Im Sand verlaufen

© Felipe Larozza / Salvatore Filmes

Zauberhaft sieht sie aus, die Region um den Nationalpark Lençois Maranhenses ganz im Nordosten Brasiliens. Riesige weiße Sanddünen erstrecken sich kilometerweit die Küste entlang bis weit ins Landesinnere, unterbrochen von blauen Lagunen, die zum Baden einladen. Die Lençois sind eines der größten Naturwunder Brasiliens und damit auch eine der bekanntesten Tourismusattraktionen des Landes. Ihre Bewohner*innen stellt die geschützte Landschaft aber auch vor Herausforderungen.

Dies ist das Setting von Marcelo Bottas Debütfilm Betânia, der auf der Berlinale 2024 Weltpremiere feierte. Der Film folgt der titelgebenden Großmutter Betânia (Diana Mattos) und ihrer Familie, die in einfachen Verhältnissen am Rande der Dünen lebt. Betânia war ihr Leben lang Hebamme und hat laut eigener Aussage im Laufe ihres Lebens so gut wie jedes Kind der Region zur Welt gebracht. Die männlichen Freunde und Familienmitglieder verdingen sich vor allem als Tourist*innenführer, während die weiteren im Film vorkommenden Frauen meist älteren Semesters sind und Hausarbeit verrichten. Ausnahme: Betânias Enkelin Vitória (Nádia de Cássia), die auf Reggae steht, für den der brasilianische Bundesstaat Maranhão landesweit berühmt ist, und DJ werden möchte. Dies wiederum bringt ihre erzchristliche Mutter Irineusa (Michelle Cabral) an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Eine Kritik über Betânia zu schreiben, ist nicht einfach, weil der Film die wahrscheinlich größte Bild-Text-Schere des Festivaljahrgangs aufweist. Die fantastische Dünen- und Mangrovenlandschaft der Lençois Maranhenses fängt der geübte Dokumentarfilmer Botta in faszinierenden, fast überrealistisch schönen Bildern ein. Vor allem die Drohnenaufnahmen von den sich wellenden, weißen Sandbergen unter blauem Himmel sind spektakulär. Leider belässt es Botta aber nicht bei diesen zauberhaften Eindrücken, sondern möchte dazu noch eine Geschichte erzählen, was ihm gnadenlos misslingt. Banale Dialoge, altbackene Figurenzeichnung und unnütze Nebenhandlungen, die noch dazu meist – pardon – im Sande verlaufen, machen den flunderflachen Plot zu einer schmerzhaften Aneinanderreihung kitschiger Plattitüden. Dazu werden die Szenen derartig oft von Musik-Performances unterbrochen (es sind insgesamt über 60 Einspielungen!), dass sich selbst die größten Liebhaber*innen brasilianischer Folklore irgendwann fragen dürften, was hier eigentlich Mittel und was Zweck sein soll. Der dramatische Höhepunkt des Films nähert sich, als Tonhão (Caçula Rodrigues), Betânias Schwiegersohn und Dorftrottel in Personalunion, ein entnervend überzeichnetes französisches Tourist*innenpärchen in die Wüste führt und dort dann prompt nicht mehr herausfindet. Doch da ist schon so viel honigsüß-konfliktfreies Wasser die Dünen heruntergeflossen, dass sich wirklich niemand mehr vorstellen mag, hier könne noch irgendetwas Böses passieren.

Die seichte Handlung von Betânia, die sich irgendwo zwischen Homevideo und drittklassiger Telenovela einpendelt, stört den visuellen Genuss mit der Zeit dann doch erheblich. Zumal der Film auch noch viel zu lange zwei Stunden läuft. Dabei wäre es auch anders gegangen. Denn die Figur der Großmutter Betânia basiert auf der wahren und erzählenswerten Lebensgeschichte von Maria do Celso, die ihr Leben lang dafür kämpfte, den malerischen Dörfern am Nationalpark Wasser- und Stromanschluss zu ermöglichen. Genau wie die Umweltprobleme, die die Versandung der Mangrovenlandschaft mit sich bringt, geht das aber leider in zu viel rührseligem Gemenschel unter. Vielleicht hätte Marcelo Botta einfach nur einen weiteren Dokumentarfilm drehen sollen. Den Zuschauer*innen von Betânia sei jedenfalls empfohlen, die wunderschönen Bilder in vollen Zügen zu genießen und ansonsten das Hirn auf Durchzug zu stellen.

LN-Bewertung: 2 / 5 Lamas

Der Himmel über Mexiko

© Coproduction Office – Mantarraya – NoDream Cinema

Der mexikanische Film Batalla en el cielo wurde im Jahr 2023 in Mexiko restauriert und während der Berlinale erneut veröffentlicht. 2005 wurde der Film zum ersten Mal gezeigt und kontrovers diskutiert. Zu Beginn des Films werden die Hauptfiguren Ana (Anapola Mashkadiz) und Marcos (Marcos Hernandes) in einer expliziten Oral-Sex-Szene eingeführt. Für die Premiere in Mexiko wurden aufgrund der sehr freizügigen Darstellung von Sex Teile des Films herausgeschnitten.

Die Handlung folgt Marcos, der in Mexiko-Stadt lebt und als Fahrer für die Tochter eines Armee-Generals arbeitet. Nachdem er mit seiner Frau ein Baby entführt hat, stirbt dieses. Marcos ringt mit der Schuld des begangenen Verbrechens, während er gleichzeitig gegen seine Fantasien für Ana, die Tochter des Generals, kämpft. Nach einem sexuellen Zusammentreffen zwischen Ana und Marcos gesteht letzterer die Tat, und Ana überredet ihn, sich der Polizei zu stellen. Auf der Suche nach Erlösung begibt sich Marcos in die Basilika von Guadalupe, während die Polizei die begangenen Verbrechen aufdeckt.

Carlos Reygadas, geboren 1971 in Mexiko-Stadt, ist einer der bekanntesten mexikanischen Filmregisseure. Er wurde mit dem Jurypreis beim Cannes Film Festival 2007 und dem Preis für den besten Regisseur beim Cannes Film Festival 2012 ausgezeichnet. Im Jahr 2000 gründete er seine Produktionsfirma NoDream Cinema und debütierte mit seinem ersten Film Japón. Sein einzigartiger und kontemplativer filmischer Stil wurde international gelobt. Im Laufe seiner Karriere hat Reygadas soziale und existenzielle Themen erforscht und visuelle und narrative Elemente verwendet, um Filme zu schaffen, die über die einfache Handlung hinausgehen. Sein Fokus auf menschliche Intimität und seine Arbeit mit Nicht-Schauspielern waren Höhepunkte seines Werkes, das sich durch emotionale Tiefe und die Suche nach innerer Wahrheit auszeichnet.

Batalla en el cielo ist sicher nicht für alle Geschmäcker geeignet, da die Plansequenzen sehr lang sind und der Film generell im Tempo eher langsam ist. Viele Dinge bleiben ohne Erklärung und es mangelt an Kontext. Die Dialoge wirken zudem oft energielos. Dennoch gelingt es dem Regisseur, eine Atmosphäre der Fremdheit und Intrige zu schaffen. Aus einem Interview mit Reygadas ist bekannt, dass er bewusst Personen ohne Schauspielerfahrung einsetzte, um seine Protagonist*innen zu verkörpern. Zudem bekamen diese oft wenige Kontextinformationen zu ihren Szenen. Was damit geschaffen wird, ist diese Aura der Fremdheit, von Charakteren ohne Seele, die keine Vergangenheit oder Zukunft haben, und nur während des Films existieren. Insgesamt stellt sich Batalla en el cielo trotz der teils chaotischen Stimmung, die er transportiert, so doch als interessantes Kinoerlebnis dar.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Poesie für Fortgeschrittene

© Películas mirando el techo

Einfach macht es Matías Piñeiro seinen Zuschauer*innen meistens nicht. Die Werke des argentinischen Independent-Filmemachers sind mit ihren verschachtelten Narrativen und oft außerhalb des lateinamerikanischen Kontextes stehenden Leitmotiven nicht einfach zu entschlüsseln. Bislang standen oft Shakespeare oder auch mal asiatische Philosophie im Zentrum von Piñeiros Schaffen. In Tú me abrasas ist Lateinamerika nun bis auf Regisseur und Schauspieler*innen komplett außen vor. In seinem Berlinale-Beitrag verfilmt der Regisseur einen literarischen Dialog der antiken, griechischen Lyrikerin Sappho mit dem 2.500 Jahre später geborenen italienischen Schriftsteller Cesare Pavese.

