DROHENDER GENOZID IN AMAZONIEN

Schon vor Corona machte Davi Kopenawa auf den Genozid der Yanomami aufmerksam (Foto: Alain GiA via flickr.com, CC BY-NC-ND 2.0)

Die Corona-Pandemie bedroht weltweit die Gesundheit und das Leben Hunderttausender, wenn nicht von Millionen von Menschen. Da es sich bei dem SARS-CoV-2 um ein neuartiges Virus handelt, ist die Weltbevölkerung nicht immunologisch auf die Krankheit vorbereitet. Für die globalisierte Welt ist dies eine neue Gefahr, es lebt fast niemand mehr, die oder der sich an die letzte große Pandemie, die Spanische Grippe von 1918 bis 1920, bewusst erinnert.

Weder Herdenschutz noch immunologisches Gedächtnis

Im amazonischen Tiefland ist dies anders. Viele indigene Gemeinschaften erinnern sich noch gut an regionale Grippe- oder Masernepidemien. So sind zum Beispiel die Yanomami im äußersten Norden Brasiliens erst in den 1960er Jahren in Kontakt mit der brasilianischen Gesellschaft getreten. Carlo Zaquini, ein italienischer katholischer Missionar, der seitdem mit den Yanomami arbeitet, erinnerte sich gegenüber dem britischen Guardian an die Epidemien: „Es war wie ein Bulldozer in der Glasfabrik. Alles ging zu Bruch.“ An einem Masernausbruch in den 1960er Jahren sind nach Schätzungen etwa neun Prozent der gesamten Yanomami-Bevölkerung verstorben, in manchen Dörfern starben 50 Prozent der Bevölkerung. Unter den Yanomami ist Anfang April mit dem 15-jährigen Alvanei Xirixana auch der erste Todesfall durch die Lungenkrankheit Covid-19 im Amazonasgebiet registriert worden. Am 14. Mai meldete das Sondersekretariat für Indigene Gesundheit (SESAI) für den brasilianischen Teil des Amazonasgebiets „301 indigene Fälle in ländlichen Gebieten“ und 19 Todesfälle.

Während der Eroberung des amerikanischen Kontinents durch europäische Kolonisatoren rafften Masern-, Grippe- und Pocken-Epidemien einen großen Teil der indigenen Bevölkerung dahin. Aber es gab auch Erreger, die von Amerika nach Europa kamen und dort großen Schaden anrichteten. Der bekannteste Fall ist wohl die Syphilis, die sich im frühen 16. Jahrhundert in ganz Europa ausbreitete.

Nicht nur alte und kranke Menschen zählen zur Covid-19 Risikogruppe

Die jetzige Pandemie, so befürchten viele, könnte für Indigene im amazonischen Tiefland ähnlich katastrophale Folgen wie die Infektionen während der Kolonisation haben. Wie in einem Artikel im US-amerikanischen Wissenschaftsmagazin Science erläutert, sollten Indigene deshalb grundsätzlich, neben Älteren und Menschen mit Vorerkrankungen, zu den Risikogruppen gezählt werden. Dies hat verschiedene Gründe. Einerseits ist die Gesundheitssituation der indigenen Bevölkerung Südamerikas meist sehr schlecht. Krankheiten wie Dengue, Gelbfieber, Tuberkulose, Malaria und HIV sind weit verbreitet. Aufgrund der Armut und der damit verbundenen Ernährungssituation sind nach Schätzungen der UN etwa die Hälfte aller über 35-jährigen Indigenen an Diabetes Typ 2 erkrankt. Ein großer Teil der Indigenen ist also gesundheitlich vorbelastet und wäre schon aus diesem Grund bei einer Infizierung mit dem neuartigen Corona-Virus besonders gefährdet.

Zum anderen ist die Gesundheitsversorgung für Indigene in entlegenen Regionen unzureichend. In vielen Gebieten Amazoniens haben die Menschen kaum Zugang zu Krankenhäusern. Insbesondere in Brasilien hat sich die Gesundheitsversorgung durch die Politik des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro drastisch verschlechtert. Aus ideologischen Gründen verwies der Präsident im Jahr 2019 rund 8.000 kubanische Mediziner*innen des Landes. Diese hatten in einem Programm der Arbeiterpartei PT in besonders entlegenen und armen Regionen des Landes gearbeitet. Vor allem Indigene hatten von dieser Gesundheitsdienstleistung profitiert, die nun, wo sie am dringendsten benötigt wird, nicht mehr besteht.

Die Regierung Bolsonaro hat die mögliche Gesundheitsgefährdung der Indigenen noch auf andere Weise massiv verstärkt. In einem viel kritisierten Schritt wurde Anfang des Jahres Ricardo Lopes Dias zum Abteilungsleiter der Indigenenbehörde FUNAI berufen, die für in Isolation lebende Indigene zuständig ist. Der neue Chef war früher Missionar der New Tribes Mission. Die 1942 gegründete evangelikale Organisation versucht Indigene – auch solche in freiwilliger Isolation Lebende – zu kontaktieren und zu missionieren. In den 1980er Jahren war sie zum Beispiel im paraguayischen Chaco aktiv und hat mit Gewalt Indigene der Ayoreo Totobiegosode in Lager verschleppt, zu Arbeit gezwungen und evangelisiert. Es gab mehrere Tote aufgrund von eingeschleppten Krankheiten.

Während der Abwesenheit des Staates helfen die Indigenen sich selbst

Die Nachfolgeorganisation der New Tribes Mission, Ethnos 360 – die auch in Deutschland aktiv ist, missionierte zuletzt im Vale do Javari. In dem noch verhältnismäßig ungestörten Regenwaldgebiet in der Grenzregion zwischen Peru und Brasilien leben die meisten unkontaktierten Gruppen. Bislang hatte die FUNAI die Missionar*innen dort immer wieder ausgewiesen, damit sie dort keine Krankheiten verbreiten. Viele befürchten, Ricardo Lopes Dias könnte als neuer Zuständiger für isolierte Indigene bei der FUNAI seinen ehemaligen Missionarskolleg*innen freien Zugang in das entlegene Tal gewähren – und damit praktisch einen Genozid auslösen. Indigene Gemeinden, die bereits Kontakt zur brasilianischen Gesellschaft haben, aber sich als Beschützer der isolierten Indigenen begreifen, zogen vor Gericht. Angesichts der Gefahr durch Covid-19 verwiesen Gerichte Ethnos 360 aus dem Schutzgebiet. Ob die fanatischen Missionar*innen sich an die weltlichen Gesetze gebunden fühlen, ist jedoch fraglich.

Doch nicht nur Brasilien, auch andere südamerikanische Staaten lassen die Indigenen Amazoniens weitgehend im Stich. „Die Situation ist wirklich sehr schwierig. Das Militär versagt bei den Kontrollen der Boote und Transporter. Auch die schleppend anlaufende Belieferung der Gemeinden mit Nahrungsmitteln und medizinischen Materialien geht ohne Schutzvorkehrungen vonstatten“, sagt Lizardo Cauper, Präsident der Indigenen Vereinigung zur Entwicklung im peruanischen Regenwald (AIDESEP) in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Dachverband Indigener des Amazonasbeckens (COICA), des Klima-Bündnisses und des Instituts für Ökologie und Aktions-Ethnologie. Der indigene Verband COICA hat deshalb 14 Forderungen an die Regierungen der Region geschickt, in denen unter anderem eine verbesserte Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen und Lebensmitteln für die indigene Bevölkerung in dieser Notsituation verlangt wird. Zudem müssten die Regierungen das weitere Eindringen von Bergbau-, Erdöl- und anderen nicht-indigenen Arbeiter*innen in die Schutzgebiete stoppen, um die Ausbreitung der Epidemie zu unterbinden.

