Nicaragua | Nummer 488 - Februar 2015

Kritik am Megaprojekt unerwünscht

Der Unmut über den Kanalbau in Nicaragua wächst

Der erste Spatenstich ist getan – die Bauarbeiten haben begonnen. Die Kontroversen über den geplanten interozeanischen Kanal durch Nicaragua hingegen halten weiter an. Befürchtet werden gravierende ökologische und soziale Auswirkungen. Die Regierung lässt bisher nahezu alle drängenden Fragen der Bevölkerung sowie internationaler Kritiker*innen unbeantwortet.

Stefanie Wassermann

Am 22. Dezember 2014 war es soweit: Der symbolische Baubeginn des Nicaragua-Kanals wurde pressewirksam gefeiert. Dabei pries die Regierung den Kanal als einmalige Gelegenheit Nicaraguas zum lang ersehnten wirtschaftlichen Fortschritt an: „Das Megaprojekt wird nicht nur die Geschichte und Geographie Nicaraguas erneuern, sondern auch seine Wirtschaft in nachhaltiger Art und Weise beeinflussen. Das ist, was wir Nicaraguaner benötigen“ sagte Vizepräsident Omar Halleslevens.
Präsident Daniel Ortega betonte darüber hinaus, dass das Vorhaben auch zur Integration Lateinamerikas beitrage und eine konkrete Unterstützung für zwischenstaatliche Handelsabkommen wie ALBA und Organisationen wie das Zentralamerikanische Integrationssystem (SICA) darstelle. Auch der „General der freien Männer“, Augusto César Sandino, habe vor 85 Jahren auf die strategische Bedeutung eines Kanals für die Souveränität Nicaraguas hingewiesen, fügte Ortega hinzu. Der Kanal symbolisiert wie kein anderes Vorhaben den Traum vieler Nicaraguaner*innen vom wirtschaftlichen Durchbruch ihres Landes.
Tatsächlich sprengt der Kanalbau die Dimensionen aller bisherigen Großprojekte der Region und auch weltweit: Auf einer Strecke von 278 Kilometern, einer Breite bis zu 530 Metern und 30 Metern Tiefe soll eine Schneise von der Pazifikküste bis zur Atlantikküste geschlagen werden. Quer durch das Land – und durch den Nicaraguasee. Dagegen wirkt der Panamakanal mit seiner Kapazität für Schiffe mit bis zu 150.000 Tonnen fast bescheiden: Im Gegensatz zu dem bereits seit 100 Jahren betriebenen Kanal, plane man den Nicaragua-Kanal für Schiffe mit bis zu 400.000 Tonnen auszulegen, so der chinesische Großinvestor Wang Jing. Das Megaprojekt soll bis zu 50 Milliarden US-Dollar kosten; eine Summe, die mehr als doppelt so hoch ist wie das Bruttoinlandsprodukt Nicaraguas. Finanziert wird der Bau durch die chinesische HKND Group, die dafür den Kanal für 50 Jahre betreiben darf. Eine Verlängerung um weitere 50 Jahre ist vorgesehen. Doch damit nicht genug: Neben dem Kanalbau planen die Regierung Nicaraguas und der Großinvestor mehrere Freihandelszonen und Tourismuskomplexe. Zudem sollen Straßen, eine Bahnstrecke und zwei Tiefseehäfen an den jeweiligen Mündungen des Kanals entstehen. Diese „Sub-Projekte“ werden in der Region des Kanals angesiedelt, wofür der HKND Group ein jeweils zehn Kilometer breiter Landstreifen nördlich und südlich des Kanals überlassen werden soll.
Durch den Kanalbau sowie die Sub-Projekte werde man bis zu 1,2 Millionen direkte und indirekte Arbeitsplätze schaffen, hofft die Regierung. Und reguläre Arbeitsplätze sind bitter nötig in einem Land, in dem noch immer rund 40 Prozent der Menschen von zwei US-Dollar oder weniger pro Tag leben.