Klingt kompliziert? Ist es auch und Piñeiros Herangehensweise macht den Einstieg in den Film nicht unbedingt leichter. Aneinandergereiht werden sich wiederholende Bildkompositionen gezeigt: Blumen, Äpfel, Gebäude, eine Spüle, eine Türklingel und immer wieder das Meer. Einige Bilder werden als visuelle Entsprechungen für einzelne Begriffe etabliert, zum Beispiel für die drei Wörter des Filmtitels. Wer sich darauf einlässt, dem erschließt sich – wie so oft bei Piñeiro – die narrative Struktur dann nach einer Weile. Stück für Stück fließen biographische Informationen zu Pavese und Sappho ein, Parallelen werden klar: Unerfüllte Liebe und die Frage nach Akzeptanz oder Lenkung des eigenen Schicksals waren bei beiden Schriftsteller*innen präsent. Gedichte Sapphos und Paveses Text „Meeresschaum“ werden zitiert und auf Buchseiten eingeblendet – Letzteres sehr ausführlich und deutlich. Für das Verständnis ist das von großem Vorteil, man kann Matías Piñeiro also nicht vorwerfen, dass er gar nicht an seine Zuschauer*innen denkt. Elliptisch werden zentrale Themen, Begriffe, Namen (vor allem aus der griechischen Mythologie) und Bilder akustisch und visuell wiederholt. Es stellt sich ein Rhythmus ein und langsam auch ein Verständnis für den philosophischen Dialog über die Jahrtausende, den Pavese mit Sappho führt. Dazu sind Piñeiros Bilder in körnigen 16-Millimeter-Aufnahmen geschickt und poetisch komponiert. Gerade die häufigen Aufnahmen von Meer, Felsen und Wellen fügen sich sehr harmonisch in die akustische Erzählung ein. Auch einige Schauspielerinnen dürfen ab und zu durch Städte, Gärten oder Museen laufen und Tiere wie Vögel, Krebse oder Schildkröten sorgen für Vitalität in der visuellen Sprache. Die ausgewählten Texte thematisieren dagegen meist verzweifeltes Begehren und die Unmöglichkeit glücklicher Liebe und durchziehen Tú me abrasas so mitmelancholischer Stimmung, passend zum traurigen Ende Paveses, der sich selbst das Leben nahm – genau wie der Legende nach auch Sappho, was allerdings historisch nicht gesichert ist.

Tú me abrasasfordert viel von seinem Publikum: Das exotische Thema, die sperrige, nicht-lineare Erzählweise und eine collagenartige, repetitive Bildsprache machen den Film zu einem sehr speziellen Kinoerlebnis, das nicht alle Kinogänger*innen in gleichem Maße ansprechen wird. Wer sich aber nach den ersten Minuten nicht abschrecken lässt und der intellektuellen und ästhetischen Reise des Films weiter folgt, wird mit einer interessanten audiovisuellen Erfahrung, einem Erkenntnisgewinn zum Dialog zweier Dichter*innen und einem überraschend guten Gefühl beim Verlassen des Kinos belohnt.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Stadt, Land, Kuss

© Cris Lyra / Dezenove Som e Imagens

As boas maneiras (Gute Manieren), der Überraschungserfolg über ein Werwolfbaby in São Paulo gilt bis heute über Brasilien hinaus als Kultfilm im Horrorgenre. Nicht nur das ungewöhnliche Narrativ, auch die gelungenen Schockmomente, der überraschende Stilmix und die warmherzige Darstellung der Protagonist*innen sorgten für Aufsehen und einen Preisregen auf internationalen Festivals. Nun ist Juliana Rojas, die Co-Regisseurin von As boas maneiras, mit dem Episodenfilm Cidade; Campo (Stadt; Land) zum ersten Mal auf der Berlinale zu Gast. Diesmal ist sie allein verantwortlich für Regie und Drehbuch. Und auch wenn Cidade; Campo thematisch eine ganz andere Richtung einschlägt als sein Vorgänger – Rojas’ Handschrift ist unverwechselbar und macht die 42-jährige aktuell zu einer der aufregendsten Stimmen im lateinamerikanischen Kino.

Dabei klingt das Konzept des Films zunächst etwas sperrig: Cidade; Campo besteht aus zwei einstündigen Episoden, die sich inhaltlich nicht überschneiden. Dabei geht es um Migrationsgeschichten vom Land in die Stadt und umgekehrt. Die erste Episode folgt Joana (Fernanda Vianna), die durch den Bruch des Staudamms Brumadinho und den nachfolgenden Erdrutsch ihre Farm und ihre Tiere verloren hat. Nun zieht sie in die Millionenmetropole São Paulo zu ihrer Schwester Tânia (Andrea Marquee), die sie herzlich aufnimmt. Obwohl Joana nach wie vor traumatisiert ist, schafft sie es schnell, Arbeit bei einem Putzdienst zu finden, was ihr findiger Großneffe Jaime (Kalleb Oliveira) für sie per App organisiert. Dort freundet sie sich mit ihren Kolleginnen an und kämpft mit ihnen gegen die fortschreitende Prekarisierung ihrer Arbeitsverhältnisse. Weil Rojas es schafft, der eigentlich unspektakulär verlaufenden Geschichte durch einen genauen Blick auf ihre Hauptfiguren und liebevoll inszenierte Details einen Spannungsbogen zu geben, fällt Abschied von der ersten Episode nach einer Stunde schwer. Doch auch die zweite Episode hat es in sich. Hier zieht Flavia (Mirella Façanha) gemeinsam mit ihrer Partnerin Mara (wie immer großartig: Bruna Linzmeyer) aus der Stadt auf die verlassene kleine Farm ihres verstorbenen Vaters. Von Beginn an werfen sich die beiden Frauen voll ins Land- und Liebesleben (die ästhetisch inszenierten und choreografierten Liebesszenen sind ein Highlight des Films). Dabei herrscht klare Arbeitsteilung: Mara ist Tierärztin und kümmert sich vor allem um das Vieh, Flavia übernimmt die Knochenarbeit auf dem Feld. Nach und nach wird allerdings klar, dass mit der Farm etwas nicht stimmt. Und ohne zu viel zu verraten, zeigt die Regisseurin spät im Film, aber dafür umso gekonnter, dass sie auch an der Klaviatur des Horrorgenres nichts verlernt hat.

Es ist die Mischung aus originellen Inszenierungen, Stilsicherheit in den verschiedenen Genres (Joanas fiktive Putz-App möchte man sich nach den Werbe-Jingles im Film am liebsten sofort herunterladen) und dem Gefühl für Stimmungen, die Cidade; Campo sehr sehenswert macht. Ganz besonders fällt aber immer wieder auf, wie sehr Juliana Rojas ihre Figuren liebt: Oft sind es Außenseiter*innen, die nicht gesellschaftlichen oder körperlichen Idealbildern entsprechen, aber durch ihr Handeln und ihren ehrlichen, liebevollen Umgang miteinander im Handumdrehen das Herz des Publikums gewinnen. Figuren, die das Land Brasilien nach den polarisierenden und auch für die Außenwirkung verheerenden Bolsonaro-Jahren dringend gebrauchen kann. Man wünscht allen, die ihnen zusehen, dass sie sich von ihrer Empathie und Aufrichtigkeit eine Scheibe abschneiden. Und natürlich, dass es bald wieder mehr solcher wunderbaren brasilianischen Filme wie Cidade; Campo gibt.

LN-Bewertung: 5 / 5 Lamas

Freiheit hinter Gittern

© Gema Films

Zwischen Gesang und Tanz fesselt Reas (Verurteilte), ein Gefängnis-Musical, das die Erfahrungen von Frauen und Transpersonen behandelt, die in verschiedenen argentinischen Gefängnissen inhaftiert waren. Der Dokumentarfilm vermittelt ihre Lebensgeschichten über einen theatralen Ansatz. Die Protagonist*innen rekonstruieren Anekdoten und Fantasien durch Inszenierungen. Die Bühne: Das ehemalige Gefängnis von Caseros, ein verlassener Ort, der nach dem panoptischen Modell (kreisrunde Anordnung mit Wachturm in der Mitte) gebaut wurde und Insass*innen und Zuschauer*innen in einen klaustrophobischen Raum versetzt, der harte Erfahrungen zwischen seinen Mauern birgt.

Die argentinische Regisseurin Lola Arias ist auch interdisziplinäre Künstlerin. Schon mit ihrem Erstlingswerk Teatro de Guerra (Kriegstheater, 2018) hat sie ihr virtuoses Talent gezeigt. Dort verwischte sie die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation und nahm das Leben ehemaliger argentinischer und britischer Soldaten, die am Falklandkrieg teilgenommen hatten, unter die Lupe. Und auch in Reas verkommt die Frage “Fiktion oder Dokumentarfilm” zur Nebensache, sobald die Zuschauer*innen in die Geschichten der Protagonist*innen von “Reas” eintauchen. In einem Interview im letzten Jahr auf dem Filmfestival von San Sebastián erzählte Arias, dass die meisten von ihnen bei Theaterworkshops ausgewählt worden waren, die sie selbst im Frauengefängnis Ezeiza geleitet hatte. Dies zeigt, dass der Dokumentarfilm aus einem langen Arbeits- und Annäherungsprozess mit seinen Protagonist*innen entstanden ist.