Viele Gemeinden helfen sich in dieser Situation vor allem selbst. In Ecuador warnen stärker in die Nationalstaaten integrierte Indigene die isolierteren Gemeinschaften vor der Pandemie, über Crowdfunding werden Hilfsleistungen finanziert. Im Gebiet des Tapajós, im brasilianischen Teil des Amazonasbeckens, hat die Frauenorganisation der Munduruku die Informationen zum neuen Corona-Virus selbst übersetzt und über Radio und WhatsApp in den Dörfern verbreitet – eigentlich eine Aufgabe der Indigenenbehörde FUNAI. Die Munduruku haben sich – wie viele andere indigene Gruppen auch – eine Selbstisolation verordnet, um der Epidemie zu entgehen. Eines der größten Treffen indigener Gruppen Brasiliens, das Acampamento Terra Livre („Freies Land-Camp“, Anm. d. Red.), fand zwischen dem 27. und 29. April nur online statt. In dem Abschlussdokument der Veranstaltung werden Krankheiten als „die wichtigste biologische Waffe“ zur Vernichtung der indigenen Bevölkerung Brasiliens genannt und die aktuelle Regierungspolitik Jair Bolsonaros als „institutionalisierter Genozid“ bezeichnet. In 21 Punkten fordern die beiden Dachverbände Artikulation Indigener Völker Brasiliens (APIB) und Indigene Nationale Mobilisierung (MNI) darin unter anderem einen Ausbau der für die Bewältigung der Pandemie notwendigen Infrastruktur, einen verbesserten Zugang zu Schutzmaterial für alle Menschen in indigenen Gemeinschaften und die Rücknahme jüngster Erlasse der Regierung Bolsonaro, die die Invasion indigener Gebiete entkriminalisieren.

Regenwaldschutz bedeutete auch Pandemieschutz

Die Folgen der katastrophalen Amazonaspolitik der Regierung Bolsonaros werden durch die Pandemie noch verstärkt. Bergbau, land- und holzwirtschaftliche Nutzung, der Bau von Wasserkraftwerken – all dies will Bolsonaro in den Regenwaldgebieten Amazoniens erleichtern, um Wirtschaftswachstum und „Entwicklung“ zu bringen, die jedoch wenig Vorteile für die lokale Bevölkerung bietet. In verschiedenen Gesetzesinitiativen hat er die Schutzbestimmungen für indigene Schutzgebiete geschwächt oder aufgehoben. Holzhändler*innen und Garimpeiros – also Menschen, die mit einfachen Methoden Edelmetalle schürfen und fördern – strömen seitdem in die indigenen Gebiete, wo es immer häufiger zu Konflikten kommt. Dabei berufen sich die illegalen Eindringlinge darauf, dass Präsident Bolsonaro auf ihrer Seite stehe.

In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind nach Angaben der brasilianischen Raumfahrtbehörde INPE um 51 Prozent mehr Waldflächen zerstört worden, als im ersten Trimester der Vorjahre. Aus Angst vor der Epidemie arbeiten auch staatliche Behörden, die die illegalen Rodungen unterbinden sollen, weniger intensiv – was die Arbeit von Kriminellen, die den Wald zerstören, enorm erleichtert. Dabei ist der Schutz indigener Gebiete die beste Garantie für den Erhalt des amazonischen Regenwaldes mit seiner wichtigen Rolle für das Weltklima, wie zahlreiche Studien belegen.

Hinzu kommt: Die Zerstörung von Regenwäldern bringt uns in Kontakt mit neuen Krankheitserregern. Das Corona-Virus ist höchstwahrscheinlich von Fledermäusen auf den Menschen übertragen worden. Einer Studie von 2008 zufolge sind 60 Prozent der neuen Krankheiten zwischen 1960 und 2004 von Tieren auf Menschen übertragen worden, zum Beispiel die Nipah-Krankheit in Südostasien und Ebola in Westafrika. Durch die Verkleinerung ihrer natürlichen Habitate geraten Wildtieren häufiger in Kontakt zu Menschen und übertragen so leichter Krankheitserreger – über Nutztiere, Moskitos oder direkt – auf den Menschen. Die nächste Pandemie könnte aus Amazonien kommen – als Folge der Zerstörung des Regenwaldes.

DER SEE SPIEGELT LEBEN UND ZERSTÖRUNG

© Marahu Filmes

Die Kamera dreht sich langsam nach unten, Himmel und Wasser treffen aufeinander, dazwischen  ein riesiger Staudamm. Es ist der Tucuruí-Staudamm, 78 Meter hoch und 6,5 Kilometer lang, gebaut während der brasilianischen Militärdiktatur. Fernando Segtowick und seine Filmcrew begleiten in O Reflexo do Lago das Leben der Amazonasgemeinde Tucuruí mit dem angrenzenden Stausee. Wir lernen die Gemeinde kennen und erfahren wie sich ihr Leben und die Landschaft durch den Staudamm geändert haben.

Zurück im Jahr 1974. Der General und brasilianische Präsident Ernesto Geisel bestätigt das Tucuruí-Projekt und die Arbeiten am Damm beginnen im darauffolgenden Jahr. Durch den Staudamm “bildete sich ein See von 170 Kilometer Länge mit einer durchschnittlichen Breite von 17,3 Kilometern. Das Wasser überschwemmte ein Gebiet von 2875 Quadratkilometern, also die fünffache Fläche des Bodensees” wie Andreas Missbach bereits in den LN 315/316 berichtete. Zehn Jahre später ist der Staudamm fertig gestellt, aus der Gemeinde mit ehemals 8.500 Menschen ist inzwischen eine Stadt mit mehr als 60.000 Menschen geworden. Mehr als die Hälfte des durch den Staudamm gewonnenen Stromes wird für die Produktion von Aluminium verwendet.

© Marahu Filmes

Gefilmt wurde in schwarz-weiß. Die Zuschauer*innen fahren mit dem Regisseur in einem Motorboot, besuchen Anwohner*innen und sehen Häuser und Regenwald an ihnen vorbeiziehen. Hinter der augenscheinlich schönen Natur finden sich die Schäden des Staudamms: Zerstörter Wald und circa 4.000 umgesiedelte Familien. Aber die Stadt Tucuruí hat sich weiterentwickelt. Trotz der Zerstörung und der Schwierigkeiten im Ort, sehen wir wie Kinder zusammen lernen und tanzen, Menschen Fußball spielen und auf Partys gehen. Durch Radiosendungen, Interviews und alte Fernseh-Clips zeigt Segtowick den Alltag der Bürger*innen und die Zerstörung, die sie erlebt haben.

Doch der Film läßt etwas zu wünschen übrig, denn die Geschichte des Staudamms wird kaum erwähnt, meist sollen die Bilder für sich sprechen. Mit 79 Minuten ist der Film kurzweilig, doch die vielfältigen Themen wurden nur angeschnitten und so manch drängende Frage blieb unbeantwortet. Was bleibt ist der Eindruck von Gewalt gegen die Natur und ein Beispiel katastrophaler Auswirkungen der Staudamm-Industrie.

WIDERSTAND IN AMAZONIEN

Wächter des Waldes Die Guardiões da floresta kämpfen gegen Abholzung des Urwaldes (Foto: survivalinternational.org)

 

Zunächst hatte keine öffentliche Behörde sich des Falls Jorginho Guajajara angenommen. Dann behauptete die Polizei aus der naheliegenden Stadt Arama, dass der Mann durch Ertrinken umgekommen sei. Die Guajajara-Gemeinde bestreitet das heftig und hat nun auf föderaler Ebene die Polizei hinzugezogen, die den Körper exhumiert, um erneut zu überprüfen, unter welchen Umständen der Guajajara-Führer umgekommen ist. Erst Ende September kann mit Ergebnissen der Untersuchung gerechnet werden.

