DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”


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„WILLKOMMEN ZU HAUSE, BRÜDER UND SCHWESTERN!“

Elva Cutz erinnert sich noch gut an die kühle, vorletzte Nacht des Jahres 1996. „Meine Mutter und ich gingen zur Plaza de la Constitución im Zentrum von Guatemala-Stadt und sahen da Teile der Friedensverkündung. Aber ich habe das damals gar nicht verstanden. Ich sah nur Menschen, die weinten, Menschen, die sich vor Glück umarmten, und die vielen Parolen des Friedens dort auf dem riesigen Platz.“ Zwanzig Jahre sind vergangen seit jener Nacht. Auf der Plaza de la Constitución, dem Platz der Verfassung, dem wichtigsten Platz Guatemalas, hatten sich tausende Menschen versammelt. Sie jubeln, als der damalige Präsident Álvaro Arzú verkündet, dass über 35 Jahre Krieg zu Ende seien. Elva war damals noch zu klein, um zu begreifen, was dort passierte und welche Bedeutung dieser Tag für Ihr weiteres Leben haben sollte. Die Erwachsenen hatten es geschafft, für sie, wie für viele Kinder Guatemalas, eine Welt fern der schlimmen Erlebnisse zu schaffen, die sie selbst geprägt hatten. „Ich habe als Kind viele Geschichten gelesen“, erzählt die indigene Aktivistin Andrea Ixchiú. „Eine dieser Geschichten hieß Blutbad im Wald, von Ricardo Falla, einem jesuitischen Priester. Ich wollte wissen, warum die Geschichten der Erwachsenen so traurig und schrecklich sind. Ich erinnere mich, dass mein Vater sich zu mir gesetzt hat und sagte: Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala. Dass es einen Krieg gab, in dem schlimme Sachen passiert seien, aber dass das Land dann begonnen habe, Frieden zu schließen.“

Die, die damals schon älter waren, erinnern sich sehr wohl. Rafael Herrarte, Jahrgang 1959, stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Straßenarbeiter, seine Mutter besaß ein kleines Geschäft. Als Jugendlicher war Rafael Mitglied einer Kirchengruppe, später dann Gewerkschafter. „Meine Generation ist gezeichnet durch die Morde an Intellektuellen in den 1970er Jahren. 1980 dann stürmte die Polizei eine nationale Arbeiterversammlung und verschleppte 39 Gewerkschafter – Menschen, für die ich größten Respekt empfinde und die ich nie wieder gesehen habe. Das hat in mir den endgültigen Bruch mit dem ausgelöst.“

Community-Radios im Hochland: Radioaktivist Tino in Aktion (Fotos: Voces Nuestras)

1944 hatten die Guatemalteken den letzten einer langen Reihe von Diktatoren gestürzt. Bis dahin war Guatemala ein Feudalstaat gewesen, in dem Bäuerinnen und Bauern zur Arbeit auf den Kaffee- und Bananenplantagen gezwungen wurden und Arbeiter*innen kaum Rechte hatten. Die folgenden zehn Jahre der beginnenden Demokratie gelten bis heute als der „guatemaltekische Frühling“, eine Zeit des Aufbruchs, der Modernisierung. Nicht nur die Frauen erhielten das Wahlrecht, auch Analphabet*innen und damit ein Großteil des ländlichen und indigenen Guatemalas. Die demokratischen Regierungen machten sich an die Arbeit: Über den Ausbau der Universitäten, den Aufbau eines Gesundheitssystems, durch Bildungsreformen und Infrastrukturprojekte sollte Guatemala in das 20. Jahrhundert katapultiert werden.

Die Pläne für eine Landreform berührten jedoch direkt die Interessen der Großgrundbesitzer und des US-amerikanischen Bananenkonzerns United Fruit, bekannt vor allem durch seine Marke Chiquita. United Fruit kontrollierte damals riesige Ländereien in Guatemala und hatte beste Verbindungen zur US-Regierung des damaligen Präsidenten Dwight D. Eisenhower und zur CIA. Der Putsch gegen den gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz kam schließlich im Juni 1954.

