die Ecuador zu einem Hotspot des Kokainhandels gemacht hat. Auch die Politik trägt Verantwortung. Eine ideale Voraussetzung für die Ausbreitung der Drogengangs stellt die dollarisierte Wirtschaft dar. Seit 2000 fungiert der US-Dollar als offizielle Landeswährung. Das ermöglicht es den Zwischenhändler*innen nicht nur, ihre internationalen Geschäfte besonders unkompliziert abzuwickeln. Vor allem das Waschen von Geld wird so enorm erleichtert, was umso mehr für ein hochgradig korruptes Land wie Ecuador gilt.

Expert*innen wie der ecuadorianische Kriminologe Jorge Paladines sehen noch weitere Gründe für die tiefe Sicherheitskrise im Land. So sei die systematische Gewalt das Ergebnis eines „Prozesses der bewussten Demontage der Rechtsstaatlichkeit durch die letzten Regierungen“, wird Paladines in Nuestro País aus Costa Rica vom 14. Januar zitiert. Im Gespräch mit dem spanischen Onlineportal ctxt.es vom 18. Januar spricht er gar von „geplanter Verelendung“.

Sowohl die Regierung unter Correas Nachfolger Moreno (2017-2021) als auch die darauf folgende von Guillermo Lasso (2021-2023) setzten auf eine radikale Kürzung der Sozialausgaben. Die Folgen für einen großen Teil der Bevölkerung waren katastrophal. Hinzu kam die Coronapandemie, die in Ecuador heftig wütete. Unter ihr litten Tausende Jugendliche, die in die Erwerbslosigkeit und ins Elend gestürzt wurden. 2022 galten offiziell 26 Prozent der Bevölkerung als arm. Die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen und der in vielen Regionen und Stadtvierteln völlig abwesende Staat stellten für die Drogenbanden perfekte Bedingungen dar, Mitglieder zu rekrutieren und sich territorial zu verankern.

Wichtig für das Verständnis des Phänomens, betont Paladines, sei es, die Gefängnisse als „Epizentren der Gewalt“ nicht aus dem Blick zu verlieren. Besonders in Folge der Kämpfe um die Nachfolge von Drogenboss Rasquiña ab Ende 2020 eskalierte die Gewalt in den Haftanstalten des Landes. Untereinander verfeindete Banden zettelten Revolten an, auf oftmals bestialische Weise massakrierten sie Inhaftierte, die einer anderen Gruppe zugeordnet wurden. Der Staat unternahm wenig bis nichts, um die Kontrolle über die Gefängnisse wiederzuerlangen. So entwickelten sich diese zu rechtsfreien Räumen, die von den Banden als Ausbildungs-, Operations- und Rekrutierungszentren genutzt werden. Von ihnen ausgehend konnte sich die extreme Gewalt erst auf die Gesamtgesellschaft ausdehnen.

Lasso setzte als Präsident offiziell auf einen „harten Kurs“ gegen das organisierte Verbrechen. Ganze 20 Mal rief er den Ausnahmezustand aus. Enthüllungen über seinen Schwager und Vertrauten, Danilo Carrera, von Anfang 2023 lassen allerdings daran zweifeln, ob dieser allen Drogenbanden gleichermaßen galt. Demnach soll Carrera über Verbindungen zur albanischen Mafia verfügen und Einfluss auf Zollbehörden und Ministerien genommen haben, um Geldwäsche sowie Waffen- und Drogenhandel zu erleichtern. Im Mai wurde die Luft für Lasso schließlich zu dünn: Um einem Amtsenthebungsverfahren zu entgehen, löste er das Parlament auf und rief Neuwahlen aus.

Aus diesen ging Noboa als Sieger hervor. Bereits im Wahlkampf hatte der Sohn eines Bananen-Tycoons, der das Präsidentenamt am 23. November antrat, mit harten Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen geworben. So plant er im Rahmen eines „Phönix-Plans“ vor allem, Staat und Einsatzkräfte aufzurüsten. Zudem möchte er zwei neue Hochsicherheitsgefängnisse – eins an der Küste und eins im Amazonasgebiet – bauen, in denen insgesamt 736 Bandenmitglieder weggesperrt werden können. Kritiker*innen sehen vermehrt Parallelen zwischen Noboa und Nayib Bukele, seinem Amtskollegen aus El Salvador. Dessen autoritäres Regime setzt im Kampf gegen die Bandengewalt auf Masseninhaftierungen und die Einschränkung demokratischer Rechte. Auch wenn Noboa derlei Vergleiche bisher kategorisch von sich weist: Die jüngsten Ereignisse in Ecuador können durchaus als Teil einer autoritären Welle in der Region gesehen werden.

Die jüngsten Ereignisse können als Teil einer autoritären Welle in der Region gesehen werden

Bei seinem Militarisierungskurs setzt Noboa außerdem verstärkt auf die Unterstützung der USA. In einem Interview mit CNN erklärte er am 16. Januar, er wolle im Kampf gegen die Drogenkriminalität mit Washington zusammenarbeiten. „Wir brauchen Ausrüstung, wir brauchen Waffen, wir brauchen Aufklärung. Wir brauchen Hilfe“, so der Staatschef.

Am 22. Januar trafen unter anderem Christopher Dodd, Berater von Joe Biden, und Laura Richardson, die Kommandeurin des Südkommandos der US-Streitkräfte (Southcom), in Quito ein. Wie die US-Botschaft im Vorhinein erklärt hatte, gehe es darum, „darüber nachzudenken, wie die bilaterale Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit verstärkt werden könnte“. Auch sollten „Ansätze“ für die Bekämpfung „transnationaler verbrecherischer Banden“ analysiert werden.

Dabei ist es keineswegs so, dass Ecuador bisher nicht mit Washington zusammenarbeitete. Im Gegenteil: Kein Staat der Region erhält mehr US-Militärhilfe. Laut einer Studie des Lateiname­rikanischen Strategischen Zentrums für Geopolitik (CELAG) lag diese in den Jahren 2021 und 2022 bei 172 Millionen Dollar. Zudem unterzeichnete Expräsident Lasso noch kurz vor der Amtsübergabe zwei Abkommen mit der Biden-Regierung, mit denen die Zusammenarbeit zwischen den Staaten vertieft werden soll. Geplant sind gemeinsame Militäroperationen auf See, „Ausbildungstätigkeiten“ durch US-Militärs in Ecuador sowie das Recht für Flugzeuge, Schiffe und Fahrzeuge der US-Armee, sich frei auf ecuadorianischem Staatsgebiet zu bewegen. Kritisiert wird unter anderem, dass Angehörigen des US-Militär und -Verteidigungsministeriums Immunität garantiert werden soll.

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