Für die Guajajara ist sicher: Es war Mord – und nicht der erste. Im Konflikt mit den illegalen Holzfäller*innen seien seit dem Jahr 2000 rund 80 Gemeindemitglieder umgebracht worden, berichten sie. Die meisten Toten haben sie am selben Ort oder in der Umgebung gefunden, eben­falls mit gebrochenem Genick. Dort, in der Nähe des Flusses, verläuft die Grenze zwischen der Gemeinde der Guajajara und der Gemeinde Arama.

Allein im Jahr 2016 wurden drei Guardiões durch die Holzmafia getötet

Mit Jorginho Guajajara hat es einen Anführer der Gemeinde getroffen, der besonders aktiv gegen die Holzmafia gewesen war. Der 56-Jährige war Teil der Widerstandsgruppe Guardiões da floresta („Wächter des Waldes“), die seit Jahren gegen das Abholzen des Urwalds kämpft. „Wir patroullieren, wir finden die Holzfäller, zerstören ihre Arbeitsgeräte und schieben sie ab“, sagte einer von ihnen ohne seinen Namen zu nennen im Mai gegenüber der Nichtregierungsorganisation Survival International, die sich für die Rechte indigener Völker einsetzt. „Wir haben viele Holzfäller gestoppt. Es funktioniert.“ Im Mai erst hatten die Guardiões eine Bande von Holzfäller*innen überwältigt und deren mit illegal gefälltem Holz beladenen Wagen in Brand gesetzt. Laut dem Onlineportal IHU waren diese Holzfäller*innen eine polizeilich gesuchte Bande, die von den Guardiões gefangen genommen und später einer bewaffneten Einheit der brasilianischen Umweltbehörde Ibama übergeben wurden.

Ein Video des brennenden Trucks schickten die „Wächter des Waldes“ an Survival International mit der Bitte um Verbreitung. Sie berichteten in diesem Zuge von mehreren durch die Holzmafia gelegten Bränden im Wald und von immer wieder neuen Morddrohungen gegen die Guajajara. Allein im Jahr 2016 wurden drei Guardiões durch die Holzmafia oder deren Auftragsmörder*innen getötet, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei eventuell um dieselben Personen handeln könnte.

Das Gebiet Araribóia, in dem die Guajajara wohnen und wo die Holzmafia rodet, gilt als eines der bedrohtesten in Amazonien, was die Vernichtung des Urwaldes betrifft. 70 Prozent des Gebietes wurden laut dem staatlichen Forschungsinstitut INPE bereits abgeholzt. Dabei leben in dieser Region auch einzigartige Tiere und Pflanzen, die es nirgendwo sonst in der Amazonas-Region gibt.

Eigentlich steht das Gebiet unter Natur- und Erhaltungsschutz, doch faktisch tut die brasilianische Regierung nichts, um das zu kontrollieren, geschweige denn durchzusetzen. Die Guajajara beklagen, dass die Holzfäller*innen und ihre Auftragsmörder*innen straffrei bleiben. Im Sommer 2017 reiste eine Gruppe der Wächter*innen in die Stadt Imperatriz und besetzte Büroräume öffentlicher Behörden, um gegen die Untätigkeit der Regierung zu protestieren. Mehrere Nichtregierungsorganisationen kritisieren, dass eine enge Verbindung zwischen der Holzmafia und der Politik besteht, sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene. Die Mafia sei „agressiv, mächtig und bewaffnet“, so Stephen Corry, Vorsitzender von Survival International.

„Die Arbeit der Wächter ist extrem mutig und unglaublich riskant“, meint auch Sônia Guajajara, ebenfalls eine führende Persönlichkeit der Gemeinde, die sich brasilienweit in Verbänden engagiert und die bei den nächsten brasilianischen Präsidentschaftswahlen in Brasilien für die sozialistische Partei PSOL als Vizepräsidentin kandidieren wird. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagte sie kurz nach dem Tod von Jorginho Guajajara: „Das ist nur einer der vielen Morde in Maranhão, der deshalb verübt wurde, weil indigene Völker ihr Land gegen Rodung schützen.“ Sie wolle die Untätigkeit der Regierung nicht länger hinnehmen, sagte die Politikerin.

Den Guardiões geht es auch um den Schutz der benachbarten Gemeinde der Awá, die jeden Kontakt mit Menschen außerhalb des Amazonas zurückweist und sich selbst nicht in der Lage sieht, der Holzmafia entgegenzutreten. Viele Awás wurden in den 1990er Jahren von Auftragsmörder*innen erschossen, einmal mehr vermuten sie die Holzmafia dahinter. „Die Awá sind unsere Verwandten und können nicht überleben, wenn ihr Wald vernichtet würde“, sagt einer der Guardiões. „So lange wir leben, kämpfen wir weiter für uns alle hier. Für die, die hier leben, und für die Natur.“

Besonders schwierig festzustellen ist, für welche Firmen die illegalen Holzfäller*innen in der Region von Araribóia roden. Die organisierten Morde und die Straflosigkeit, das Stillschweigen der brasilianischen Regierung, scheinen zumindest auf Geldmittel hinzuweisen. Neben der Holzmafia gibt es auch illegale Jagdaktivität, gegen die brasilianische Autoritäten genauso untätig bleiben. Auch Jäger*innen gefährden sowohl das Naturschutzgebiet als auch das daran gebundene, kulturelle Leben der dort ansässigen Gemeinden.

Trotz des Mordes an Jorginho Guajajara scheinen die Gemeinde und die Wächter des Amazonas jedoch nicht aufzugeben. Im Gegenteil: Sie gehen gezielt an die Öffentlichkeit. Die Guardiões haben auch eine Email-Vorlage verfasst, die Unterstützer*innen an die brasilianische Regierung schicken können, um sie zum Handeln aufzufordern. Bis jetzt wurden über 18.000 solcher Mails verschickt. Mit Sônia Guajajara steht weiterhin eine starke Persönlichkeit an ihrer Spitze, die für mehr Öffentlichkeit sorgen kann, auch wenn sie als Kandidatin der PSOL derzeit wegen des Wahlkampfes nicht mehr vor Ort ist.

WEISSE SIND KRANK

In dem Buch Der letzte Herr des Waldes zeigt Madarejúwa dem Deutschen seine Welt. Es ist eine Welt der Tiere und der Jagd, eine Welt alter Bräuche und Sagen. Madarejúwa spricht durch Fischermann zu den Leser*innen. Der wenig präzise Titel dient wohl eher dem Verkauf des Buches. Fischermann betrachtet die Geschichten unter anderem „als eine Gebrauchsanweisung für den Regenwald“. Madarejúwa scheint grenzenlose Kenntnisse über Pflanzen- und Tierarten zu haben, aber auch kulinarisch weiß er bescheid: vom Raubfisch Trairá bis zum Skalare aus der Gattung „Pterophyllum“. Ausführliche Anmerkungen, inklusive Verweise auf wissenschaftliche Literatur, erklären vieles und unterziehen manche Aussagen Madarejúwas oder anderer Tenharims einer kritischen Überprüfung.

Es gelingt Fischermann dabei, nicht in ein eurozentrisches Muster des aufgeklärten Europäers zu fallen. Er macht das Unrecht und die Bevormundung deutlich. Dass das Buch vereinzelt von der zeitgemäßen Wortwahl „indigene Völker“ abweicht, wird so erklärt: Der Begriff „índio“, also Indianer, habe im Portugiesischen, anders als im Spanischen, keine negative Konnotation. Die staatliche Behörde für den Schutz der indigenen Völker heißt tatsächlich „Fundacao Nacional do Índio“. Madarejúwa sage „índio“ und manchmal „Indigener“. Er betrachte keines der Wörter als abwertend.