Die Militärs ergriffen mit US-Unterstützung für Jahrzehnte die Macht und gingen gegen Widerstand zunehmend brutal vor. In den 1970er Jahren vernichteten politische Morde einen Großteil der intellektuellen Klasse von Guatemalas, in den 1980er Jahren wurde das Land Schauplatz des schlimmsten Völkermordes der westlichen Hemisphäre seit dem Zweiten Weltkrieg – mit über Hunderttausend Toten, Verschwundenen, Vertriebenen.

Gerade auf die indigene Beteiligung am Aufstand reagierte die Militärdiktatur mit brutalster Gewalt. Ilom, Chel, Chisis, Acul, Río Negro, Sacuchum Dolores, San José und San Antonio Sinaché: es sind heute nicht nur Namen von indigenen Dörfern, sie stehen auch für die Massaker, die Guatemalas Armee und Todesschwadronen an der indigenen Bevölkerung begangen haben. Vor allem ein Name steht für die Gräueltaten der jahrzehntelangen Militärdiktatur: Efraín Ríos Montt. Als Junta-Chef von 1982 bis 1983 soll er mindestens elf Massaker an indigenen Dorfgemeinschaften befohlen haben.

Die guatemaltekische Politik hat jedoch bis heute kaum ein Interesse, die Konfliktursachen anzugehen, geschweige denn Verantwortung für die vom Staat begangenen Verbrechen zu übernehmen. Doch ein Staat, der seine Kriegsverantwortung nicht anerkennt, kann kaum den Frieden gestalten. Rafael Herrarte, dessen Jugend durch die Morde der Militärs geprägt war, ist heute Chef des Forensischen Institutes CAFCA. CAFCA hat nach dem Friedensschluss vor 20 Jahren, auch mit europäischer Unterstützung, Dutzende Massengräber aufgespürt und untersucht. Die meisten Massaker hatte die Armee angerichtet, in den Gräbern liegen die Skelette vieler Kinder. Viele Frauen waren vor ihrer Ermordung vergewaltigt worden. Wunden, die nur schwer verheilen.

In den 1990er Jahren änderte sich die Lage. Guatemala war aufgrund der Schreckensmeldungen international zunehmend isoliert. Dies ging der dominierenden Unternehmer- und Großgrundbesitzerkaste, den ehemals großen Unterstützern der Militärdiktatur, zunehmend ans Geld. Um wieder Geschäfte machen zu dürfen, musste der Staat auf internationalem Parkett wieder eine gewisse Legitimität zurückgegeben werden. Dazu musste man den Frieden schließen.

Während die einen zurück zu internationalen Märkten wollten, wollten Hunderttausende andere zurück auf ihr Land, zurück nach Hause, zurück zu ihren Familien. Frieden war in den 1990er Jahren die Antwort für alle. 1991 endlich begann Guatemalas Regierung unter Aufsicht der Vereinten Nationen in Mexiko und Skandinavien mit der URNG-Guerrilla zu verhandeln. Im Dezember 1996 wurden schließlich zwölf Friedensabkommen unterzeichnet. Auch César Saloj kann sich noch gut an jenen Tag erinnern. „Wir wohnten damals an der Interamericana, auf der tausende Flüchtlinge in unzähligen Bussen aus dem mexikanischen Exil zurückkehrten. Wir haben Transparente gemalt, wo drauf stand: ‚Willkommen zu Hause, Brüder und Schwestern!’. Wir haben Mandelmilch und Sandwichs verteilt. Mein Vater war sehr bewegt, er ging stundenlang von Bus zu Bus und hieß alle Willkommen. Aber wir Kleinen wussten nicht mal, warum all diese Menschen weggegangen waren.“

„Das sind keine Märchen, das ist wirklich passiert in Guatemala.“


Die zwölf Friedensabkommen handeln von Menschenrechten, von demokratischen Verfassungsreformen, von der Rückführung der Flüchtlinge und der Wiedereingliederung der Guerillakämpfer in die Gesellschaft. Sie versprechen Landreformen, ländliche Entwicklung und indigene Rechte, um die Ursachen des Konfliktes anzugehen. Eine Wahrheitskommission sollte die im Bürgerkrieg von allen Seiten begangenen Verbrechen aufklären. Unter dem Vorsitz des deutschen Völkerrechtlers Christian Tomuschat kam die Kommission 1999 zu dem Ergebnis, dass 93 Prozent der Gräueltaten von der Armee begangen worden und 83 Prozent der Opfer Indigene waren.