Ein Grund, weshalb Befürworter*innen große Hoffnungen in das Vorhaben setzen: Das Megaprojekt werde dem Land zu wirtschaftlichem Aufschwung verhelfen. Kritiker*innen hingegen befürchten das genaue Gegenteil. Es drohten irreparable Schäden an der Natur und der Ausverkauf des Landes an einen chinesischen Investor, schränke die Souveränität Nicaraguas gravierend ein und führe zu einer neuen Form des Kolonialismus.
Nicht nur regierungskritische Medien lassen Zweifel an den Plänen laut werden. Auch indigene Gemeinden und nicaraguanische sowie internationale Umweltorganisationen lehnen das Projekt aus vielfältigen Gründen ab.
Trotz vieler ungeklärter Fragen bleiben konkrete Antworten von Regierungsseite aus. Lange schien ungewiss, wie ein Projekt solchen Ausmaßes überhaupt finanziert werden sollte. Dies mag ein Grund dafür sein, dass 2012 keine breite gesellschaftliche Debatte entstand, als die Regierung um Ortega die Pläne eines möglichen Kanalbaus beschloss. Erst Monate später erschien plötzlich der bis dahin unbekannte Investor Wang Jing auf der Bildfläche – Direktor der eigens für das Kanalprojekt gegründeten HKND Group. Die rechtliche Absicherung des Baus erfolgte nun innerhalb kürzester Zeit. Trotz der absehbar katastrophalen ökologischen und sozialen Folgen schaffte die Regierung in Rekordtempo Tatsachen: Nach nur drei Verhandlungstagen verabschiedete die Nationalversammlung im Juni 2013 das Kanalgesetz 840, das dem Investor weitreichende Privilegien einräumt. So darf die HKND Group beispielsweise Land enteignen. Streitfälle unterstehen nicht der nationalen Gerichtsbarkeit sondern werden vor internationalen Schiedsgerichten verhandelt. Es gibt keinerlei Sanktionsmechanismen für den Fall, dass der Investor seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Auch für etwaige Umweltschäden kann er nicht haftbar gemacht werden. Innerhalb der Projektgebiete hat die HKND Group ein Anrecht auf die Nutzung aller natürlichen Ressourcen, sowohl oberhalb als auch unterhalb der Erde. Dora María Téllez, sandinistische Ex-Kommandantin und eine der größten Regierungs-kritiker*innen, spricht von neo-kolonialistischen Verhältnissen. Die Regierung Nicaraguas überantworte Grund und Boden an einen privaten Investor und schwäche willentlich ihre eigene Position, so Téllez. Indigene Gemeinden der Rama und Kriol stellten zudem in einem Positionspapier klar, dass das Kanal-Gesetz grundlegende internationale Übereinkünfte, wie die Konvention 169 der Internationalen Arbeiterorganisation (ILO), verletze. Die geplante Kanalroute führt durch ihr autonomes Territorium und soll dort in den Tiefseehafen der Karibik münden. Deshalb fordern sie eine grundlegende Reformierung des Gesetzes 840, die den Gemeinden ein freies Mitspracherecht einräumen würde.
Doch weder Bevölkerungskonsultationen wurden durchgeführt noch Machbarkeitsstudien angefertigt, bevor die Entscheidung für den Kanalbau getroffen wurde. Es fehlten nicht nur Untersuchungen zum angepriesenen wirtschaftlichen Nutzen des Projekts, sondern auch zu den drohenden ökologischen Folgen. Dies stößt insbesondere bei Umweltorganisationen auf Kritik, da die Route durch diverse empfindliche Ökosysteme führen soll, die teilweise von größter Bedeutung für das ökologische Gleichgewicht des Landes sind. Der Kanal würde den mittelamerikanischen biologischen Korridor unterbrechen. Davon wären sowohl Feuchtgebiete, als auch der Nicaraguasee betroffen, der als einer der größten tropischen Seen weltweit als wichtigster Süßwasserspeicher Zentralamerikas