KRIEG GEGEN DIE FILMWELT

 

Marcelo Pelucio ist 1973 im Staat Ceará in Brasilien als Sohn eines Diplomaten geboren. Neben Reisen in 20 verschiedene Länder lebte er in Chile, den USA, Mosambik und Portugal. Diese Lebenserfahrungen bereicherten ihn und seine künstlerische Karriere. Im Teenageralter begann er mit seiner Schauspiel- und Musikausbildung, im Erwachsenenalter kam Pädagogik hinzu. Er ist Mitglied in der Theaterforschungsgruppe der Universität in Brasilia und spielte in 25 Theaterstücken und 50 audiovisuellen Produktionen mit. (Foto: Otoniel Targino Gomes)


Letztes Jahr wurde eine Rede von Ihnen auf dem Filmfestival in Brasilien von den Organisator*innen zensiert. Wie und warum ist das passiert?
In den Zeiten, die wir in Brasilien durchleben, ist Zensur wirklich ein zentrales Thema. Ich erzähle am besten zunächst einmal, was genau mir auf der Veranstaltung passiert ist. Im November 2019 fand in Brasilia zum 52. Mal das größte und älteste Filmfestival des Landes statt, das “Festival de Brasília do Cinema Brasileiro”. Die Umstände des Festivals waren schon vorher sehr turbulent:

1. Das Kultursekretariat in Brasilia hat die meisten finanziellen Ressourcen für den Kulturbereich gestrichen, besonders für Theater.
2. Dem Kultursekretär, Adão Cândido, fiel es schwer, einen angemessenen Dialog mit der Künstlerszene unserer Stadt zu führen.
3. Die derzeitigen politischen Rahmenbedingungen in Brasilien scheinen generell nicht künstlerische und kulturelle Aktivitäten zu begünstigen. Zum Beispiel wurde, als Bolsonaro an die Macht kam, das Kulturministerium abgeschafft.

Am Anfang des Filmfestivals war der Kultursekretär anwesend, dessen Rede man nicht hören konnte, weil er vom Publikum ausgepfiffen wurde. Der Grund der Buhrufe war die Unzufriedenheit der Künstler über die lokale Kulturpolitik. Danach bat mich die Künstlergruppe Movimento Cultural do Distrito Federal, dass ich einen Brief vorlese, den sie zuvor geschrieben hatten. Die einzige Möglichkeit, unseren Plan zu verwirklichen war, dass ich die Bühne zusammen mit einem Filmteam betrat. Ich bat das Filmteam um Erlaubnis, nach ihrer Rede den Brief vorzulesen. Ich fragte nach einem Mikrofon und begann. Nach kurzer Zeit näherte sich schon das Sicherheitspersonal und versuchte mir die Karte aus den Händen zu reißen und mich von der Bühne zu zerren. Zum Glück hat die Person, die für die Bühne zuständig ist, verhindert, dass der Security-Mitarbeiter mich stoppt. Ich konnte ein bisschen weitermachen, bis sie das Mikrofon abgestellt haben und ich sprachlos dastand.

Der Brief beinhaltete verschiedene Forderungen und Bitten von Künstlern der Stadt an die Regierenden. Wir wissen, dass die Mikrofon-Unterbrechung jemand veranlasst hat, der der Regierung und dem Sekretär nahe stand. Das zeigt, dass sie nicht zuhören wollten, oder schlimmer: Sie wollten nicht zulassen, dass das Publikum hört was im Brief stand. Nach vielen Auseinandersetzungen konnten wir glücklicherweise die Absetzung des Kultursekretärs erreichen und heute haben wir einen neuen (Anm. d. Red.: Bartolomeu Rodrigues), der anscheinend mehr von den Künstlern akzeptiert wird.

Wie verhält es sich zur Zeit mit der Zensur in Brasilien?
Im alten Rom gab es dafür eine Position, Zensor genannt. Diese Person trug die Verantwortung, die Bevölkerung zu zählen und auch für gute Sitten in der Gesellschaft zu sorgen. Das geschah durch Zensur. Das Problem daran ist, dass bestimmte Gepflogenheiten als gut angesehen werden und andere als schlecht. Alles in Allem versteht man wohin das führt, oder?