Alberto Ramirez, genannt Tino, stammt aus einer Maya-Familie. Als Tinos Vater Anfang der 1980er Jahre von der Armee verschleppt und ermordet wurde, flohen Mutter und Tino zu der Guerilla in die Berge. Aus dem heranwachsenden Tino wurde ein Guerillero – und kämpfte gegen Rassismus und ungleiche Besitzverhältnisse. Aber Tinos Waffen waren weder Gewehr noch Dynamit, sondern ein Mikrofon und ein Fahrrad. Anfang der 1980er war der Guerilla klar geworden, dass sie ein eigenes Medium brauchte – um aufzuklären, anzuklagen, zu mobilisieren. „Mich hat man über die Grenze nach Mexiko geschickt“, erzählt Tino. „Von dort aus habe ich produziert und die Tonkassetten mit dem Fahrrad nach Guatemala geschmuggelt, die wir dann vom Vulkan gesendet haben“. Neun Jahre lang sendete La Voz Popular von den Hängen des Vulkans Tajumulco. Für Tino war das Guerilla-Radio ein Sprachrohr der Stimmlosen, das von den Mächtigen als Bedrohung empfunden wurde. Mehrere Militäroffensiven am Vulkan waren die Folge. Doch der Friedensschluss 1996 bedeutete das Ende von La Voz Popular. Heute lebt der mittlerweile 50-jährige Tino in der Nähe von Quetzaltenango, der zweitgrößten Stadt Guatemalas. Radio macht er weiterhin. Nach dem Friedensschluss gründete Tino zusammen mit anderen ehemaligen Guerillafunker*innen die NGO Mujb’ab’l Yol. Hier produzieren Jugendliche kulturelle, bildungsorientierte und politische Programme. Dem Senderverbund Mujb’ab’l Yol gehören mittlerweile 26 Community-Radios im Hochland an.

„Es kann keine Demokratie ohne freie Meinungsäußerung geben und ohne freie Medien keine freie Meinungsäußerung“, sagt Tino und fügt hinzu: „Aber Sprachrohre der Stimmlosen, die sind auch in sogenannten Demokratien für die Mächtigen eine Bedrohung.“ In Guatemala gebe es eine herrschende Klasse, die nicht wolle, dass Indígenas ihre eigene Entwicklung gestalten. Community-Radios würden aber einen Beitrag zur lokalen Entwicklung, zur Kultur, zur Bildung, auch zur Mobilisierung der Menschen leisten. Vielleicht auch deshalb haben Guatemalas Regierungen nach Friedensschluss die Legalisierung von indigenen Radios verhindert und sie stattdessen kriminalisiert.

„Gestern, heute und immer“: Wandbild im Senderverbund Mujb abl yol

Die Provinz Zacapa liegt zwar im trockenen, heißen Osten des Landes, aber durch zwei große Flüsse ist Zacapa gleichzeitig wasserreich. In Flussnähe werden Bananen, Ananas, sogar Weintrauben angebaut, dazu Tomaten, Paprika und Maniok, die Viehwirtschaft hat große Bedeutung. Die Flüsse speisen sich aus den Bergen in der Umgebung von Zacapa. In  diesen Bergen arbeitet Pfarrer José Pilar Álvarez Cabrera. Die Gemeinde des 54-jährigen zählt 350 Einwohner*innen, fast alle sind Maya Chort’i, Indígenas aus den Bergdörfern.

Die Bergwälder sind bedroht, durch den Bevölkerungszuwachs, vor allem aber durch die Großgrundbesitzer, die hier seit Jahrzehnten abholzen. Heute sind nur noch 20 Prozent intakt. Das Wasser ist spürbar weniger geworden. Es waren die Chort’i-Gemeinden, die sich als erste gegen die Abholzung organisiert und dann mit der katholischen und der lutherischen Kirche eine „Ökumenische und soziale Koordination zur Verteidigung des Lebens” gegründet haben.