Das foucaultsche Element der Schaffung utopischer Orte, die Machtverhältnisse umkehren, ist in Arias’ Werk wiederkehrend. In Reas verwendet sie künstlerische Ausdrucksformen, die mit Körperlichkeit verbunden sind, wie Theater und Tanz, um über eine Institution zu sprechen, die paradoxerweise auf der Entwicklung von Mechanismen zur Kontrolle des Körpers basiert. In einer der denkwürdigsten Szenen tanzen die Protagonist*innen Vogue vor den Wärtern des Gefängnisses, die als Jury fungieren. Vogue ist ein Tanzstil, der in den letzten Jahren populär geworden ist und seine Ursprünge in randständigen Gruppen der LGBTQ+-, afroamerikanischen und lateinamerikanischen Gemeinschaft hat.

Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal der filmischen Erzählung in Reas ist die Schaffung einer Mikrowelt: Außerhalb der Gefängnismauern existiert für die Insass*innen für die Zeit ihrer Inhaftierung nichts. Auch wenn sich die Protagonist*innen eine Zukunft dort vorstellen, können sie doch für lange Zeit nicht in Kontakt mit der Außenwelt treten. Die Probleme der sozialen Wiedereingliederung von Personen, die inhaftiert waren und nach ihrer Rückkehr in die Freiheit in ihrem Leben mit Stigmatisierung zu kämpfen haben, lassen sich für sie nur schwer erahnen.

Reas feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale in der Sektion Forum. Es ist zweifellos ein Film, der Beachtung verdient hat. Nicht nur, weil er sich von den ästhetischen und erzählerischen Konventionen des Dokumentarfilms entfernt, sondern auch wegen seines Humanismus und seiner Sensibilität, mit der er die Inhaftierten porträtiert.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

Living la vida de Barrio

© Monociclo Cine

Die Busstrecke ist neu für Sandra, ihre neue Arbeitsstelle liegt außerhalb ihres Wohnviertels in der kolumbianischen Metropole Medellín. Den Ausstieg muss sie deshalb beim Busfahrer in Erfahrung bringen. Mit ungeahntem Erfolg: Die Nachfrage bringt ihr zuerst ein Gratisbonbon und später einen Sitzplatz neben dem Motorista ein. Ein guter Start in ihren neuen Job als Security-Mitarbeiterin in einem Shopping-Center.

Sandra (Alba Liliana Agudelo Posada) ist die Protagonistin in La piel en primavera (Die Haut im Frühling), dem ersten Spielfilm der kolumbianischen Regisseurin Yennifer Uribe Alzate. Wie der Titel verspricht, herrscht Frühling in Medellín, was für die Charaktere des Films bedeutet: Überall ertönt Musik, Arbeit wird dem Vergnügen untergeordnet und es wird geflirtet, was das Zeug hält. Zu Beginn will Sandra dabei zwar nicht mitmachen. Aber irgendwann wird es einfach zu viel: Der halbwüchsige Sohn knutscht mit seiner neuen Freundin auf der Terrasse, die Kolleginnen tratschen über ihre Ausschweifungen beim Betriebsausflug und die Putzfrau preist in den höchsten Tönen die neuen Dildos aus ihrem Nebenerwerb, einem Online-Sex-Shop an. Also Lippenstift aufgetragen, Outfit aufgefrischt und rein ins Dating-Leben!

La piel en primavera ist ein Film, der gar nicht erst versucht, besonders Außergewöhnliches zu präsentieren und vielleicht genau deshalb so gut funktioniert. Das Arbeiter*innenviertel Barrio Belén Las Violetas mit seinen unverputzten Ziegelsteinwänden gibt dazu den passenden Hintergrund ab: Wenig Glamour, aber dafür umso mehr Atmosphäre für eine Geschichte, die so repräsentativ ist für das Leben in einer lateinamerikanischen Großstadt. Die alleinerziehende Sandra lebt selbstbestimmt, ihre Autonomie wird durch das häufige Rauchen auf dem eigenen Balkon visualisiert. Sie holt sich Selbstbewusstsein im Job, trifft sich mit ihren Freundinnen zum Tanzen oder kümmert sich mit wechselndem Erfolg um die Herzensangelegenheiten ihres Teenager-Sohns und um ihr eigenes Liebesleben. Mit Handkamera und häufigen Close-Ups wird den Darsteller*innen auf den Leib gerückt, die Musik spielt unaufhörlich im Hintergrund und die feuchte Hitze der Stadt ist im Kinosaal fast physisch spürbar. Dazu kommt ein ausgefeiltes Surround-Soundmanagement: Im Bus sind die Rufe der Fahrgäste vorne und die Ansagen des Lautsprechers hinten zu hören und auch auf der Straße scheinen Gesprächs- und Geräuschfetzen von überall her zu kommen. Das fühlt sich so gut und mitten aus dem Leben gegriffen an, dass man sogar dem Plot manche klischeehafte Wendung verzeiht. Ohnehin geht es La Piel en Primavera aber offensichtlich mehr um ein Lebensgefühl als um eine ausgefeilte Story: Wer auf verzwickte Drehbuch-Twists hofft, sollte um den Film eher einen Bogen machen. Regisseurin Uribe Alzate ist trotzdem ein locker-vergnüglicher Erstlingsfilm mit Feel-Good-Vibes gelungen, den man einem breiten Publikum als anschauliches Beispiel einer (weiblichen) working-class Lebenswirklichkeit des südamerikanischen Subkontinents empfehlen kann.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

Das Fremde bleibt fremd

© Victor Juca

Argentinien, Taiwan, Deutschland, (Nordost-)Brasilien: Die anDormir de olhos abertos (dt.: „Mit offenen Augen schlafen”) beteiligten Produktionsländer lesen sich wie ein buntes Sammelsurium unterschiedlichster (Film-)Kulturen, bei denen nur schwer vorstellbar ist, wie sie in einem gut 90-minütigen Film zusammenzubringen sind. Dieser undankbar klingenden (aber selbstgewählten) Aufgabe hat sich die deutsche Regisseurin Nele Wohlatz (El futuro perfecto) verschrieben und, Spoiler: Wie zu befürchten erweist sich das Projekt als eine Nummer zu groß.

Dormir de olhos abertosspielt in der Küstenmetropole Recife im brasilianischen Nordosten, genauer gesagt am Strand Boa Viagem, der etwas außerhalb des Zentrums liegt. Der Film folgt zunächst der Touristin Kai (Liao Kai Ro), die einen Strandurlaub mit ihrem argentinischen Partner geplant hat, der sie aber am Flughafen versetzt. Warum er dies tut und warum ihr Urlaub ausgerechnet in Boa Viagem stattfindet (auch in Argentinien und China gibt es Strände und in Brasilien sogar ganz in der Nähe weitaus schönere) – es bleibt ein Rätsel, wie so vieles in diesem Film. Kai stolpert dann jedenfalls, zwar höchst sprachgewandt aber touristisch sichtlich unerfahren, schon bald über chinesische Händler*innen, die Saisonware an gemieteten Verkaufsständen anbieten. Dort kommt sie an einen Stapel Postkarten, auf den die chinesischen Exilantin Xiao Xin (Chen Xiao Xin), die Brasilien mittlerweile schon verlassen hat, den Anfang eines Romans geschrieben hat.

Diese ziemlich konstruierte Ausgangslage (Warum in aller Welt nimmt Xiao Xin nicht einfach ein Buch?) soll das Verbindungsstück zwischen den beiden Erzählebenen sein. Tatsächlich ist sie aber nur der Gipfel des Eisbergs eines Plots, der vor Unglaubwürdigkeit und fallengelassenen Erzählsträngen nur so strotzt. Besonders die arme Touristin Kai trifft es immer wieder hart. So muss sie schon am ersten Tag ohne ersichtlichen Grund auf eine Verkehrsinsel urinieren oder läuft lieber bis zur Dunkelheit durch die Peripherie einer der gefährlichsten Städte der Welt, als sich ein Taxi zu rufen. Dadurch muss sie in einem Love Motel (in Brasilien sehr beliebte Stundenhotels mit entsprechender Ausstattung) die Nacht verbringen, wo sie sich – Achtung Culture Clash-Holzhammer! – sichtlich unwohl fühlt. Am nächsten Tag geht es dann plötzlich doch mit dem Moto-Taxi zurück in ihre Unterkunft. Dies (und vieles andere), so hat man den Eindruck, passiert in Dormir de olhos abertos nur, weil einige Drehbuchszenen vom Reißbrett auf Teufel komm raus untergebracht werden oder auch die Filmfördergelder aus den verschiedenen Ländern eingetrieben werden mussten.