Fischermann ist nicht der erste Weiße, der in das Gebiet der Tenharim eindringt, wenn gleich einer der wenigen, die dies mit friedlicher Absicht tun. Als Anfang der 1970er Jahre unter Brasiliens Militärdiktatur der Bau der Transamazonica-Straße quer durch den Regenwald begann, starben viele Tenharim. „Die Transamazonica brachte die Krankheiten der Weißen. Ein Verwandter nach dem anderen wurde mit Masern, Keuchhusten, Malaria und Lungenentzündung angesteckt, sie starben nach fünf oder sechs Tagen. Diese Krankheiten hatte es vorher nie gegeben, und wir hatten keine Medizin, nicht die Medizin der Weißen“, sagt Madarejúwa.

Seit dieser Zeit haben die Tenharim keine Schamanen mehr. Der letzte konnte sein Wissen nicht weitergeben, bevor er starb. „Es bedeutet, dass wir nie wieder einen Schamanen haben werden, denn Schamanen werden nicht einfach geboren“, sagt Madarejúwa. Jetzt gebe es nur noch einen, „der die Geister sehen kann“: Topeí, „ein Enkel von Ariu’vi, dem größten Schamanen der Tenharim. Topeí sollte der nächste Schamane werden, doch am Ende blieb keine Zeit.“

Madarejúwa ist Anfang 20. Er kennt die Außenwelt,ist eine Weile in der Stadt zur Schule gegangen und spricht Portugiesisch. Die naturverbundene Lebensart vermischt sich mit der von draußen. Früher hätten die Tenharim mit Hilfe einer Schlingpflanze namens Y’po Feuer gemacht. Heute kauften sie Streichhölzer von den Weißen.

Madarejúwas Großvater sei darüber verärgert, dass viele Tenharim sich der Kultur der Weißen annäherten. „Er sagt, dass die Weißen krank sind und die Welt anstecken, dass sie selber eine Krankheit sind. Sie bestehe darin, „dass sie die Erde zerstören und dann verscherbeln.“ Bis eines Tages selbst die Mücken nicht mehr sicher sind…

VON UND MIT AMAZONIEN LERNEN

„Zu welchem Ende betreiben wir Kapitalismuskritik?“, fragte Elmar Altvater in seiner Abschlussvorlesung am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. „Wir betreiben sie in praktischer Absicht, weil wir die Welt verändern müssen, wenn wir wollen, dass sie bleibt. Die Geschichte ist nicht am Ende. Es gibt Alternativen.“ Das ist jetzt über 14 Jahre her. Und man kann es wie das Motto eines ganzen Lebens lesen.

Mit Elmar Altvater ist einer der großen kritischen Marxist*innen Europas gestorben. Sein Werk wurde in vielen Nachrufen gewürdigt, wenig beachtet blieb aber die Rolle, die Brasilien in seinem Werk und die er für Brasilien spielte. Insbesondere die Amazonasregion war für die Entwicklung seines globalisierungskritischen Ansatzes von großer Bedeutung.

Altvater hat viele Monate seines Lebens in Brasilien verbracht, zunächst als Gastprofessor in Belém, dann durch zahlreiche Einladungen zu Vorträgen und Symposien. Er sprach gut Portugiesisch. Gerne wird von denen, die während seines ersten Brasilienaufenthalts mit ihm zusammentrafen, folgende Anekdote kolportiert: Nachdem er am Vorabend seines ersten Vortrags darauf hingewiesen wurde, dass er seine Rede doch besser auf Portugiesisch halten solle, wurde er kurz bleich, verabschiedete sich höflich in den frühen Abend – und hielt am nächsten Tag seinen Vortrag in durchaus verständlichem Portugiesisch.

Wie so oft widmete er sich dabei Amazonien. Dabei stellte er die Kategorie der „Inwertsetzung“ in den Mittelpunkt seiner Analyse. Er verließ damit die traditionelle Perspektive auf „Entwicklung“, um dergestalt einen kritischen Blick auf das Verhältnis von Weltmarkt und einer peripheren Region zu werfen. Wichtig ist, dass sich Altvater nicht auf den abstrakten Sachzwang Weltmarkt – so der Titel seines Buches mit der Fallstudie zu Amazonien – beschränkte, sondern die konkreten Auswirkungen auf die Region Grande Carajás in den Blick nahm. Dort wurde 1967 das weltgrößte Eisenerzvorkommen entdeckt, dessen generalstabsmäßige Ausbeutung ab den 1980ern in die Wege geleitet wurde – mit allen sozialen und ökologischen Konsequenzen. Altvaters Verbindung von territorialer Analyse mit den Mechanismen des Weltmarkts macht das Buch noch heute lesenswert, vor allem in Zeiten, in denen sich die Debatte um Amazonien oftmals auf das Problem Entwaldung reduziert.

Altvater stellte die Frage nach den „gesellschaftlichen Naturverhältnissen“ neu: Die stoffliche Basis und das Energiemodell des Kapita­lismus waren für sein Werk zentral. Er sah damit die Grenzen des Kapitalismus nicht nur in der krisenhaften Kapitalakkumulation, sondern in dessen Verhältnis zur Natur. Aber als Marxist ging er viel weiter, als nur die Naturzerstörung zu beklagen, vielmehr insistierte er auf der Analyse der ökonomischen Logik, die dieser Zerstörung zugrunde liegt. Und er hörte auch nie damit auf, den Kapitalismus zu kritisieren und diesen als Ursache für die Zerstörung der natürlichen Grundlagen zu benennen – und nicht etwa verkürzt nur den Fleischkonsum oder die Rinderzucht.

Ebenso kritisierte er die extraktivistische Illusion, die Inwertsetzung durch Ausbeutung und Export von Rohstoffen betreibt. Dies produziere nur eine periphere Integration in den Weltmarkt und erzeuge Elend und Ausgrenzung. In den aktuellen Debatten in Lateinamerika bleiben Altvaters Analysen hochaktuell und in ihrem integrierten Blick auf ökonomische, soziale und territoriale Entwicklungen beispielhaft. Elmar Altvater ist am 1. Mai 79-jährig in Berlin verstorben. Ein großer Verlust, auch und nicht zuletzt für Amazonien.

REISE IN DIE TIEFE SEELE AMAZONIENS

Ex Pajé erzählt die Geschichte eines Kriegers, der außerhalb seiner gewohnten Umgebung, dem brasilianischen Amazonasgebiet, leben muss. Perera und seine Familie gehören zu den Paiter Suruí, einer indigenen Gemeinschaft, die jahrzehntelang im Regenwald nach ihrer eigenen Weltanschauung lebte, bis die Modernisierungswelle sie erreichte. Perera lebt jetzt umgeben von Handys, Waschmaschinen und anderen Objekten des Systems derWeißen Männer”. Er ist aber eigentlich ein Krieger und ehemaliger Schamane (portugiesisch: Pajé) der seine Gruppe durch das Amazonasgebiet leitete. Der Film entwickelt sich ausgehend von diesem Konflikt.

Die Gefahren im Urwald haben sich verändert. Heute muss Pereras Familie gegen das illegale Holzfällen kämpfen und die Beschwerden darüber mit Fotos auf Facebook posten. Dazu kommt die moderne Medizin: Früher hat der Schamane, also Perera, mit den Geistern des Waldes gesprochen, um seine Verwandten zu heilen, aber jetzt bekommen sie moderne Pillen für moderne Schmerzen. Um zu guter Letzt alles noch schlimmer zu machen ist auch noch die Heilige Katholische Kirche im Ort und hat ein strenges Verbot der Paiter SuruíWeltanschauung ausgesprochen, die als Teufelswerk verdammt wurde.

Perera bewacht nachts die Türen der Kirche und bekommt Besuch von den Dschungelgeistern, die ihn als Strafe für seine Unterwerfung unter das Verbot seiner Traditionen durch die Kirche schlagen. Aber etwas Unerwartetes geschieht in Pereras Familie und er muss die Entscheidung treffen, wieder ein Schamane zu werden, um seiner Gruppe zu helfen.