Die Bergwälder sollen endlich unter wirksamen Schutz gestellt werden – zum Nutzen aller. Doch was so einleuchtend erscheint, hat eine Welle von Gewalt ausgelöst, gegen die indigenen Gemeinden, in Form von Morddrohungen auch gegen Pfarrer José Pilar selbst. Profite aus illegalem Holzeinschlag scheinen wichtiger als Wasser für alle. Frieden in Guatemala sehe anders aus, meint José Pilar: „Die Friedensabkommen sollten ja die Ursachen des Konfliktes beseitigen – Diskriminierung, den Rassismus, die äußerst ungleiche Besitzverteilung. Aber das hat man schnell beiseite gelegt und die Regierung hat stattdessen einen neoliberalen Kurs eingeschlagen.“ Heute gebe es mehr gewaltsame Todesfälle als während des Krieges, fügt er hinzu.

„Alle haben ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt.“


Die Berglandschaft im Osten Guatemalas ist auch die Region, aus der Lorena Cabnal stammt. Sie ist Xinca-Indígena und Feministin. Schon in vorkolumbianischer Zeit habe sich der Machismo der Vorfahren gegen die Frau gerichtet, urteilt sie. Dann kamen Kolonialisierung und Kirche, später Diktaturen und die Aufstandsbekämpfungspolitik während des Bürgerkriegs. Aus Lorenas Sicht „haben sie alle ganz bewusst Gewalt gegen Frauen als Machtmittel eingesetzt. Der Neoliberalismus nach Kriegsende hat diese Situation sogar noch verschärft.“

Heute zählt Guatemala zu den Ländern mit den meisten Fallen von Femiziden auf der Welt: Fast 1.000 Frauen sind allein im letzten Jahr ermordet worden. Auch Lorena hat mehrfach Todesdrohungen erhalten. Die Friedensverträge haben den Frauen in Guatemala also nicht unbedingt etwas gebracht. Oder, vielleicht doch. Lorena verweist auf die heranwachsende, junge Generation, eine Generation, die wortwörtlich die Schnauze voll habe: „Es gibt neue Formen des Protests und neue künstlerischen Ausdrucksformen, Gesichter eines vielfältigen Widerstandes – und zwar sowohl in den Städten wie auf dem Land, in mestizischen wie indigenen Gemeinschaften. Diese neue Generation hat das Potenzial, in Guatemala tatsächlich etwas zu bewegen.“ Und auch Rafael Herrarte, der Chef des Forensischen Institutes CAFCA, sieht deutlich positive Entwicklungen: Die Wiederherstellung der Meinungsfreiheit, dass es heute viel mehr Raum gebe, sich zu organisieren, und etwas zu bewegen. Er verweist auf die Justiz, die in den letzten Jahren einige Militärangehörige zur Verantwortung gezogen hat.

Aber es ist größtenteils der Zivilgesellschaft zu verdanken, wenn sich in den 20 Jahren nach Friedensschluss etwas bewegt hat. Dazu gehören auch die massiven Proteste gegen die Korruption, die im letzten Jahr den Präsidenten Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin zuerst aus ihrem Amtssitz und schließlich ins Gefängnis beförderten. Aber wesentlich sozialer und gerechter, weniger rassistisch und sexistisch ist Guatemala bis heute nicht. Sechs von zehn Menschen leben in Armut, vier von zehn Kindern sind unterernährt. Menschen wandern in Scharen in die USA aus, zunächst wegen Armut und Perspektivlosigkeit, mittlerweile aufgrund der Gewalt. Heute sterben in Guatemala mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als zu Zeiten des Bürgerkrieges. Vielleicht wäre alles anders gekommen, so denken viele Guatemaltek*innen, hätten die USA nicht den guatemaltekischen Frühling weggeputscht, damals, vor über 70 Jahren.


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RADIO FÜR DIE REVOLUTION

 

 

Foto: Caroline Kassin

Es ist ruhig am Lago Budi. Das lärmende Santiago de Chile fühlt sich weit weg an: Fast 800 Kilometer liegen zwischen der Hauptstadt und dem See in der südchilenischen Region Araucanía. Vom Ufer aus sieht man, wie eine Gruppe Rinder schwimmend den See durchquert um eine der kleinen Inseln zu erreichen. Von irgendwo hört man Schafe, und im flachen Wasser am Ufer sucht ein Schwein nach Essbarem. Die Tiere laufen frei herum, Zäune sieht man hier selten. Es ist eine ungewöhnliche Landschaft. Der See ist nur durch eine schmale Landzunge vom Pazifik getrennt. Jahreszeitlich bedingt werden immer wieder große Mengen Salzwasser in den See gespült. Nicht alle Fische und Tiere vertragen das salzige Wasser. Den hunderten von Schwarzhalsschwänen scheint die Wasserqualität allerdings nichts auszumachen. Sie tauchen nach Wasserpflanzen, die im flachen Wasser des Budis gut zu erreichen sind. Der See ist höchstens acht Meter tief, an den meisten Stellen sogar noch flacher. Bei einer Fläche von fast 60 Quadratkilometern wirkt er ein bisschen wie eine riesige, salzige Pfütze.