Manchmal wird der Film sogar zu einem echten Ärgernis. Was ein interessanter Einblick in ausbeuterische Arbeits- und Lebensbedingungen von chinesischen Wanderarbeiter*innen hätte werden können, gerät nämlich durch den Fokus auf bemüht-lustige kulturelle Verirrungen oft in die Nähe einer Farce mit rassistischen Einschlägen. So werden die Brasilianer*innen fast durchgängig als feierwütig, übergriffig-beleidigend oder korrupt dargestellt, während die Chines*innen weitgehend zurückhaltend und fast schon unterwürfig auftreten. Der Blick von Regisseurin Wohlatz auf die hölzern geschnitzten Charaktere (ein deutscher ist, ein Schelm der Böses denkt, nicht dabei) ist oft kein mitfühlend-interessierter, sondern wirkt klischeehaft und sieht belustigt oder gar besserwisserisch auf ihre vermeintlich durch ihre Herkunft definierten Eigenarten herab. Im Jahr 2024 ist dieses naive Kulturverständnis nicht mehr zeitgemäß, was insgesamt den Eindruck verfestigt, dass Dormir de olhos abertos nicht über genug Substanz verfügt, um einen Langfilm über die volle Distanz zu tragen.

LN-Bewertung: 1/5 Lamas

Das Ende von Scham und Schweigen

© Substance Films

„Solange ich lebe, werde ich niemals alt sein!“ sagt eine der Frauen, und es scheint egal, von welcher der Protagonistinnen der Satz stammt. Denn die 68-jährige Ana, die 69-jährige Patricia und die 71-jährige Mayela erzählen in der costa-ricanischen Doku-Fiktion Memorias de un cuerpo que arde (Erinnerungen an einen Körper, der brennt) zwar jede für sich die Geschichten ihres Lebens und vor allem ihrer Liebe und Sexualität. Regisseurin Antonella Sudasassi Furniss verknüpft diese aber so geschickt, dass es keine Rolle mehr spielt, wer zu welchem Zeitpunkt etwas erlebt hat. Im Vordergrund steht die Erzählung, das Zursprachebringen von jahrzehntelang tabuisierten und verschwiegenen Bedürfnissen.

Memorias de un cuerpo que arde bedient sich dabei des Tricks der visuellen Fiktionalisierung. Denn die drei Frauen aus Costa Rica sind im Film nur mit ihrer Stimme präsent, um ihre Anonymität zu wahren. Im Bild zu sehen sind Schauspielerinnen wie Sol Carballo oder Paulina Bernini. Diese spielen die aus dem Off erzählten Ereignisse in teils echten, teils symbolischen Handlungen nach. Dabei findet das Geschehen ausschließlich in einer extra angemieteten Wohnung statt, schön eingeführt in der Anfangsszene, die den Einzug des Filmteams zeigt.  Kreativ oder sogar poetisch sind auch die weiteren Einfälle zur Inszenierung: Da laufen Hühner durch die Wohnung, Vasen gehen zu Bruch und einmal scheint sogar ein ganzer Jahrmarkt innerhalb der vier Wände stattzufinden.

Doch ebenso verdienen die Lebensgeschichten der Frauen Aufmerksamkeit. Es sind Geschichten, die Frauen nicht nur in Lateinamerika unzählige Male so oder so ähnlich erlebt haben und erleben. Geschichten von romantischen Gefühlen und sexuellem Begehren, aber auch von Unterdrückung, Scham und Missbrauch. Von sexueller Erziehung an der Grenze zur Komik, Frustration und Gewalt im Eheleben und der Befreiung davon erst im Alter. Sex, so sagt eine der Frauen, sei in ihrem Leben gewesen „wie ein Schwarzes Loch: Man sah es nicht und es schien, als würde es nicht existieren, doch am Ende hat es dich verschlungen“. Physische und psychologische Gewalt gegen Mädchen und Frauen, das bestätigt jede der drei Erzählerinnen, waren in ihrem Umfeld allgegenwärtig. Von klein auf sollten sie beispielsweise lernen, ihren Kleidungsstil als „Rüstung“ zu begreifen, um nicht die „Instinkte der Männer zu wecken“ – damit gemeint waren ihre eigenen Verwandten. Über christliche Werte („Ertrage dein Schicksal!“) wurden den Frauen dabei Schuldgefühle eingeimpft, während übergriffige und gewalttätige Männer unbehelligt davonkommen konnten.

Das Verdienst von Memorias de un cuerpo que arde ist es, die Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die Frauen erfuhren und noch immer erfahren, aus einer costa-ricanischen bzw. lateinamerikanischen Perspektive zu einem plastischen und kollektiven Narrativ zu verweben. Regisseurin Antonella Sudasassi Furniss hat damit nach ihrem gefeierten Erstlingswerk El despertar de las hormigas (Das Erwachen der Ameisen) erneut einen sehr starken Film abgeliefert. Mit ihrer Dokumentation gibt sie einer ganzen Generation von Frauen eine gemeinsame Stimme, die das Schweigen bricht und gleichzeitig Hoffnung gibt, dass durch die Trennung von gewalttätigen Partnern ein anderes, glücklicheres Leben möglich ist. „Ich verstehe nicht, dass so viele sagen, im Alter ginge es nur noch bergab“, sagt eine der drei Erzählerinnen gegen Ende des Films. „Für mich ist das die beste Zeit meines ganzen Lebens. Endlich habe ich totale Freiheit!“

LN-Bewertung: 5/5 Lamas

Hüter der verlorenen Lieder

© Natalia Burbano / Contravía Films

“Gelobte Seelen des Fegefeuers, zeigt mir den Weg”, betet José de Los Santos inmitten afrokolumbianischer Rituale. In seiner Gemeinde im Regenwald der kolumbianischen Pazifikregion Chocó vereinen und solidarisieren sich die Bewohner durch Gesänge und Gebete, um den Trauerprozess zu bewältigen. Der Protagonist des Films Yo vi tres luces Negras, (“I saw three black lights”), gespielt von Jesús María Mina, lebt unter den Toten, hat die Gabe, sie zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Diese Kommunikation mit seinen Vorfahren ermöglicht es ihm, im Hier und Jetzt voranzukommen und seinen eigenen Weg zu gehen.

Yo vi tres luces negras ist die zweite Langfilm-Produktion des kolumbianischen Regisseurs Santiago Lozano und feiert auf der 74. Berlinale in der Panorama-Sektion des Festivals seine Weltpremiere. Wie schon in seinem ersten Film greift Lozano das Thema Tod und Bestattungsrituale des afrokolumbianischen Pazifikraums auf, diesmal anhand der schicksalhaften Reise von José de Los Santos. Der 70-jährigen wird von seinem verstorbenen Sohn Pium besucht, der nun auch ihm seinen Tod ankündigt. Pium teilt seinem Vater mit, dass er seinen letzten Gang in die Tiefen des Dschungels antreten muss. Auf dem Weg dorthin trifft José auf paramilitärische Gruppen, die ihn bei seinem Vorhaben behindern – dieselben, die seinen Sohn Jahre zuvor ermordet haben.

© Christian Velasquez / Contravía Films

Mit großer visueller und symbolischer Reichhaltigkeit zeigt der Film den Synkretismus, der in den Gemeinden des Departamento Chocó, praktiziert wird, wobei der Tod innerhalb dieser Weltanschauung besonders betont wird. Im Verlauf der Geschichte wird klar auf die Bedeutung der mündlichen Überlieferung für das Überleben archaischer spiritueller Praktiken der Pazifikregion hingewiesen. Diese gehen allmählich durch Gewalt verloren, während die dortigen Bewohner zum Schweigen gebracht werden. Und auch die Auswirkungen des Bergbaus auf die Lebensweise der Menschen und die natürlichen Ressourcen werden deutlich. José de Los Santos wird dabei als “Hüter des Landes” dargestellt, der seinen Kampf gegen Zerstörung und Ausbeutung jedoch mit ungleichen Waffen führen muss.

Besonders bemerkenswert an Yo vi tres luces negras ist die Kinematografie, die den Dschungel in seiner ganzen Tiefe eindringlich einfängt, so dass dieser wie ein eigener Charakter wirkt. Der Film beginnt und endet mit der imposanten Präsenz des Rio San Juan, einem der mächtigsten und wichtigsten Flüsse Kolumbiens. Das Wasser als symbolisches Element ist sowohl visuell als auch klanglich in der Geschichte präsent. Darüber hinaus trägt die beeindruckende Filmmusik von Nidia Góngora, einer Komponistin von und Forscherin zu traditioneller kolumbianischer Musik, Yo vi tres luces negras stimmungsvoll durch die Eingeweide des Dschungels.