Diese Dokumentation des brasilianischen Regisseurs Luiz Bolognesi (u.a. Uma História de Amor e Fúria; Amazônia Desconhecida) wird bei dieser 68. Berlinale in der Sektion Panorama gezeigt. Die Geschichte trifft mit dem Konflikt des Protagonisten und der Herausforderung, der er begegnen muss, ins Herz der Zuschauer. Was den Film besonders macht, ist die Perspektive von Bolognesi: die Welt durch Pereras Augen zu sehen und seine Weltanschauung zu zeigen.

Spezielle Erwähnung muss der Filmsound bekommen: Er ist sehr wichtig. weil es die Sprache des Urwalds ist, der Perera ständig zuhört. Daher wurde hier richtig gut gearbeitet, um dem Publikum die mächtige akustische Präsenz Amazoniens nahezubringen.

Mit Ex-Pajé schafft Bolognesi etwas Wunderbares: Die orale Geschichte der Paiter Suruí durch Pereras Aktionen und Gespräche mit seinem Enkel aufzunehmen. Gedreht mit Empathie und Respekt zeigt die Dokumentation, wie wichtig es ist, die Natur zu verstehen und stellt auch die Frage, wie weit entfernt wir selbst in der “Westlichen Welt” von einer Beziehung mit der Natur sind.

Ex Pajé wurde auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama Dokumente gezeigt und erhielt neben einer Lobenden Erwähnung den Glashütte Original Dokumentarfilmpreis.

DER RUF DES WALDES

Fotos: Pororoca.red

Es ist Donnerstagabend. Morgen früh beginnt das achte Panamazonische Sozialforum (FOSPA) auf dem Gelände der Universität von Tarapoto, einer mittelgroßen Stadt im Nordosten Perus. Auf dem Campus wird noch eifrig gewerkelt: Bühnenbauer*innen verlegen Drainagen, streuen säckeweise Sägespäne und schimpfen auf den Klimawandel. Nach zwei Tagen tropischem Dauerregen steht im großen Veranstaltungszelt knöcheltief das Wasser. Techniker*innen verlegen trotzdem mutig Internetkabel. Internationale Freiwillige rücken Plastikstühle zurecht und machen die Scheinwerfer der Hauptbühne wasserdicht. Nun kann es eigentlich losgehen.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, müssen noch die Geister des Dschungels beschwichtigt werden. Es darf auf keinen Fall wieder regnen! Wie gut, dass das diesjährige FOSPA mit einem spirituellen Eröffnungsritual beginnt. Dieses findet nicht im doch recht lauten Tarapoto statt, sondern im benachbarten Dörfchen Lamas. Hier versammeln sich am Freitagvormittag etwa zweihundert Menschen. Die Aktivist*innen kommen aus Peru, aber auch aus den Nachbarstaaten Bolivien oder Brasilien. Und manch einer hat sogar eine weite Reise auf sich genommen und ist aus dem Kongo oder Haiti zum Forum angereist, um den internationalen Erfahrungsaustausch anzuregen. Europäer*innen sieht man hingegen kaum.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, zu der parkähnlichen Plaza, auf der die Zeremonie stattfindet. Es geht einen Hügel hinab und einen anderen wieder hinauf, mit spektakulärem Ausblick auf die nebelverhangenen Bergketten von Lamas. Als alle Kinder der Pachamama (Quechua: Mutter Erde) angekommen sind, werden sie herzlich begrüßt, um dann der Erde ihren Dank auszusprechen. Verbunden natürlich mit der Bitte, für gute Energie und gutes Wetter in den kommenden Tagen zu sorgen.

„Die Politiker sollten den Begriff ‚Gutes Leben‘ nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Und das hat gut geklappt! Auf dem Universitätsgelände von Tarapoto, dem Ort des eigentlichen Geschehens, strahlt am nächsten Morgen die Sonne vor einem wolkenlosen Himmel. Unter dem grünen Blätterdach eines großen Baumes steht ein weißes Zelt. Hier befindet sich das mobile Studio von La Nave Radio, einem Zusammenschluss von Medienmachenden aus dem Amazonasgebiet. In den Sendungen sollen Besucher*innen und Akteur*innen des Forums frei und ehrlich erzählen: was ihnen politisch wichtig ist, warum sie überhaupt hier sind oder welche Konflikte sich gerade in ihren Dörfern und Städten abspielen. La Nave Radio sendet live vom Forum, ist aber auch im Internet zu hören.

Gerade moderieren der Musiker Lucho und der Geschichtenerzähler Leonardo. Beide kommen aus Peru. Ihre Gemeinden Nieva und Nauta liegen am gleichen Fluss, dem Río Marañón, einem Quellfluss des Amazonas. Mit dem Mikrofon kämpfen sie seit Jahren gegen Ölförderung, Holzeinschlag und Infrastrukturprojekte in ihren Gebieten. Themen, die auch ihren heutigen Studiogästen Domingo und Elvia vom ecuadorianischen Indigenen-Dachverband CONFENIAE unter den Nägeln brennen: „Wir entwickeln gerade das Projekt ‚Cuencas Sagradas‘“, verrät Domingo dem Publikum. Übersetzt heißt das die ‚Heiligen Quellflüsse‘. Für ihren Schutz setzt sich CONFENIAE ein. Denn im Río Napo und Río Marañón liege der Ursprung der gesamten Artenvielfalt der Region. „Alle Bodenschätze dort müssen unangetastet bleiben!“, fordert Domingo. So neu klingt das nicht, sondern eher nach Yasuní. Bereits im Jahr 2010 erklärte sich Ecuador dazu bereit, kein Erdöl im Yasuní-Nationalpark zu fördern. Wenn, so die Bedingung, die internationale Staatengemeinschaft dafür Kompensationszahlungen leistete. Doch am Ende fehlte es an willigen Spendern, um die 3,5 Milliarden Euro zusammenzubekommen. Und die ecuadorianische Regierung vollzog eine Kehrtwende: Zwar wird offiziell weiter das „Buen Vivir“ gepredigt, das „Gute Leben“, bei dem Mensch und Natur im Einklang miteinander leben. Tatsächlich verkauft der Staat jedoch seit 2013 auch Förderlizenzen im Yasuní-Park. Die Indigenen sind nicht länger Verbündete. Domingos Mitstreiterin Elvia ist empört: „Von welchem Guten Leben spricht die Regierung, wenn Mutter Erde zerstört wird? Die Politiker sollten diesen Begriff nicht mal in den Mund nehmen dürfen!“

Vor dem Radio-Zelt von La Nave hat sich eine Menge gebildet, die gebannt zuhört. Auch nach der Sendung diskutieren die Zuhörer*innen mit Elvia und Domingo noch lange auf der Straße über den Vorschlag weiter: Würde sich China wirklich auf einen Schuldenschnitt mit Ecuador einlassen und so der Regierung Handlungsspielraum verschaffen? Was ist der im vergangenen Jahr von der UNO geschaffene Klima-Topf wert, wenn am Ende doch niemand einzahlt? Alles Fragen, über die in den kommenden Tagen noch zu reden sein wird.