Die meisten Menschen, die hier leben, sind Mapuche. Außerhalb der Orte Puerto Saavedra und Puerto Domínguez wohnen sie in Familien oder kleinen Gemeinschaften, viele von ihnen ziemlich abgeschieden. Zu bestimmten Zeiten gibt es einen Bus, aber die meiste Zeit ist man hier auf sich selbst gestellt. Einige Familien besitzen Autos, andere nehmen den Viehwagen oder gehen einfach zu Fuß, wenn sie irgendwohin müssen. Bis in den nächsten Ort kann das mehrere Stunden dauern. Wer von einem der Pick-Ups auf den staubigen Schotterpisten mitgenommen wird, hat Glück. Große Einnahmequellen gibt es hier nicht. Manchmal kommen ein paar Touristen, aber die meisten leben von kleinbäuerlicher Landwirtschaft und Tauschgeschäften.

Ivonne González und Julio Chehuin betreiben hier ein Radio. Ein paar Meter von ihrem Haus am Ufer des Lago Budi steht das  Häuschen mit Wellblechdach, von dem aus das kleine Team Werken Kurruf sendet. Ohne die Antenne wäre ein Radio mitten im dünn besiedeltem Mapuche-Land wohl undenkbar. Genau hier soll es stehen, nirgendwo würde es mehr Sinn machen, finden Ivonne und Julio.

Werken Kurruf ist Mapudungun, die Sprache der Mapuche, und bedeutet so viel wie Botschafter des Windes. Seit 2004 gibt es das indigene Radio. Damals, sagt Ivonne, seien die über hundert Mapuche-Gemeinschaften um den Lago Budi noch besser organisiert gewesen. Zu viele hätten sich seitdem vom Staat und seinen Angeboten für Mapuche einlullen und gegeneinander ausspielen lassen, der Zusammenhalt zwischen den Gemeinschaften sei nicht mehr derselbe. Aber das Radio gibt es noch, und Ivonne und Julio hoffen, dass ihre Arbeit etwas zur erneuten Solidarität zwischen den Gemeinschaften beiträgt.
Dass es den beiden um mehr geht, als um Musik und Entertainment wird schnell klar: „Über das Radio erzählen wir, wie sich der chilenische Staat unseren Gemeinschaften gegenüber verhält. Die normalen Medien berichten über uns Mapuche ja nur als Terroristen. Das glauben dann sogar viele unserer eigenen Leute“, sagt Ivonne. „Wir wollen zeigen, mit welchen Problemen es unser Volk zu tun hat, dass wir eine lebendige Kultur sind und dass wir kämpfen.“

Ivonne und Julio sind Mapuche, haben aber viele Jahre in Santiago gelebt. Jetzt wohnen sie in einem bescheidenen Häuschen mit Plumpsklo im Garten, wenige Meter vom Ufer des Lago Budi entfernt. Sie haben ein paar Hühner, ein Pferd läuft durch den Garten. Das könnte aber auch einer der Nachbarsfamilien gehören, denn auch hier sieht man keine Zäune.