Lozanos Arbeit als Regisseur ist zweifellos vielversprechend, denn er zeigt Engagement für seine eigene ästhetische Erkundung. Sein Blick ist nach innen gerichtet, aber er spricht universelle Themen an. Yo vi tres luces negras ist ein empfehlenswerter Film, der innerhalb der Panorama-Sektion der Berlinale sicher zu den stärkeren Beiträgen gehören wird.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Nicht das Gelbe vom Ei

© Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios ist mittlerweile erfolgreicher Stammgast auf der Berlinale: 2018 gewann sein Film Museo einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch, die Doku-Fiktion A Cop Movie 2021 die gleiche Auszeichnung für den besten Schnitt. Nun verlässt Ruizpalacios mit dem auf einem Theaterstück basierenden La Cocina (dt.: Die Küche) erstmals Mexiko und betritt die Räume eines New Yorker Restaurants am Times Square. „The Grill“, so der Name des Etablissements, bietet nicht die ganz exklusiven Gaumenfreuden, sondern eher Massenkost für die touristische Durchgangskundschaft. Schnell und möglichst kosteneffizient soll serviert werden und eine der Zutaten dafür ist der illegale Aufenthaltsstatus des Großteils des Küchenpersonals. Den nutzt der schmierige Restaurantbesitzer Rashid auf ziemlich unappetitliche Weise zu seinem Vorteil aus. Denn Mitarbeiter*innen wie der Hallodri Pedro (Raúl Briones) stehen so nicht nur ständig mit einem Bein vor dem Rauswurf aus dem Restaurant, sondern gleich aus dem ganzen Land. Das hält die Motivation bei der Arbeit quasi von alleine hoch. Pedro hat zudem ein Verhältnis mit der abgebrühten Kellnerin Julia (Rooney Mara), deren Schwangerschaft schmeckt jedoch nicht beiden in gleicher Weise.

La Cocina (aus nicht näher definierten Gründen fast komplett in Schwarz-Weiß gefilmt) gelingt esgut, die quirlige, rastlose Atmosphäre in der im Akkord arbeitenden Restaurantküche einzufangen. Schon zu Beginn des Films verfestigt sich aber der Eindruck, als würde hier zu viel in einen Topf geworfen. Die so zahlreichen wie unterschiedlichen Charaktere sind zwar vordergründig sehr unterhaltsam, was vor allem an den schauspielerischen Leistungen (eine Entdeckung vor allem Anna Diaz als Küchen-Neuling Estela) liegt. Doch das allein macht den Kohl leider nicht fett. Denn das Drehbuch bekommt es nicht gebacken, auch nur einem von ihnen eine vernünftige Hintergrundgeschichte zuzubereiten. Dem Publikum wird so mit interessanten Subplots der Mund wässrig gemacht, nur um diese dann im Nichts verlaufen zu lassen. Ein hartes Brot sind auch die häufigen, unverhohlen sexistisch-anzüglichen Bemerkungen und Gesten der männlichen Mitarbeiter in Richtung der (ausschließlich weiblichen) Kellnerinnen. Da diese meist unwidersprochen bleiben, kommt La Cocina hier in Teufels Küche. Zudem finden sich auch bei der Montage und Erzählweise des Films einige Haare in der Suppe: Manche Szenen sind geradezu schmerzhaft lang ausgedehnt, andere wirken nicht richtig abgeschmeckt oder zum falschen Zeitpunkt in die Geschichte eingesetzt.

Das durchgeknallte Finale ist zwar noch einmal ein gefundenes Fressen für Freund*innen der gepflegten Eskalation. Aber im Prinzip ist die Suppe hier schon versalzen. Denn letztendlich wird in Bezug auf das entscheidende Thema des Films – Wie umgehen mit illegalisierter Migration und Beschäftigung? – nur um den heißen Brei herumgeredet. Den Appetit verdirbt auch so manches abgedroschene Klischee über Lateinamerikaner*innen. Insgesamt ist La Cocina damit sicher kein Gourmetbissen geworden. Was sich der Film in über 2 Stunden mit zu vielen Unausgegorenheiten einbrockt, können auch großartige Einzelleistungen von Kamera und Schauspieler*innen am Ende nicht mehr auslöffeln.

LN-Bewertung: 2/5 Lamas

„El Loco“ und die Krokodile

© Diego Romero

Dass in Peru noch vor 30 Jahren ein erbitterter Kampf zwischen der bewaffneten Guerilla Leuchtender Pfad und der Putschregierung Alberto Fujimoris tobte, scheint heute nur noch eine blasse Erinnerung. Bereits in den 1980er Jahren explodierte die Gewalt in Form von blutigen Anschlägen und politischen Morden durch die Guerilla sowie Folter und Repression durch die Regierung. In dieser heute als „verlorene Dekade“ bekannten Zeit suchten viele Peruaner*innen ihr Glück im Ausland. Die Migrationsrate vervierfachte sich im Laufe der 1980er Jahre, neben Spanien und Italien waren vor allem die USA ein bevorzugtes Anlaufziel.

© Diego Romero

In diesem angespannten Klima spielt Claudia Reynickes Film Reinas über eine Mittelschichtfamilie in Lima im Jahr 1992. Mutter Elena (Jimena Lindo) steht mit ihren Töchtern, der halbwüchsigen Aurora und der jüngeren Lucia schon mit einem Bein in den USA. Job und Unterkunft sind dort bereits organisiert, alles was fehlt, ist die Unterschrift ihres Ex-Mannes unter der Reiseerlaubnis der beiden Minderjährigen. Doch das entpuppt sich als Problem, denn Carlos (überzeugend: Gonzalo Molina) denkt gar nicht daran, seine Töchter so einfach gehen zu lassen. Im Gegenteil erwachen plötzlich seine offenkundig zuvor vergessenen Vatergefühle: Plötzlich kann er seine beiden Reinas (Königinnen), die dem Film ihren Namen geben, gar nicht oft genug an den Strand fahren. Dabei bindet er ihnen immer neue Lügengeschichten über angebliche Heldentaten, die er in seiner Abwesenheit vollbracht hat, auf. Dass an den Räuberpistolen ihres Vaters über Krokodile und verdeckte Geheimdienstaktivitäten kaum ein Wort wahr ist, daran zweifeln die beiden Töchter zwar keine Sekunde. Aber unterhaltsam ist es mit Carlos, der nicht umsonst von fast allen „El Loco“ (der Verrückte) genannt wird, ja dann doch meistens. Und so bleibt es bis zum Schluss spannend, ob Elenas Unternehmen Ausreise nun gelingen wird oder doch noch in letzter Sekunde scheitert.Reinas ist ein gut produzierter Film, der mit Retro-Vibes aus den frühen 90er Jahren nicht spart. Vor allem der sehr prominent besetzte Soundtrack dürfte bei einigen Erinnerungen wachrufen. Auch Ausstattung und Kulissen fügen sich stimmig in die pittoreske Atmosphäre ein. Die persönlichen Konflikte und Motivationen seiner Hauptfiguren vermitteltReinas realistisch und gut nachvollziehbar. Eine Einordnung der politischen Zusammenhänge bleibt allerdings ziemlich auf der Strecke: Erklärungen für den bewaffneten Konflikt bleiben in Klischees verhaftet oder finden gar nicht erst statt. Gerade das Ende der Geschichte wirkt daher ziemlich bemüht und unrealistisch. Auch wenn Reinas in der Berlinale-Jugendfilmsektion Generation läuft und keine allzu komplexen politischen Analysen liefern muss, fehlt es dem Film etwas an Tiefgang. So bleibt Reinas ein eher unterhaltsamer als wirklich bewegender Film. Vor allem einem jüngeren Publikum ist er aufgrund der Stimmigkeit von Charakteren und Atmosphäre aber trotzdem zu empfehlen.

LN-Bewertung: 3/5 Lamas

DIE WELT IN FLAMMEN

Filme gucken am Meer Das Hafenbecken von San Sebastián (Foto: Jone Karres Azumendi)

Mitten im kolumbianischen Urwald springen nachts fünf Teenager wild auf einem Scheiterhaufen herum. Sie halten ihre Holzschwerter in die flimmernde Luft. Das lodernde Feuer um sie erinnert an die Apokalypse und man hört sie laut singen und schreien. Es ist ein Schrei der Befreiung, ein schonungsloser Blick auf eine Welt in Flammen.

Der Film Los Reyes del Mundo (Die Könige der Welt) von Laura Mora, aus dem diese Szene stammt, war das eindrücklichste Beispiel für den Zeitgeist des Festivals in diesem Jahr und gewann deshalb auch den Hauptpreis des Festivals: Die Goldene Muschel für den besten Film. In der kolumbianischen Koproduktion (mit Mexiko, Luxemburg, Frankreich und Norwegen) begeben sich fünf Straßenkinder auf eine Reise ins Hinterland von Medellín. Eines von ihnen möchte das Grundstück seiner Verwandten zurückerhalten, die im Zuge des Bürgerkriegs von Paramilitärs enteignet wurden. Die Jugendlichen wollen hier einen Neuanfang starten. Der Regisseurin ist ein beeindruckendes, dynamisches und bildgewaltiges Roadmovie mit Bezügen zum Dokumentarfilm gelungen. Die Pressekonferenz nach der Vorführung wurde fast zur Therapiestunde, als die Laiendarsteller*innen spontan aus ihrem Leben erzählten. Aus ihren emotionalen Statements klang heraus, dass sie in ihrem kurzen Leben schon viel mitgemacht haben. Bei den Dreharbeiten seien sie zur Familie zusammengewachsen, hätten Solidarität und Liebe erlebt. Diese Erfahrung habe ihnen gezeigt, dass nicht alles im Leben Gewalt sei. Es ist eine vom politischen Konflikt und den Folgen jahrzehntelanger Gewalt und Drogenkriege in Kolumbien gezeichnete traumatisierte Generation, die nun ihren Weg sucht. Wie bewegt und bewegend diese Suche ist, zeigte zuvor auch schon die Teenie-Dokumentation Alis, die bei der Berlinale 2022 mehrfach prämiert worden war (siehe LN 573).