Heutzutage erleben wir in Brasilien etwas, das sich in den Liedern der 60er Jahre widerspiegelte. Wir leben von der Kultur abgeschnitten, die Kunst wird missbilligt zugunsten der Steuererleichterungen und Haushaltspolitik. Daneben gibt es tägliche Bedrohungen aus der eigenen Gesellschaft, die Künstler als Menschen zweiter Klasse verurteilt, die weniger wert sind, einfach aus dem Grund weil unsere berufliche Tätigkeit Kunst ist. Wir erleben einen Rückschritt der Gedanken, wir erleben die Demonstration der Intoleranz, Gewalt gegen alles, was nicht zu den guten Sitten zählt, im Sinne der brasilianischen Tradition und der brasilianischen Familie. Demzufolge gibt es Filme, die nicht genehmigt wurden, Vorführungen, die abgesagt werden und vieles mehr.

Es reicht, mit dieser Information abzuschließen: das Kulturministerium gibt es nicht mehr in unserem Land. Es ist als ob man sagen würde: Nun gibt es in der Regierung niemanden mehr, der für diesen in der Gesellschaft unerlässlichen Bereich zuständig ist. Diese Themenfelder unterliegen nun der Verantwortung des Tourismusministeriums.

Sie hatten vorher erwähnt, dass Künstler in Brasilia sehr unter den finanziellen Kürzungen leiden. Wie schätzen Sie die Finanzsituation im Filmsektor in stürmischen politischen Zeiten ein?
Vom Staat geht kaum Interesse aus, den Kulturbereich zu finanzieren. Trotzdem besitzen wir noch einige Mittel, aber die Förderung ist in den letzten Jahren sehr zurückgegangen; das war der Grund, weswegen wir auf dem Filmfestival demonstrierten.

Im Vertrieb liegt das größte Problem der Filmindustrie in Brasilien. Deswegen haben wir kaum Interesse, in private Initiativen zu investieren. Auf der anderen Seite ist es sehr hart, die Leute haben viele unabhängige Produktionen, besonders nach den technologischen Veränderungen und der guten Zugänglichkeit zu leicht bedienbaren Filmausrüstungen. Aus diesem Grund sehe ich, dass es trotz finanzieller Probleme in Brasilien viele kompetente Filmschaffende gibt. Um die Finanzsituation in meinem Land zu verändern, denke ich, dass wir einen Staat brauchen, der Kunst als Identitätsmerkmal unseres Landes anerkennt.

Sie sind Schauspieler, Produzent, Drehbuchautor, Musiker und Pädagoge. Was gefällt Ihnen am meisten an der Schauspielerei?
Ich mochte es immer schon die Dinge zu zeigen, die mir an meiner Persönlichkeit gefielen, um meine Defizite zu verstecken. Ein großartiger Theaterregisseur, Geraldo Thomas, hat einmal gesagt: “Ein Schauspieler muss ein Problem mit seiner Mutter haben, er durfte nicht gestillt werden und keine Aufmerksamkeit bekommen, um auf der Bühne zu stehen.” Ich denke, dass ich mich in dieser Beschreibung wiederfinden kann.

Schauspielern hat für mich mit der Lust zu tun, zu lernen, wie andere Menschen leben, was andere machen, essen, warum sie fühlen und was sie fühlen. Es steht im Zusammenhang mit der Beziehung zur Kultur, Lebensgewohnheiten und Art und Weise wie wir sind und die uns zu Menschen machen. Das Verlangen, Schauspieler zu sein und meinen Kindern in der Zukunft Geschichten zu erzählen und von Ihnen gesehen zu werden, war mein Antrieb. Aus diesem Grund arbeite ich im audiovisuellen Sektor, in der Kinematographie. Das Theater ist vergänglich, das Kino ewig.