Während er Mate aus einem Becher mit der Mapuche-Fahne trinkt, erzählt Julio, wie er selbst zu seiner indigenen Sprache zurückfand. „Eines Tages hörte ich, wie mein Vater mit jemandem auf Mapudungun sprach. Ich war völlig überrascht. Ich wusste, dass er Mapuche war, aber Mapudungun hatte ich zu Hause nie gehört.“ Dies sei die Geschichte vieler Mapuche-Familien, erzählt Julio. Besonders in der Region um den Lago Budi. Denn hierhin seien Ende des 19. Jahrhunderts, während der Besetzung des Mapuche-Territoriums durch den chilenischen Staat viele Familien geflüchtet. „Die Gewalt und Brutalität waren unglaublich. Unser Volk wurde so terrorisiert, dass es ein richtiges Trauma davongetragen hat“, berichtet er und reicht den Mate-Becher weiter. „Und aus diesem Trauma entstand eine Stille, in der sehr viel Wissen und Weisheit verloren gegangen ist. Dass mein Vater mit mir kein Mapudungun sprach, lag daran, dass er mich schützen wollte. Er sagte zu mir ‚Warum sollte ich dir Mapudungun beibringen, wenn sie uns deswegen töten?‘ Er wollte, dass ich mich chilenisiere, und entschied, mir kein Mapuche-Wissen weiterzugeben“.

Julio ist kein Einzelfall. Viele Mapuche haben die Sprache und das Wissen ihres Volkes nie kennen gelernt. Ivonne und Julio wollen nun das kimun mapuche, das Wissen der Mapuche vergangener Generationen, wiederbeleben. So sind viele der Programme und Beiträge des Radios auf Mapudungun oder erklären die Bedeutung bestimmter Wörter und Konzepte aus der Kosmovision der Mapuche. „Ich spreche im Radio auch über Ökologie, Landwirtschaft und Ernährung“, sagt Ivonne. „Und vom Buen Vivir und darüber, wie wir unser Land, das walmapu, schützen.”

In der Anfangszeit ging es viel darum, bei den Mapuche selbst um Akzeptanz zu werben, erzählt sie. Mit der Ratifikation der ILO-Konvention 169 konnte durchgesetzt werden, dass an den Schulen in der Region Mapudungun unterrichtet wird, doch viele waren damit zunächst nicht einverstanden. „Unsere eigenen Leute wollten nicht, dass man mit ihren Kindern auf Mapudungun spricht. Über das Radio haben wir dann zusammen mit den Lehrern versucht zu erklären, welche Bedeutung die Sprache für unsere Kultur hat und welche Vorteile es für die Kinder hat, ihre Sprache zu können. Wenn sie sich etwa auf Stipendien für Indigene bewerben wollen, ist das Sprechen einer indigenen Sprache oft Voraussetzung. Ich weiß nicht, ob es wegen der Stipendien geklappt hat, aber irgendwie haben wir sie überzeugt.“

Werken Kurruf ist ein Radio von Mapuche für Mapuche, um das indigene Selbstbewusstsein zu stärken. „Vielen hier war es nicht nur unangenehm, ihre Sprache zu sprechen und sich als Mapuche zu bezeichnen. Die Mädchen färbten sich sogar die Haare blond. Ein indigenes Gesicht und blonde Haare, das hat doch nichts miteinander zu tun! Dass das Quatsch ist, haben wir auch im Radio so gesagt“, erzählt Ivonne weiter. „Mit den Namen ist es dasselbe. Wir fragen unsere Zuhörer, was Namen wie Brian und Jonathan bedeuten. Warum gebt ihr euren Kindern keine Namen mit einer Bedeutung, die ihr versteht und die etwas mit euch zu tun hat? Mit der Zeit hat sich da wirklich etwas verändert und das Selbstbewusstsein der Leute ist gewachsen. Heute gibt es hier keine blonden Mädchen mehr und viele Kinder haben Mapuche-Namen.“

Es sind kleine, aber wichtige Erfolge. „Das Volk der Mapuche kämpft ununterbrochen für unser Fortbestehen als lebendige Kultur mit eigener Sprache, Bräuchen und Religion“, erklärt Ivonne. „Vieles ist schon verloren gegangen, infolge der Besetzung durch den chilenischen Staat und durch das Auftreten der katholischen und evangelikalen Kirchen. Die Evangelikalen wollen uns Mapuche glauben lassen, Mapudungun sei die Sprache des Teufels.“

Ivonne und Julio gehören auch zu denjenigen, die für die politische Unabhängigkeit der indigenen Gemeinschaften auf einem Teil ihres ursprünglichen Territoriums kämpfen. Vielen erscheint das aussichtslos; angesichts der langwierigen Prozesse, der wenigen Erfolge und dem immer noch repressiven und gewaltsamen Vorgehen des Staates gegen die Mapuche (siehe LN 503) ist das nicht erstaunlich. Dennoch kämpfen viele Gemeinschaften und Organisationen weiter. So auch das Radio Werken Kurruf. Für diese Bewegung ist die Rückgewinnung von Land und Autonomie der einzige Weg, ihre Identität dauerhaft zu verteidigen – der chilenische Staat, so meinen viele, versuche ja doch nur, sie zu assimilieren oder zu bekämpfen.