San Sebastián und Lateinamerika, das ist eine besondere Verbindung. Für lateinamerikanische Produktionen ist das Filmfestival im mondänen Badeort an der Atlantikküste ein wichtiges Sprungbrett auf den Weltmarkt. Es dient neben dem Wettbewerb als Plattform für Koproduktionen, besonders mit europäischen Ländern. Viele Projekte finden im Entstehungsprozess hier die nötige finanzielle Unterstützung. Jährlich sind es 17 Projekte als “Work in Progress”. Viele davon werden später auf dem Festival gezeigt. Mit Horizontes gibt es sogar eine eigene Festivalsektion speziell für lateinamerikanische Filme.

Die kolumbianische Regisseurin Laura Mora hatte 2017 bereits ihren ersten Film Matar a Jesus in der Kategorie New Directors vorgestellt und kehrte nun mit dem Gewinnerfilm zurück. „Ich bin mit dem Filmfestival aufgewachsen. Für mich ist San Sebastián mein Zuhause”, sagte Mora sichtlich gerührt nach der Preisverleihung. Und Festivalleiter José Luis Rebordinos betonte: „Die lateinamerikanische Filmindustrie hat ein enormes Potenzial. Das nutzen wir, indem wir ihr eine Plattform bieten, um Projekte zu verwirklichen. Spanien und Lateinamerika haben viele Gemeinsamkeiten – nicht nur kulturell und emotional. Das Ergebnis sehen wir jährlich im Programm.” Und das hatte dieses Jahr noch weitere sehenswerte Beiträge im Angebot.

Eine ähnliche Thematik wie Los Reyes del Mundo behandelte La Jauría (Die Meute) von Andrés Ramírez (ebenfalls Kolumbien, Koproduktion mit Frankreich). In ungeschminkten Bildern zeigt der Film, wie ein Junge vom Land in eine experimentelle Jugendanstalt mitten im kolumbianischen Regenwald gebracht wird. Verurteilt wurde er für eine Straftat, die er vor Jahren mit seinem Kumpel begangen hatte. La Jauria ist ein roher Film, der nicht mit brutalen Szenen spart. Auch Ramírez zeigt Kolumbien als ein Land, in dem die Folgen der politischen Situation vor allem in den ärmsten Regionen sichtbar sind und in dem die Hemmschwelle zur Gewalt extrem niedrig ist.

An der Peripherie der Großstadt spielte auch der Wettbewerbsfilm El suplente (Der Aushilfslehrer) des Argentiniers Diego Lermann (Koproduktion Spanien, Frankreich, Mexiko, Italien). Er handelt von einem Literaturlehrer, der in einem verarmten Vorort von Buenos Aires als Aushilfskraft eingesetzt wird. Viele der Schüler sind konfliktiv und unmotiviert. Lucio setzt die befreiende Wirkung von Literatur dagegen. Er versucht, sie davon zu überzeugen, dass das geschriebene Wort die beste Waffe im Leben ist. Als er seinen Lieblingsschüler Dylan vor der Drogenmafia retten möchte, schwenkt die Geschichte in Richtung Thriller und erinnert etwas an den bekannten Hollywoodstreifen Dangerous Minds von John N. Smith aus dem Jahr 1995.

Ein Horizontes-Latinos-Publikumsfavorit war Mi país imaginario (Mein imaginäres Land), ein Dokumentarfilm von Patricio Guzmán. Der chilenische Altmeister Guzmán dokumentiert bereits seit den 1970er Jahren die politische Lage seines von politischen Umbrüchen geprägten Landes: So zum Beispiel den Sturz von Salvador Allende oder die Diktatur Pinochets.

Mi país imaginario ist erneut ein wichtiges Zeitdokument, da der Film die Ereignisse in Realzeit festhält. Als im Oktober 2019 unerwartet die sozialen Proteste des estallido social ausbrachen, ging Guzmán mit seinem Kamerateam auf die Straße. Über eine Million Jugendliche demonstrierten in der chilenischen Hauptstadt Santiago gegen politische Korruption, für mehr Demokratie und Bildung und ein besseres Gesundheitswesen, kurz gesagt, für würdige Lebensbedingungen. Der Film zeigt eine Jugend voller Wut und Frustration und ohne Angst, die nichts mehr zu verlieren hat, zur Gewalt als letztem Mittel greift und Polizist*innen mit Steinen bewirft. Ihr Schrei nach einer neuen Verfassung wurde, wie wir heute wissen, Anfang September zur großen Enttäuschung vieler Protestierender in einem Referendum mehrheitlich und parteiübergreifend abgelehnt. Diese letzte historische Wendung ist in Guzmáns Film, der bereits vorher fertiggestellt war, natürlich nicht mehr enthalten. Aber Chile befindet sich immer noch mitten im Prozess eines tiefgreifenden Wandels, was hoffen lässt, dass der chilenische Dokumentarfilmer eine Fortsetzung dieser spannenden Momentaufnahme plant und uns damit weiterhin fast in Echtzeit zu Zeitzeug*innen einer Revolution macht.

Eine weitere chilenische Produktion, die auf die Geschichte des Landes schaut, ist 1976, gedreht von der jungen Filmemacherin Manuela Martelli. Der Spielfilm begleitet Carmen, Ehefrau aus gut bürgerlicher Familie, die zunächst nichts mit dem politischem Geschehen in ihrem Land am Hut hat und sich am besten aus Allem heraushalten will. Sie führt ein harmonisches Leben und lässt ihr Strandhaus renovieren, bis sie eines Tages der Pfarrer um einen Gefallen bittet. Sie soll einen verletzten jungen Mann pflegen, der sich versteckt hält, davon aber niemandem erzählen. Als fromme Katholikin nimmt sie sich aus Nächstenliebe seiner an. Als sie nach und nach merkt, dass er kein Krimineller ist, beginnt sie eine neue Realität zu entdecken und ihr Umfeld mit neuen Augen zu sehen. Dazu betonte die Regisseurin „Meist stehen Politiker oder Aktivisten im Vordergrund. Ich habe bewusst die Geschichte einer unpolitischen, ganz normalen Frau erzählt.” Mit Spannung erwartet wurde auch der Spielfilm Argentina, 1985 von Santiago Mitre. Filmpremiere war auf dem Festival in Venedig. Das Drehbuch basiert auf der wahren Geschichte des Staatsanwalts Julio Strassera (grandios gespielt von Altmeister Ricardo Darín), der es schaffte, die blutigen Verbrechen der argentinischen Militärjunta zu erforschen und deren Generäle vor Gericht zu bringen. Sein Abschlussplädoyer ist in die Geschichte eingegangen und bekam auch im Kinosaal Standing Ovations.

Ein ganz anderes Thema behandelt Mitres Landsmann Manuel Abramovich mit dem Wettbewerbsfilm Pornomelancolía (Argentinien, Koproduktion mit Mexiko, Brasilien, Frankreich). Darin geht es um den mexikanischen Sex-Influencer Lalo, der eine Art Doppelleben führt: In seiner Freizeit spielt er in schwulen Pornofilmen mit, tagsüber arbeitet er in einer Fabrik. Zwischendurch postet Lalo Sexfotos in seinen sozialen Netzwerken. Der Film zeigt viele traurige Facetten eines Mannes, der am Rande der Depression lebt. Dabei muss er versuchen, mit seinem Dasein als Celebrity, aber auch mit seiner Verletzbarkeit im Privatleben klarzukommen. Der Film schneidet verschiedene aktuelle Themen an und stellt mexikanische (Männlichkeits-)Mythen wie den Machismo infrage. Der junge Regisseur Abramovich betont die Vielschichtigkeit der Geschichte: „Der Film handelt neben Rollenbildern auch von Einsamkeit und Verletzbarkeit. Ich versuche, meine eigene Filmsprache zu finden, um das darzustellen, was außerhalb der Norm, der Hegemonie passiert”. Pornomelancolía wurde in San Sebastián mit dem Preis für beste Kinematografie ausgezeichnet.

Last but not least ist auch der Dokumentarfilm El caso Padilla (Der Fall Padilla) von Pavel Giraud, eine spanisch-kubanische Koproduktion, sehr erwähnenswert. Der kubanische Dichter Herberto Padilla wurde 1971 von der Regierung inhaftiert und beschuldigte sich anschließend selbst. Dies bedeutete einen Bruch der intellektuellen Welt mit der Kubanischen Revolution. Der Regisseur hat damit ein Fenster zur Vergangenheit geöffnet, das einerseits Fragen aufwirft und andererseits Hinweise geben kann, um die gegenwärtige Situation des Landes zu verstehen.