Darüber hinaus existieren soziale Fragestellungen, psychologische, politische und persönliche. Wenn man Schauspieler ist, stellt man das Leben einer anderen Person dar. Ich stelle mir dann die Fragen: Wer ist er? Aus welchem Land kommt er? In welchem Land ist er geboren? Wie alt ist er? Hat er einen Bart? Ist er groß, klein, dick? Hat er Kinder? Ist er eher introvertiert oder extrovertiert? Mag er Frauen, Männer? Schwimmen, Essen, Reisen? Spricht er andere Sprachen? Ist er traurig, glücklich? Lebt er alleine?- Es ist genau das! Mein Leben war seit meiner Kindheit bis zum Erwachsenenalter geprägt durch wechselnde Wohnorte, Schulen, Häuser, Länder, Freunde. Ich lebte immer mit der Vorstellung, diese Grenzen zu überschreiten.

In der Schauspielerei ist das Interessanteste zu versuchen, die Grenze des Menschsein zu überschreiten. Zusammenfassend kann ich sagen: ich bin 46 Jahre alt, ich bin Brasilianer, ich habe eine Muttersprache und ich habe bestimmte Lebenserfahrungen gemacht, die mir einen Stempel aufsetzen. Ich mag es nicht in diese Schubladen gesteckt zu werden. Als ich kürzlich wegen der Berlinale in Berlin war, dachten die Leute ich sei Spanier, Araber, Grieche, Latino, Brasilianer und Türke. Das liebe ich: vielfältig zu sein. Schauspieler zu sein bedeutet vielfältig zu sein.

Eine letzte Frage: Was sind Ihre Projekte für die Zukunft?
Weil ich Kinder habe, ist es nicht immer so einfach an seine eigenen Ziele zu denken, trotzdem habe ich Projekte. Ich bin eher methodisch, ich schreibe auf, was ich machen möchte. Im Allgemeinen teile ich mein Leben in verschiedene Bereiche ein: Familie, Karriere, Gesundheit, Finanzen, Bildung, soziale Kontakte und weitere Kategorien… für jede Kategorie setze ich ein Ziel für 10 Jahre. Ein bisschen verrückt, oder?. Auf lange Sicht betrachtet, denke ich, dass es mich motiviert und einen Sinn schafft, etwas was ich täglich mache. Im Bereich Schauspielerei habe ich große Pläne für die nächsten Jahre: in Spanien Filme zu machen. Ich hege eine richtige Leidenschaft für das Spanische Kino und vielleicht scheint es ein bisschen arrogant, aber in meiner Agenda steht: Bis 2029 einen Film mit Pedro Almodóvar machen.


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DAS LEBEN IST KEIN FREIZEITPARK

© Octavio Arauz

“We want to go Disney – one ticket please!“ schreien Max und Leo immer und immer wieder und stören damit Lucías Schlaf. Ihre Mutter ist müde, weil sie wie so oft die Nacht durchgearbeitet hat. Die 8 und 5 Jahre alten Brüder haben ein berechtigtes Anliegen: Wenn sie Englisch sprechen, das hat Lucía ihnen versprochen, dann fahren sie endlich alle zusammen nach Disneyland. Doch ihre Mutter kann den Wunsch nicht erfüllen, weil sie weder Zeit noch Geld hat. Allmählich wird den Beiden klar: Obwohl sie die Sprache mittlerweile ein bisschen können, wird sich ihr Wunsch so schnell nicht erfüllen.

Die Einzimmerwohnung der kleinen Familie im US-amerikanischen Albuquerque, New Mexico (bekannt aus der Erfolgsserie Breaking Bad) grenzt die Welt, in der sich Los Lobos („Die Wölfe“), der zweite Berlinale-Beitrag des mexikanischen Regisseurs Samuel Kishi Leopo abspielt, weitgehend ein. Wenig ist bekannt von der Vorgeschichte der Drei in Mexiko. Der Vater, ein Polizist, hat die Familie schon lange verlassen (die Kinder haben keine Erinnerungen mehr an ihn), sodass sich Lucía ohne viel Geld, Gepäck und Englischkenntnisse mit Max und Leo auf die Reise in die USA gemacht hat. Vorgeblich ist es ein Tourismus-Trip nach – richtig – Disneyland, tatsächlich hat Lucía nicht vor, nach Mexiko zurückzukehren. Im neuen Land aber läuft zunächst alles ganz und gar nicht so glamourös, wie sich zumindest die Kinder das ausgemalt haben. Die Wohnung ist klein, hat keine Möbel und ist zu Beginn sehr schmutzig. Ihre Mutter muss viel arbeiten und ist deshalb oft müde und gestresst, das Geld ist knapp. In eine Schule können die beiden als illegale Migranten auch noch nicht gehen. Und zu allem Überfluss müssen sie sieben strenge Hausregeln beachten: So sollen sie zum Beispiel unter keinen Umständen vor die Tür gehen, weil das Viertel, in dem sie untergebracht sind, dafür zu gefährlich ist. „Ihr seid starke Wölfe. Ihr weint nicht, sondern beißt und verteidigt euer Zuhause“, schärft Lucía ihren Söhnen ein. Doch sie selbst ist zu oft und zu lange außer Haus, als dass vor allem der ältere Max sich auf Dauer mit einer Fantasiewelt aus Cartoons und Spielen zu zweit zufriedengeben würde.