Die staatliche Repression richtet sich auch direkt gegen die Mapuche-Radios. Immer wieder kommt es zu Durchsuchungen, bei denen die technischen Gerätschaften von der Polizei mitgenommen und Mitglieder der Radios verhaftet werden. Der Staat macht es ihnen schwer, wo er kann. Der Weg bis zu einem legalen Radio ist lang und schwierig, es gibt keine finanzielle Unterstützung und bei kleinsten Gesetzesverstößen wird die Sendeerlaubnis wieder entzogen. „Der Staat versucht meistens, uns auf legalem Weg dran zu kriegen. Wenn ein Radio mit nur einem Watt mehr sendet als erlaubt, muss es dafür bezahlen. Dabei ist das Problem nicht das eine Watt mehr, es sind die Themen, über die wir reden und die dem Staat nicht passen“, sagt Ivonne.

Aber die Bewegung hält zusammen. „Als wir mal eine Landbesetzung gemacht haben, kamen viele unserer Leute mit Lebensmitteln zum Radio, damit wir bei der Besetzung versorgt waren“, erzählt Ivonne. „Das war ein wichtiger Schritt. Endlich wurden wir von unseren eigenen Leuten nicht mehr verurteilt. Es kamen sogar viele evangelikale Familien, die unseren Kampf unterstützen.“ Es ist Ivonne anzusehen, wie viel ihr das bedeutet.
Radio Werken Kurruf finanziert sich, wie viele der Mapuche-Radios, über Spenden und Einnahmen von Soli-Veranstaltungen in den Gemeinschaften. Das war nicht immer so, lange Zeit war einfach kein Geld da, um die Kosten des Radios zu decken. Julio ging deshalb 2011 nach Santiago de Chile, um dort Geld zu verdienen. Bei einer Bildungs-Demonstration raste jemand mit einem Auto in die Menschenmasse, Julio wurde eingeklemmt und verlor ein Bein. Die medizinischen Kosten und Julios eingeschränkte Beweglichkeit in den folgenden Jahren reduzierten auch die Aktivitäten des Radios. Nur mit Hilfe der venezolanischen Regierung, die wegen Julios Bekanntheit als Aktivist und indigene Führungspersönlichkeit von dem Unfall erfuhr und ihn für eine Behandlung und Reha ins Land holte, konnte er diesen Schicksalsschlag überwinden. Seit zwei Jahren sind Julio und Ivonne nun zurück. Doch die Probleme hören nicht auf. Erst vor Kurzem konnten sie die defekte Antenne ersetzen und sind nach einer erneuten Zwangspause wieder auf Sendung. Ans Aufgeben scheint dennoch keiner von beiden zu denken, zu wichtig sind ihnen das Radio und ihre politischen Ziele. „Das Radio ist ein sehr wertvolles Instrument. Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil jeder Strategie, denn Revolutionen können heute über die Medien gewonnen oder verloren werden“, sagt Julio und blickt sich nach seiner Krücke um. Die liegt mehrere Meter entfernt am Seeufer, wo sein Enkel Aukan – Mapudungun für Krieger – sie nach dem Spielen hat liegen lassen. Alleine wird Julio sie nicht zurückbekommen. Für Menschen, die auf eine Gehhilfe angewiesen sind, ist diese Gegend nicht gerade ideal.

Es ist eine schwierige Situation. Sowohl für Julio und Ivonne persönlich, als auch für das Radio und die Mapuche-Bewegung in Chile. Bei Radio Werken Kurruf versucht man, es möglichst leicht zu nehmen und das Beste daraus zu machen. „Es muss auch nicht immer alles Kampf sein“, sagt Ivonne mit einem Lachen. „Es muss auch Spaß und Unterhaltung geben, nicht wahr? Auch darum geht es bei unserem Radio. Wir senden viel Musik und Programme, einfach nur, damit die Leute eine gute Zeit haben. Das mögen sie eh am liebsten.”


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