Starke Frauen: Die Teilnehmerinnen verschaftten sich lautstark Gehör

Rund 1.500 Aktivist*innen, in der Mehrzahl Indigene, haben es zum Sozialforum nach Tarapoto geschafft. Auf die Beine gestellt wird das FOSPA von Vertreter*innen der Basisgruppen und NGOs aus allen teilnehmenden Ländern. Sie schicken Hilfskräfte und bringen so gut wie möglich ihre finanzielle Unterstützung ein. Wen man hier wenig sieht, sind Vertreter*innen aus den größeren Medien. Mitorganisatorin Leslie bedauert das. Zur FOSPA-Pressekonferenz, die im Vorfeld in Lima stattgefunden hat, seien wieder nur die „üblichen Verdächtigen“ gekommen: „Es ist sehr schwer, andere Medienvertreter für unsere Sache zu gewinnen,“ sagt sie und hofft, dass die peruanische Presse vielleicht in Zukunft auch mal gesellschaftspolitisch ambitioniertere Themen auf die Titelseite bringt, als den täglichen Einheitsbrei aus Korruption und Gewalt in den Städten. Doch bis es soweit ist, bleibt die Berichterstattung des FOSPA vor allem in den Händen von Community-Medien, allen voran La Nave Radio, mit ihren Moderator*innen aus dem Amazonasgebiet.

Im weißen Radiozelt macht derweil die Kolumbianerin Dora Muñoz von den indigenen Nasa die Situation in der südwestlichen Provinz Cauca zum Thema. Dora, selbst seit fünfzehn Jahren Medienmacherin, unterstreicht, wie wichtig es sei, dass Indigene selbst über ihre Realitäten berichteten – denn nur so würden Zusammenhänge klarer. Für die Nasa etwa habe sich seit den Friedensverträgen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla vieles geändert: „Einerseits wurde es ruhiger: Man hört keine Flugzeuge mehr, keine Bomben und keine Schießereien.“ Allerdings sei es zu früh, um von einem wirklichen Frieden zu sprechen. Für Dora handelt es sich eher um eine fragile Art von Befriedung. „Es gibt immer noch Morde und Morddrohungen. Auch in diesem Jahr sind bereits fünfzehn soziale Aktivisten ums Leben gekommen. Vertretern von Menschenrechtsorganisationen werden bedroht. Für die Regierung sind das Einzelfälle; doch es steckt ein System dahinter”.

Starke Frauen wie Dora sind auf dem Forum überall präsent.

Erst Mitte April ist Gerson Acosta, ein Sprecher der Nasa, an seinem Wohnort erschossen worden. Seine Gemeinde war bereits 2001 von Paramilitärs angegriffen und vertrieben worden. Es gibt Hinweise, denen zufolge diese bei ihrer Aktion von der kolumbianischen Armee unterstützt wurden. Und die Armee wiederum soll von rechten Unternehmer*innenkreisen dafür bezahlt worden sein. Alles, um sich das ressourcenreiche Gebiet der Indigenen unter den Nagel zu reißen: ein in Kolumbien nicht unüblicher Vorgang. Aktivist Acosta, der immer wieder Ermittlungen zu den Drahtzieher*innen gefordert hatte, war schon mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Schließlich hatte er sogar Personenschutz von der Regierung erhalten – und bezahlte doch mit dem Leben. Radiomacherin Dora Muñoz erzählt anschaulich von der Lage in den zuvor von den FARC (der größten kolumbianischen Guerilla) kontrollierten Gebieten, in denen sich jetzt Paramilitärs und Rebellen-Splittergruppen ungehindert breit machen. Doch die indigenen Nasa seien jetzt dabei, eine Gegenstrategie zu entwickeln. Im April hat eine Vollversammlung in Corinto stattgefunden. Dort haben die indigenen Gemeinden und Bäuerinnen und Bauern die Guardia Indígena wieder aktiviert, „mit dem Ziel, keine bewaffneten Gruppen mehr auf ihr Gebiet zu lassen“.

Starke Frauen wie Dora – sie sind auf dem FOSPA überall präsent. Am dritten Tag des Forums findet diesbezüglich noch mal ein Höhepunkt statt: „El Tribunal de las mujeres“ – das Tribunal der Frauen. Auf dem Podium in dem voll besetzten Hörsaal sitzen vier Feministinnen. Heute sind sie Richterinnen. Sie hören sich die Geschichten von kämpferischen lateinamerikanischen Frauen an, die ermordet wurden, deren Täter aber straflos bleiben – wie im Fall der honduranischen Umwelt-Aktivistin Berta Cáceres. Oder die akut vom Tode bedroht sind – wie die Kleinbäuerin Máxima Acuña. Ihre Ackerfläche liegt in der Provinz Cajamarca, im Nordwesten Perus. Mitten in einem Gebiet, in dem die Mega-Goldmine Conga entstehen soll. Wäre da nicht Máxima, die sich weigert zu gehen und ihr Land den Interessen des Extraktivismus zu opfern. Die Gewalt, der sie seitdem unterworfen ist, hat viele Gesichter: Zerstörung ihres Hauses und ihrer Anbauflächen, körperliche Angriffe auf sie und ihre Familie, sexualisierte Gewalt, Hetzkampagnen in der Presse und den sozialen Medien, und schließlich juristische Prozesse, die sie mürbe machen sollen. Zwar haben alle Instanzen bislang zugunsten der Campesina Máxima entschieden. Und für die Richterinnen des Tribunals ist klar: Der Staat muss Máxima vor den Interessen des Unternehmens schützen. Ob die Entscheidungsträger*innen das gehört haben? Vielleicht. Jedenfalls entschied der Oberste Gerichtshof einige Tage nach Ende des Forums im Interesse der Kleinbäuerin. Conga Ade! (siehe Kurznachricht in dieser Ausgabe) Vorerst jedenfalls.

Überzeugend: Interview mit indigener Aktivistin

Am 1. Mai ist Tag der Arbeit und zugleich der letzte Tag des Panamazonischen Sozialforums. Geregnet hat es in den ganzen Tagen kaum einen Tropfen, und auch die Energie der Teilnehmenden ist weiterhin gut. Im Hauptzelt werden vormittags die Beschlüsse der einzelnen Arbeitsgruppen vorgestellt und die „Charta von Tarapoto“ verlesen. Darin steht, dass der Kapitalismus, welcher sich aktuell in rücksichtslosem Rohstoffabbau und „grüner Ökonomie“ ausdrücke, im Amazonas die Rechte der Bevölkerung und der Natur in Frage stelle. Er bedrohe die Nachhaltigkeit indigener Territorien und die Ernährungssicherheit der Bevölkerung. In dem Abschlussdokument des diesjährigen FOSPA wird einmal mehr das „Gute Leben“ als neues Paradigma des Zusammenlebens angepriesen. In mehr als zwanzig Unterpunkten werden konkrete Ideen und ehrgeizige Forderungen formuliert: vom Ende der Monokulturen, über die bessere Verwirklichung von Minderheiten- und Frauenrechten bis hin zu einer neuen Beziehung zwischen ländlichen und urbanen Räumen.

Bei den Besucher*innen und auch bei La Nave Radio stehen die Uhren auf Abschied. Die letzten Sendungen werden gefahren, dann soll das Zelt abgebaut und eingepackt werden, bis zum nächsten Jahr. Dann soll das Forum in Kolumbien stattfinden. Da taucht Domingo von der CONFENIAE noch mal auf. Er lächelt für ein Gruppenfoto. Und erzählt von den Schritten, die er in den letzten Tagen unternommen hat, um das Schutzprojekt der Cuencas Sagradas auf die Beine zu stellen: „Wir haben hier mit vielen peruanischen Basisgruppen gesprochen. Anfang Juli werden wir uns in San Lorenzo, Peru, noch einmal alle zusammenfinden.“ Und bereits vorher soll es ein Treffen mit der ecuadorianischen Regierung geben. Im Herbst, bei dem Weltklimagipfel in Bonn, wird dann auch in Deutschland von den heiligen Quellflüssen und dem Schutz der Amazonas-Region die Rede sein. Gerade wegen der vielfältigen Probleme sei es unerlässlich, Ideen und Perspektiven zu entwickeln, die über nationalstaatliche Initiativen hinausgingen, sagt Domingo: “Wir müssen unsere Kräfte vereinen, uns die Hände reichen und endlich die Grenzen zwischen den Ländern vergessen. Das ist das Wichtigste.”