Dass kurz nach Locarno (Regra 34, Brasilien) schon wieder ein lateinamerikanischer Film ein internationales A-Festival mit dem ersten Preis verließ, zeigt die Lebendigkeit und Innovation, aber auch die Relevanz, die das Kino des Subkontinents und seine oft jungen Regisseur*innen gewonnen haben. Auf die in vier Monaten beginnende Berlinale darf man sich angesichts dieses Vorlaufs sicherlich schon jetzt freuen. Schön wäre allerdings, wenn es lateinamerikanische Filmperlen auch öfter wieder in deutschen Kinosälen zu bewundern gäbe. Denn abseits der Festivals zögern viele Verleihe offensichtlich weiterhin, die Produktionen auch im regelmäßigen Kinobetrieb zu vermarkten.

KRIEG GEGEN DIE FILMWELT

 

Marcelo Pelucio ist 1973 im Staat Ceará in Brasilien als Sohn eines Diplomaten geboren. Neben Reisen in 20 verschiedene Länder lebte er in Chile, den USA, Mosambik und Portugal. Diese Lebenserfahrungen bereicherten ihn und seine künstlerische Karriere. Im Teenageralter begann er mit seiner Schauspiel- und Musikausbildung, im Erwachsenenalter kam Pädagogik hinzu. Er ist Mitglied in der Theaterforschungsgruppe der Universität in Brasilia und spielte in 25 Theaterstücken und 50 audiovisuellen Produktionen mit. (Foto: Otoniel Targino Gomes)


Letztes Jahr wurde eine Rede von Ihnen auf dem Filmfestival in Brasilien von den Organisator*innen zensiert. Wie und warum ist das passiert?
In den Zeiten, die wir in Brasilien durchleben, ist Zensur wirklich ein zentrales Thema. Ich erzähle am besten zunächst einmal, was genau mir auf der Veranstaltung passiert ist. Im November 2019 fand in Brasilia zum 52. Mal das größte und älteste Filmfestival des Landes statt, das “Festival de Brasília do Cinema Brasileiro”. Die Umstände des Festivals waren schon vorher sehr turbulent:

1. Das Kultursekretariat in Brasilia hat die meisten finanziellen Ressourcen für den Kulturbereich gestrichen, besonders für Theater.
2. Dem Kultursekretär, Adão Cândido, fiel es schwer, einen angemessenen Dialog mit der Künstlerszene unserer Stadt zu führen.
3. Die derzeitigen politischen Rahmenbedingungen in Brasilien scheinen generell nicht künstlerische und kulturelle Aktivitäten zu begünstigen. Zum Beispiel wurde, als Bolsonaro an die Macht kam, das Kulturministerium abgeschafft.

Am Anfang des Filmfestivals war der Kultursekretär anwesend, dessen Rede man nicht hören konnte, weil er vom Publikum ausgepfiffen wurde. Der Grund der Buhrufe war die Unzufriedenheit der Künstler über die lokale Kulturpolitik. Danach bat mich die Künstlergruppe Movimento Cultural do Distrito Federal, dass ich einen Brief vorlese, den sie zuvor geschrieben hatten. Die einzige Möglichkeit, unseren Plan zu verwirklichen war, dass ich die Bühne zusammen mit einem Filmteam betrat. Ich bat das Filmteam um Erlaubnis, nach ihrer Rede den Brief vorzulesen. Ich fragte nach einem Mikrofon und begann. Nach kurzer Zeit näherte sich schon das Sicherheitspersonal und versuchte mir die Karte aus den Händen zu reißen und mich von der Bühne zu zerren. Zum Glück hat die Person, die für die Bühne zuständig ist, verhindert, dass der Security-Mitarbeiter mich stoppt. Ich konnte ein bisschen weitermachen, bis sie das Mikrofon abgestellt haben und ich sprachlos dastand.

Der Brief beinhaltete verschiedene Forderungen und Bitten von Künstlern der Stadt an die Regierenden. Wir wissen, dass die Mikrofon-Unterbrechung jemand veranlasst hat, der der Regierung und dem Sekretär nahe stand. Das zeigt, dass sie nicht zuhören wollten, oder schlimmer: Sie wollten nicht zulassen, dass das Publikum hört was im Brief stand. Nach vielen Auseinandersetzungen konnten wir glücklicherweise die Absetzung des Kultursekretärs erreichen und heute haben wir einen neuen (Anm. d. Red.: Bartolomeu Rodrigues), der anscheinend mehr von den Künstlern akzeptiert wird.

Wie verhält es sich zur Zeit mit der Zensur in Brasilien?
Im alten Rom gab es dafür eine Position, Zensor genannt. Diese Person trug die Verantwortung, die Bevölkerung zu zählen und auch für gute Sitten in der Gesellschaft zu sorgen. Das geschah durch Zensur. Das Problem daran ist, dass bestimmte Gepflogenheiten als gut angesehen werden und andere als schlecht. Alles in Allem versteht man wohin das führt, oder?

Heutzutage erleben wir in Brasilien etwas, das sich in den Liedern der 60er Jahre widerspiegelte. Wir leben von der Kultur abgeschnitten, die Kunst wird missbilligt zugunsten der Steuererleichterungen und Haushaltspolitik. Daneben gibt es tägliche Bedrohungen aus der eigenen Gesellschaft, die Künstler als Menschen zweiter Klasse verurteilt, die weniger wert sind, einfach aus dem Grund weil unsere berufliche Tätigkeit Kunst ist. Wir erleben einen Rückschritt der Gedanken, wir erleben die Demonstration der Intoleranz, Gewalt gegen alles, was nicht zu den guten Sitten zählt, im Sinne der brasilianischen Tradition und der brasilianischen Familie. Demzufolge gibt es Filme, die nicht genehmigt wurden, Vorführungen, die abgesagt werden und vieles mehr.

Es reicht, mit dieser Information abzuschließen: das Kulturministerium gibt es nicht mehr in unserem Land. Es ist als ob man sagen würde: Nun gibt es in der Regierung niemanden mehr, der für diesen in der Gesellschaft unerlässlichen Bereich zuständig ist. Diese Themenfelder unterliegen nun der Verantwortung des Tourismusministeriums.

Sie hatten vorher erwähnt, dass Künstler in Brasilia sehr unter den finanziellen Kürzungen leiden. Wie schätzen Sie die Finanzsituation im Filmsektor in stürmischen politischen Zeiten ein?
Vom Staat geht kaum Interesse aus, den Kulturbereich zu finanzieren. Trotzdem besitzen wir noch einige Mittel, aber die Förderung ist in den letzten Jahren sehr zurückgegangen; das war der Grund, weswegen wir auf dem Filmfestival demonstrierten.

Im Vertrieb liegt das größte Problem der Filmindustrie in Brasilien. Deswegen haben wir kaum Interesse, in private Initiativen zu investieren. Auf der anderen Seite ist es sehr hart, die Leute haben viele unabhängige Produktionen, besonders nach den technologischen Veränderungen und der guten Zugänglichkeit zu leicht bedienbaren Filmausrüstungen. Aus diesem Grund sehe ich, dass es trotz finanzieller Probleme in Brasilien viele kompetente Filmschaffende gibt. Um die Finanzsituation in meinem Land zu verändern, denke ich, dass wir einen Staat brauchen, der Kunst als Identitätsmerkmal unseres Landes anerkennt.

Sie sind Schauspieler, Produzent, Drehbuchautor, Musiker und Pädagoge. Was gefällt Ihnen am meisten an der Schauspielerei?
Ich mochte es immer schon die Dinge zu zeigen, die mir an meiner Persönlichkeit gefielen, um meine Defizite zu verstecken. Ein großartiger Theaterregisseur, Geraldo Thomas, hat einmal gesagt: “Ein Schauspieler muss ein Problem mit seiner Mutter haben, er durfte nicht gestillt werden und keine Aufmerksamkeit bekommen, um auf der Bühne zu stehen.” Ich denke, dass ich mich in dieser Beschreibung wiederfinden kann.

Schauspielern hat für mich mit der Lust zu tun, zu lernen, wie andere Menschen leben, was andere machen, essen, warum sie fühlen und was sie fühlen. Es steht im Zusammenhang mit der Beziehung zur Kultur, Lebensgewohnheiten und Art und Weise wie wir sind und die uns zu Menschen machen. Das Verlangen, Schauspieler zu sein und meinen Kindern in der Zukunft Geschichten zu erzählen und von Ihnen gesehen zu werden, war mein Antrieb. Aus diesem Grund arbeite ich im audiovisuellen Sektor, in der Kinematographie. Das Theater ist vergänglich, das Kino ewig.