Regisseur Leopo hat Los Lobos aus autobiografischen Erlebnissen konstruiert und für den Film fiktionale und dokumentarische Elemente vermischt. Herausgekommen ist eine einfühlsame Migrations- und Familiengeschichte, die allerdings ihre Längen hat und einige Zeit braucht, bis sie richtig in die Gänge kommt. Die guten schauspielerischen Leistungen trösten darüber jedoch meist hinweg. Stark ist vor allem Martha Reyes Arias als liebevolle, aber überforderte Mutter. Los Lobos ist zwar offenkundig nicht in der Aktualität verortet (ein Handy würde viele Probleme im Film schnell lösen), zeigt jedoch einige zeitlose Probleme für (illegale) Migrant*innen auf und macht deren oft prekäre Lebensverhältnisse auch für Kinder gut versteh- und erfahrbar. Der Film läuft auf der Berlinale im Kinderprogramm Generation Kplus und ist ab 9 Jahren empfohlen.

Los Lobos // Samuel Kishi Leopo // Mexiko 2019 // 94 Minuten // Europäische Premiere // Generation Kplus

Link zum Trailer

 

Spielzeiten auf der Berlinale
Montag, 24.02.10:00, Urania
Dienstag, 25.02.14:00, Zoo Palast 2
Mittwoch, 26.02.09:30, Filmtheater am Friedrichshain
Donnerstag, 27.02. 14:00, Cubix 8
Sonntag, 01.03. 14:00, CinemaxX 1

Deutsch eingesprochen | Kopfhörer für OV


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PREISREGEN UND VERSTECKTE JUWELEN

Foto: lababosacine

Der größte Gewinner war der paraguayische Debütfilm Las Herederas, der den Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet, gewann, sowie mit Ana Brun (ebenfalls Spielfilm-Debütantin) für die beste Schauspielerin des Wettbewerbs prämiert wurde. Ein weiterer Silberner Bär ging nach Mexiko: Museo erhielt die Auszeichnung für das beste Drehbuch.

Außerdem erlebt das queere lateinamerikanische Kino momentan eine wahre Blütezeit. Bei den renommierten unabhängigen Teddy Awards (Queerer Filmpreis) gewannen sowohl in der Kategorie Bester Spielfilm (Tinta Bruta, Brasilien) als auch in der Kategorie Beste Dokumentation (Bixa Travesty, ebenfalls Brasilien) lateinamerikanische Beiträge. Weitere wichtige unabhängige Jurys vergaben außerdem Preise an Retablo (Peru), Zentralflughafen THF (Brasilien), Teatro de Guerra (Argentinien) und La Casa Lobo (Chile). Darüber hinaus erhielt Ex Pajé (BRA) eine lobende Erwähnung beim Dokumentarfilmpreis.