“DAS KINO AUS LIMA HAT MICH WÜTEND GEMACHT”

Álvaro Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)


Zum Einstieg folgende Frage: Warum machen Sie eigentlich Filme?
Diego Sarmiento: Jeder Künstler sucht einen Weg, seine Emotionen auszudrücken. In unserem Fall ist es ein glücklicher Zufall gewesen, dass wir beide das hier tun, und wir ergänzen uns dabei irgendwie gegenseitig. Ich glaube, dass wir glücklich sind mit dem, was wir machen, und diese Art von Festivals lässt die Inspiration
und die Lust aufs Filmemachen wachsen. Es ist wie Nahrung für die Seele und den Geist.

Woher kam die Idee für Ihren aktuellen Film?
DS: Vor fünf Jahren haben wir einen Workshop über Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche im peruanischen Amazonasgebiet gemacht und sind fast ein ganzes Jahr dort geblieben. Durch diesen Workshop lernten wir viele Menschen kennen und eben dadurch entstand unser Kurzfilm Hijos de la Tierra (Kinder der Erde), der 2014 in der Berlinale-Sektion ‚Generation‘ lief. Die Kinder, die in diesem Kurzfilm zu sehen waren, stellten uns ihre Familien vor und so kamen wir zu einigen der Protagonisten des Dokumentarfilms Rio Verde. Außerdem leben wir teils in Cusco und teils im Amazonasgebiet und haben innerhalb der letzten fünf Jahre viele Reisen gemacht. Aus dem ganzen Material ist der Film eigentlich in der Postproduktion entstanden. Álvaro hat zusammen mit unseren Videoeditoren im Schnitt den Film als Ganzes ermöglicht. Diese Phase hat sehr lange gedauert.

Was bedeutet der Titel Die Zeit der Yakurunas?
Álvaro Sarmiento: Es ist ein metaphorischer Titel. Die Yakurunas sind eigentlich Unterwassermenschen
aus einer Legende in Amazonien, aber dieser Film handelt nicht von Menschen, die unter Wasser leben, sondern von denen, die in der Nähe oder am Rande des Flusses leben. Es ist also ein poetischer Titel auf
Quechua, der uns gefallen hat, und gleichzeitig eine weitverbreitete Legende aus Amazonien mit hohem repräsentativen Wert. Daher haben wir uns für diesen Titel entschieden.

Sie haben Lima zugunsten von Cusco und dem Regenwald schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Was hat Sie dazu bewogen?
ÁS: Unser erster Dokumentarfilm über die Region von La Oroya war wie eine Rückkehr zu unseren Wurzeln, weil unsere Mutter aus der Stadt Huancayo kommt. Unsere Großeltern kommen aus Cerro de Pasco und unser zweiter Dokumentarfilm war eben über Cerro de Pasco. Es ist also eine Familiensache: eine Rückkehr zu
unseren Wurzeln, zu unserem Zuhause durch das Filmemachen und das Zeigen der Realität dieser Regionen. Außerdem identifiziere ich mich nicht mit dem Kino, das in Lima produziert wird, eben wegen der Qualität der dortigen Filme, der Nicht-Repräsentation der indigenen Bevölkerung oder ihrem Erscheinen als die ewigen
Diener, Hausmädchen und Ähnliches. Das hat mich immer wütend gemacht. Ich habe mein Studium an der Universidad de Lima abgebrochen und bin nach Brasilien gegangen, um dort vier Jahre lang Film zu studieren. Dort habe ich gelernt, was cine indígena (indigener Film) ist. Ich habe meine Abschlussarbeit über die NGO
Video nas Aldeias geschrieben, eine Organisation, die seit 25 Jahren indigenen Völkern das Filmemachen beibringt, sowohl theoretisch wie auch technisch. Ich kam dann aus Brasilien mit dem Wunsch und der Entschlossenheit zurück, diese Art von Kino zu machen.

Diego Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)

Das Thema der indigenen Gemeinschaften kommt nicht oft in die Medien und ist auch nicht wirklich präsent als künstlerisches Motiv in Peru. Was möchten Sie mit Ihrem Interesse an den Indigenen Perus erreichen?
DS: Das hängt von der jeweiligen Produktion ab. Es ist nicht so, dass wir mit all unseren Projekten das gleiche Ziel erreichen wollen, aber indem wir sie zeigen, möchten wir die indigene Kultur wieder aufwerten und verbreiten.
ÁS: Wenngleich unsere vorherigen Produktionen in Peru wenig gesehen wurden, glaube ich, dass es doch ein Publikum gibt, das sich für diese kulturelle Produktion interessiert. Das Interesse an einem Dokumentarfilm bedeutet, dass der Zuschauer etwas lernen möchte. Diese Art von Filmen hat eine lehrreiche Funktion. Was
Río Verde betrifft: Dieser Film würde in Peru zwischen fünf- und zehntausend Zuschauer im Kino erreichen. Aber was Filmfestivals angeht, könnte dieser Film sicher auf 50 Festivals gezeigt werden, eben wie unsere Kurzfilme, die bislang auf 30-40 Festivals gezeigt wurden. Angenommen, pro Festival würden 1.000 Menschen den Film sehen, dann würden wir durch die ganzen Festivals 50.000 Zuschauer weltweit erreichen. Das ist eine bedeutende Zahl, obwohl sie neben den Zahlen eines Blockbusters klein erscheint. Die Leute interessiert schon diese Art von Themen, die wir präsentieren, und ich glaube, damit sind wir alle glücklich.

In Río Verde versuchen Sie, das Zeitgefühl der Menschen des Amazonas zu vermitteln, um eine Distanz durch diesen ethnographischen Blickwinkel zu klassischen Dokumentarfilmen zu schaffen. Haben Sie nicht die Befürchtung, damit ein größeres Publikum zu verschrecken?
ÁS: Mich interessiert das Autorenkino. Es ist auf jeden Fall für ein eingeschränkteres Publikum gedacht, eines, das Filme über Kulturen mag, das sogenannte ‚World Cinema‘. Zum Beispiel gibt es Menschen, die es genießen, die thailändische oder vietnamesische Gastronomie durch einen Film kennenzulernen. Es gibt durchaus Leute, die sehr kleine Filme genießen. Wir zielen auf dieses Publikum, das andere, wenig
erkundete Teile der Welt durch Filme entdecken möchte. Río Verde ist auf keinen Fall ein kommerzieller
Film, wir appellieren nicht an das große Publikum. Es ist ein Film, der einem Gemälde ähnelt, indem wir dadurch unsere eigene künstlerische Sensibilität zum Ausdruck bringen. Derjenige, der dies genießt, ist stets willkommen!
DS: So, wie es Animations-, Fiktions-, und Genre-Kino gibt, glauben wir, dass es auch indigenes
Arthouse-Kino, indigenes Fiktionskino, indigenes Animationskino und von Indigenen selbst gemachtes Kino geben könnte. Indigenes Kino muss nicht immer Protest-Kino gegen etwas sein, es kann auch etwas Künstlerischeres sein. Das ist es, was wir verbreiten wollen, eine Palette von verschiedenen Arten des indigenen Kinos.

Welche konkrete Vorteile hat Ihnen die Berlinale gebracht?
DS: Auf der einen Seite ist es im Bereich des Vertriebs sehr wichtig, die Weltpremiere bei der Berlinale zu haben. Dadurch wird es einfacher, einen Film auf andere Festivals zu bringen. Bei einem so großen Festival entwickelt sich ab der Premiere eine Art Netzwerk. In wirtschaftlicher Hinsicht bringt es nicht unbedingt Vorteile.