Darüber hinaus existieren soziale Fragestellungen, psychologische, politische und persönliche. Wenn man Schauspieler ist, stellt man das Leben einer anderen Person dar. Ich stelle mir dann die Fragen: Wer ist er? Aus welchem Land kommt er? In welchem Land ist er geboren? Wie alt ist er? Hat er einen Bart? Ist er groß, klein, dick? Hat er Kinder? Ist er eher introvertiert oder extrovertiert? Mag er Frauen, Männer? Schwimmen, Essen, Reisen? Spricht er andere Sprachen? Ist er traurig, glücklich? Lebt er alleine?- Es ist genau das! Mein Leben war seit meiner Kindheit bis zum Erwachsenenalter geprägt durch wechselnde Wohnorte, Schulen, Häuser, Länder, Freunde. Ich lebte immer mit der Vorstellung, diese Grenzen zu überschreiten.

In der Schauspielerei ist das Interessanteste zu versuchen, die Grenze des Menschsein zu überschreiten. Zusammenfassend kann ich sagen: ich bin 46 Jahre alt, ich bin Brasilianer, ich habe eine Muttersprache und ich habe bestimmte Lebenserfahrungen gemacht, die mir einen Stempel aufsetzen. Ich mag es nicht in diese Schubladen gesteckt zu werden. Als ich kürzlich wegen der Berlinale in Berlin war, dachten die Leute ich sei Spanier, Araber, Grieche, Latino, Brasilianer und Türke. Das liebe ich: vielfältig zu sein. Schauspieler zu sein bedeutet vielfältig zu sein.

Eine letzte Frage: Was sind Ihre Projekte für die Zukunft?
Weil ich Kinder habe, ist es nicht immer so einfach an seine eigenen Ziele zu denken, trotzdem habe ich Projekte. Ich bin eher methodisch, ich schreibe auf, was ich machen möchte. Im Allgemeinen teile ich mein Leben in verschiedene Bereiche ein: Familie, Karriere, Gesundheit, Finanzen, Bildung, soziale Kontakte und weitere Kategorien… für jede Kategorie setze ich ein Ziel für 10 Jahre. Ein bisschen verrückt, oder?. Auf lange Sicht betrachtet, denke ich, dass es mich motiviert und einen Sinn schafft, etwas was ich täglich mache. Im Bereich Schauspielerei habe ich große Pläne für die nächsten Jahre: in Spanien Filme zu machen. Ich hege eine richtige Leidenschaft für das Spanische Kino und vielleicht scheint es ein bisschen arrogant, aber in meiner Agenda steht: Bis 2029 einen Film mit Pedro Almodóvar machen.

DAS LEBEN IST KEIN FREIZEITPARK

© Octavio Arauz

“We want to go Disney – one ticket please!“ schreien Max und Leo immer und immer wieder und stören damit Lucías Schlaf. Ihre Mutter ist müde, weil sie wie so oft die Nacht durchgearbeitet hat. Die 8 und 5 Jahre alten Brüder haben ein berechtigtes Anliegen: Wenn sie Englisch sprechen, das hat Lucía ihnen versprochen, dann fahren sie endlich alle zusammen nach Disneyland. Doch ihre Mutter kann den Wunsch nicht erfüllen, weil sie weder Zeit noch Geld hat. Allmählich wird den Beiden klar: Obwohl sie die Sprache mittlerweile ein bisschen können, wird sich ihr Wunsch so schnell nicht erfüllen.

Die Einzimmerwohnung der kleinen Familie im US-amerikanischen Albuquerque, New Mexico (bekannt aus der Erfolgsserie Breaking Bad) grenzt die Welt, in der sich Los Lobos („Die Wölfe“), der zweite Berlinale-Beitrag des mexikanischen Regisseurs Samuel Kishi Leopo abspielt, weitgehend ein. Wenig ist bekannt von der Vorgeschichte der Drei in Mexiko. Der Vater, ein Polizist, hat die Familie schon lange verlassen (die Kinder haben keine Erinnerungen mehr an ihn), sodass sich Lucía ohne viel Geld, Gepäck und Englischkenntnisse mit Max und Leo auf die Reise in die USA gemacht hat. Vorgeblich ist es ein Tourismus-Trip nach – richtig – Disneyland, tatsächlich hat Lucía nicht vor, nach Mexiko zurückzukehren. Im neuen Land aber läuft zunächst alles ganz und gar nicht so glamourös, wie sich zumindest die Kinder das ausgemalt haben. Die Wohnung ist klein, hat keine Möbel und ist zu Beginn sehr schmutzig. Ihre Mutter muss viel arbeiten und ist deshalb oft müde und gestresst, das Geld ist knapp. In eine Schule können die beiden als illegale Migranten auch noch nicht gehen. Und zu allem Überfluss müssen sie sieben strenge Hausregeln beachten: So sollen sie zum Beispiel unter keinen Umständen vor die Tür gehen, weil das Viertel, in dem sie untergebracht sind, dafür zu gefährlich ist. „Ihr seid starke Wölfe. Ihr weint nicht, sondern beißt und verteidigt euer Zuhause“, schärft Lucía ihren Söhnen ein. Doch sie selbst ist zu oft und zu lange außer Haus, als dass vor allem der ältere Max sich auf Dauer mit einer Fantasiewelt aus Cartoons und Spielen zu zweit zufriedengeben würde.

Regisseur Leopo hat Los Lobos aus autobiografischen Erlebnissen konstruiert und für den Film fiktionale und dokumentarische Elemente vermischt. Herausgekommen ist eine einfühlsame Migrations- und Familiengeschichte, die allerdings ihre Längen hat und einige Zeit braucht, bis sie richtig in die Gänge kommt. Die guten schauspielerischen Leistungen trösten darüber jedoch meist hinweg. Stark ist vor allem Martha Reyes Arias als liebevolle, aber überforderte Mutter. Los Lobos ist zwar offenkundig nicht in der Aktualität verortet (ein Handy würde viele Probleme im Film schnell lösen), zeigt jedoch einige zeitlose Probleme für (illegale) Migrant*innen auf und macht deren oft prekäre Lebensverhältnisse auch für Kinder gut versteh- und erfahrbar. Der Film läuft auf der Berlinale im Kinderprogramm Generation Kplus und ist ab 9 Jahren empfohlen.

Los Lobos // Samuel Kishi Leopo // Mexiko 2019 // 94 Minuten // Europäische Premiere // Generation Kplus

Link zum Trailer

 

Spielzeiten auf der Berlinale
Montag, 24.02.10:00, Urania
Dienstag, 25.02.14:00, Zoo Palast 2
Mittwoch, 26.02.09:30, Filmtheater am Friedrichshain
Donnerstag, 27.02. 14:00, Cubix 8
Sonntag, 01.03. 14:00, CinemaxX 1

Deutsch eingesprochen | Kopfhörer für OV

PREISREGEN UND VERSTECKTE JUWELEN

Foto: lababosacine

Der größte Gewinner war der paraguayische Debütfilm Las Herederas, der den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet, gewann, sowie mit Ana Brun (ebenfalls Spielfilm-Debütantin) für die beste Schauspielerin des Wettbewerbs prämiert wurde. Ein weiterer Silberner Bär ging nach Mexiko: Museo erhielt die Auszeichnung für das beste Drehbuch.

Außerdem erlebt das queere lateinamerikanische Kino momentan eine wahre Blütezeit. Bei den renommierten unabhängigen Teddy Awards (Queerer Filmpreis) gewannen sowohl in der Kategorie Bester Spielfilm (Tinta Bruta, Brasilien) als auch in der Kategorie Beste Dokumentation (Bixa Travesty, ebenfalls Brasilien) lateinamerikanische Beiträge. Weitere wichtige unabhängige Jurys vergaben außerdem Preise an Retablo (Peru), Zentralflughafen THF (Brasilien), Teatro de Guerra (Argentinien) und La Casa Lobo (Chile). Darüber hinaus erhielt Ex Pajé (BRA) eine lobende Erwähnung beim Dokumentarfilmpreis.

Und selbst bei den Filmen, die keine Preise gewannen, gab es einige verborgene Schätze zu entdecken. Seien es emotionale und informative Dokumentationen (Viaje a los pueblos fumigados von Altmeister Pino Solanas oder das Aufrollen der Amtsenthebung Dilma Rousseffs in O processo), exakt und atmosphärisch gezeichnete Charakterstudien wie Malambo, el hombre bueno und Marilyn, oder märchenhaft-träumerische Kunstwerke wie Unicórnio und El dia que resistia. Wer nicht die Möglichkeit hatte, die Filme direkt auf der Berlinale zu sehen, kann darauf hoffen, dass einige von ihnen den Weg in die europäischen Kinos finden werden. Oder die wunderbaren Momente aus 10 Tagen Filmfestival nochmals auf der LN-Hompage nacherleben. Eine Kritik zum preisgekrönten paraguayischen Film Las Herederas und ein Interview mit dessen Regisseur Marcelo Martinessi finden sich auf den folgenden Seiten. Und unter https://lateinamerika-nachrichten.de/berlinale-2/ gibt es noch mehr Rezensionen zu fast allen Berlinale-Langfilmen aus Lateinamerika zu entdecken. Viel Spaß beim Lesen!

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