gilt. Die Akademie der Wissenschaften Nicaraguas (ACN) betont die negativen ökologischen Auswirkungen eines Kanalbaus dieses Umfangs. Da der See nicht die notwendige Tiefe für Schiffe der oben erwähnten Größenordnung hat, muss er für den Kanal ausgebaggert werden. Die Folgen für das Ökosystem wären katastrophal und sind in ihrem Ausmaß nicht einschätzbar. Abgesehen von der Kontaminierung durch den Schifffahrtsverkehr, ist sowohl eine Versalzung des Sees zu befürchten, als auch eine Eintrübung des Wassers durch die Ausbaggerung. Wang Jing erklärte jüngst, inzwischen Umweltverträglichkeitsgutachten angefertigt haben zu lassen, die Unabhängigkeit dieser Ergebnisse ist allerdings anzuzweifeln.
Ebenso ungeklärt ist auch weiterhin die Frage nach der zu erwartenden wirtschaftlichen Rentabilität des Megaprojekts. Dass diese Zahlen nie vorgelegt wurden, lässt Spekulationen über die tatsächlichen Hintergründe und Pläne von Investor und Regierung entstehen. Derzeit wird der Panama-Kanal erweitert und auch der Bau von „trockenen Kanälen“ in Zentralamerika stehen zur Debatte. Dass ein Kanal in diesen Dimensionen, wie er in Nicaragua geplant ist, jemals Gewinne einfahren kann, wird von vielen Seiten bezweifelt. Daher mutmaßen Kritiker*innen, dass geostrategische Interessen die eigentlichen Triebkräfte des chinesischen Investors sind. Zwar erklärt Wang Jing, er handle unabhängig, doch die Pläne des Kanalbaus scheinen die Ausrichtung der chinesischen Außenpolitik zu bedienen. Zum ersten Mal wäre eine Umgehung des USA-dominierten Panama-Kanals möglich, ohne nennenswerte Umwege in Kauf nehmen zu müssen. Lateinamerika als Handelspartner wird in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen, chinesische Investitionen in Höhe von 250 Milliarden US-Dollar sind in der Region geplant. Auch könnte die Beteiligung an der Sonderwirtschaftszone Mariel auf Kuba den Nicaragua-Kanal strategisch aufwerten.
Angesichts der gigantischen Ausmaße des Megaprojekts gibt es Zweifel, ob sich das Vorhaben jemals realisieren lässt. Dora María Tellez vermutet hinter den vollmundigen Regierungsplänen gar einen Papiertiger, der die wirklichen Pläne verdecken würde. Weniger das Kanalprojekt stünde im Zentrum der tatsächlichen Bestrebungen, als vielmehr die Konzessionen, die für diverse andere Projekte vergeben wurden. Um die massiven Eingriffe zu legitimieren, würde an die patriotische Pflicht zur Erfüllung von Sandinos Traum appelliert. Letztendlich sei es der konsequente Ausverkauf des Territoriums; die Enteignung des Landes, um es einer fragwürdigen wirtschaftlichen Inwertsetzung zuzuführen.
Sandino, so Mónica López Baltodano, Juristin und Kritikerin des Kanalprojekts, könne nicht für das größenwahnsinnige Projekt der Regierung instrumentalisiert werden. Vielmehr habe er den Nicaraguaner*innen gezeigt, dass Souveränität die unbedingte Pflicht bedeute, „unsere Autonomie zu erhalten, über unsere Ressourcen und unser Territorium selbst zu verfügen.“ Ortega hingegen betreibt das genaue Gegenteil. Ob das Megaprojekt wie derzeit geplant gelingt oder der wachsende Widerstand der Bevölkerung eine transparente Debatte über die befürchteten Folgen anstoßen kann, lässt sich derzeit noch nicht absehen. Die politische Teilhabe der Nicaraguaner*innen ist von der Regierung nicht erwünscht, sie muss also eingefordert werden.

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