Wenn wir jetzt von der internationalen auf die nationale Ebene zurückgehen, stellt sich die Frage: Kann man in Peru von einem Vollzeitjob als Filmemacher*in leben?
DS: Alles ist möglich. Das hängt vom Lebensstandard ab, den jeder erreichen möchte. Zurzeit sind wir tatsächlich zu 100 Prozent mit unseren Produktionen ausgelastet.
ÁS: Ich glaube, dass man tatsächlich vom Filmemachen leben kann. Wir leben davon, aber auf eine sehr bescheidene Art und Weise. Leider gewinnen wir nicht immer die Preise, die von der peruanischen Regierung ausgeschrieben werden. Es gibt sehr viel Konkurrenz und die Jurys interessieren sich zum Teil einfach nicht
für das, was wir machen, obwohl wir uns international bereits einen Namen gemacht haben. Aber klar ist: Mit oder ohne Geld, wir werden weiter unsere Filme machen.

Jetzt, wo der peruanische Schauspieler und Filmregisseur Salvador del Solar zum Kulturminister
ernannt wurde: Meinen Sie, dass Peru dadurch einem neuen Filmgesetz einen Schritt näher gekommen ist?
DS: Ich denke, dass wir noch näher sein könnten. Es ist ein politisches und schwieriges Thema. Denn manchmal hängt das Kulturministerium vom Wirtschaftsministerium und anderen Organen ab. Es mag sein, dass da seinerseits Bereitschaft besteht, aber auf jeden Fall wird für so etwas die Stärke des filmischen Gremiums, die Stärke der kleinen Filmindustrie in Peru, benötigt. Es hängt nicht nur von Salvador ab. Nichtsdestotrotz ist jetzt ein neues Filmgesetz durchaus möglicher als früher. Was dabei aber nicht vergessen werden darf ist, dass alle Künste gefördert und besser gefördert werden sollten. Es ist die Gesamtheit und nicht nur die Filmindustrie, die das Land repräsentiert. Jetzt gerade vertreten wir in gewisser Weise unser Land und es ist natürlich wie ein großes Geschenk, Teil der Berlinale sein zu können, aber das ist nicht unser endgültiges Ziel. Es sollte mehr Förderungen geben. Zum Beispiel haben wir den DAFO-Preis (eine Auszeichnung der peruanischen Regierung, Anm. d. Red.) gewonnen und die staatliche Agentur Promperu hat die Flugtickets für die Regisseure bezahlt – leider nur die der Regisseure, denn wir hätten auch gerne zumindest unseren Videoeditoren mitgebracht – aber es ist traurig, diese Leistungen mit denen anderer lateinamerikanischer Staaten zu vergleichen. Die Botschaften kümmern sich um das ganze Team, sie helfen ihnen in wirtschaftlicher
Hinsicht, es ist schon ganz schön teuer, aus Südamerika hierher zu kommen. Ich glaube, dass zumindest unsere Botschaft sich in dieser Hinsicht etwas mehr Mühe geben sollte.

Welche Projekte verfolgen Sie in der nächsten Zeit?
DS: Wir würden nur ungern viele Details verraten, aber jetzt gerade sind wir in der Endphase des Dokumentarfilms Sembradoras de Vida (Säerinnen des Lebens), der durch einen Fonds des Kulturministeriums im Jahr 2014 möglich gemacht wurde und parallel dazu haben wir stets mehrere Ideen und Kurzfilmprojekte, denen wir nachgehen.
ÁS: Unsere Produktionen werden immer auf eine sehr handwerkliche, familiäre Art gemacht. Das ist unser Stil. Ähnlich, wie wenn man ein handgemachtes Produkt kauft. Zum Beispiel stehe ich auf, frühstücke und schneide dann im eigenen Heim. Ich brauche also keine Superproduktion im Rücken, um voranzukommen.

ENTSCHLEUNIGUNG IN GRÜN

Foto: Berlinale

Langsam, fast träge bewegt sich der Fluss. Unzählige Blätter spiegeln sich zitternd auf der Wasseroberfläche, die ebenso gut der Himmel sein könnte, würde darauf nicht das Boot gleiten, das die Kamera trägt. Als die schamanischen Gesänge, die die Fahrt untermalen, abebben, scheint es, als würden Zeit und Raum unwichtig in der ewiggrünen, nur durch das gelegentliche Plätschern eines Ruders unterbrochenen Stille. Währenddessen bereitet der Fischer, dem das Ruder gehört, in aller Bedächtigkeit seine Angel für den Fang vor.

Schon kurz nach Beginn des Films beschleicht den Zuschauer von „Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas“ eine Ahnung, die sehr bald zur Gewissheit wird: Viele atemberaubende Szenen werden sich in den kommenden 70 Minuten nicht abspielen. Aber das ist auch gar nicht die Absicht der Dokumentation von Alvaro und Diego Sarmiento, die ihr filmisches Werk der Verteidigung indigener Lebensformen und deren Lebensraum gewidmet haben. In „Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas“ nähern sie sich den Gemeinschaften der Quechua-Lamista im peruanischen Amazonasgebiet. Deren Mitglieder sind Überlebende, denn 90 Prozent der indigenen Bewohner*innen der Amazonasregion starben während des Kautschukbooms im 19. Jahrhundert. Die Sarmiento-Brüder zeigen die Lebensweise der Quechua-Lamista in einer radikalen Authentizität. Es gibt keinerlei Kommentare, keine Interviews, keinen Spannungsbogen. Die Protagonist*innen sind Menschen, die von Fischfang, Jagd oder Subsistenzwirtschaft leben. Wer hier konfrontative Zuspitzung, halsbrecherische Kamerafahrten oder gar exotische Riten erwartet, ist fehl am Platz. Stattdessen werden Maniokwurzeln geerntet und Raupen gesammelt, Tücher gewebt und selbstgedrehte Zigaretten geraucht. Als dramatische Höhepunkte können die Szenen gelten, in denen ein Schwein entläuft und ein Junge seinen Vater beim Fischfang übertrumpft. Die Gespräche beschränken sich auf Alltagskonversation. Und auch von den titelgebenden Yakurunas – sirenenhaften, mythologischen Wesen, die als Wassergeister auf dem Grund des Amazonas leben sollen – ist nicht im Entferntesten etwas zu hören und schon gar nicht zu sehen.

Und doch erreicht der Film genau dadurch, dass fast nichts passiert, sein Ziel, authentisch zu dokumentieren: Alles andere liefe dem Lebensrhythmus im Amazonasgebiet schließlich vollkommen entgegen. Was hier zählt sind Harmonie und ein Leben im Rhythmus der Natur. Der Filmfestival-Logik unvorhersehbarer Plot-Twists und spektakulärer cineastischen Effekte begegnet „Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas“ mit einem fast schon meditativen Kontrapunkt, der dennoch nicht reiner Selbstzweck ist. Denn die oft sinnlose und unbefriedigende Hektik nicht nur der globalisierten Welt sondern auch einer atemlosen Aneinanderreihung hunderter filmisch erzählter Geschichten wird am besten durch die Dokumentation des Alltags einer davon völlig entkoppelten Gegenrealität gespiegelt. Es tut gut, diesen Film zu sehen, gerade weil er den Erwartungen an immer neue Sensationen und Erkenntnisse nicht gerecht wird. Stattdessen taucht das Publikum ein in eine Welt, in der Film- und Lebenszeit nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eine Welt, die das Publikum auf diese Weise nicht mit dem Blick eines eventfixierten Ethno-Touristen, sondern als gleichberechtigtes Mitglied einer Gemeinschaft kennenlernen darf. Damit hat der Film durch seinen Verzicht auf jede Effekthascherei zweierlei geschaffen: Eine authentische und notwendige Dokumentation indigener Lebensweise im 21. Jahrhundert. Und einen Rückzugsraum für gestresste Berlinale-Touristen, die eine Auszeit vom hektischen und anstrengenden Gegenwartskino benötigen.

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