Und selbst bei den Filmen, die keine Preise gewannen, gab es einige verborgene Schätze zu entdecken. Seien es emotionale und informative Dokumentationen (Viaje a los pueblos fumigados von Altmeister Pino Solanas oder das Aufrollen der Amtsenthebung Dilma Rousseffs in O processo), exakt und atmosphärisch gezeichnete Charakterstudien wie Malambo, el hombre bueno und Marilyn, oder märchenhaft-träumerische Kunstwerke wie Unicórnio und El dia que resistia. Wer nicht die Möglichkeit hatte, die Filme direkt auf der Berlinale zu sehen, kann darauf hoffen, dass einige von ihnen den Weg in die europäischen Kinos finden werden. Oder die wunderbaren Momente aus 10 Tagen Filmfestival nochmals auf der LN-Hompage nacherleben. Eine Kritik zum preisgekrönten paraguayischen Film Las Herederas und ein Interview mit dessen Regisseur Marcelo Martinessi finden sich auf den folgenden Seiten. Und unter https://lateinamerika-nachrichten.de/berlinale-2/ gibt es noch mehr Rezensionen zu fast allen Berlinale-Langfilmen aus Lateinamerika zu entdecken. Viel Spaß beim Lesen!


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“DAS KINO KANN EINE GESELLSCHAFT HEILEN!”

Las Herederas ist der erste Film aus Paraguay im Wettbewerb der Berlinale. Was bedeutet das für Sie und das paraguayische Kino?
Man kann sagen, dass unser Kino viele Jahre lang unsichtbar war. Paraguay hat lange Zeit seine Filmproduktion vernachlässigt. Wir hatten einen bayerischen Präsidenten, den Diktator Alfredo Stroessner, der 1954 an die Macht gekommen ist und sie 1989 wieder abgegeben hat, als ich 16 Jahre alt war. Stellen Sie sich mal vor, diese ganzen Jahre praktisch ohne Filmproduktion! Das war gravierend und weil es einfach sehr wenig Filme gab, konnten wir natürlich auch nicht auf der Berlinale präsent sein. Deshalb freue ich mich auch, mit einem Film auf der Berlinale vertreten zu sein, der eine soziale Schicht behandelt, die in unserem Kino nicht oft zu sehen ist und die mit einer Reflexion über die Dinge zu tun hat, die mir in meinem Land wichtig erscheinen. Manchmal kommt es mir so vor, dass durch die Festivals, die Filmfonds, selbst durch die Kritiker ein lateinamerikanisches Kino nach ihren Bedürfnissen geformt wird, die manchmal exotisierend sind. Das kann zum Beispiel auch ein zu offensichtlich politisches Kino sein. In diesem Fall habe ich versucht, einen Film hierher zu bringen, der das nicht ist, sondern etwas, von dem ich glaube, dass wir es brauchen.

Foto: Viola Güse

Gab es wirklich gar keine Filmproduktion in Paraguay? Ich frage, weil Diktaturen das Kino ja manchmal für ihre Propaganda verwenden. Wie es zum Beispiel im Dritten Reich mit den Filmen von Leni Riefenstahl der Fall war.
In Paraguay gab es einige Firmen, die offizielle Nachrichtensendungen für das Kino machten. Die produzierten im Auftrag von Franco für die lateinamerikanischen Diktaturen und arbeiten heute alle in Madrid. Es gab 1979 einen einzigen Film, der offiziell in Paraguay produziert wurde (den Kriegsfilm Cerro Cora, Anm. d. Red.). Der Rest ist ein weißer Fleck.

Sprechen wir ein bisschen über das Setting des Films. In Las Herederas sind Männer fast unsichtbar. Wenn die Kamera auf einen Mann schwenkt, wird das Bild unscharf gezoomt. Woher kam die Idee, einen Film zu machen, in dem fast nur Frauen auftreten? Speziell ältere Frauen.
Ich glaube, da gab es viele Gründe. Als ich die Geschichte schreiben musste, habe ich nachgedacht, und die erste Sache, die mir in den Kopf kam, waren die Gespräche von Frauen untereinander. Am meisten erinnerte ich mich an die Echos der Stimmen der Frauen, die ich in meiner Kindheit kennengelernt hatte. Ich glaube, wenn man seinen ersten Film macht, sucht man nach einem sicheren Ort. Ich habe mich für ältere Frauen entschieden, weil es für mich sehr wichtig war, über eine Gesellschaft zu sprechen, die sich ständig selbst reproduziert und deswegen ist die Geschichte so wichtig. Diese Frauen tragen ihre Geschichte in ihren Gesichtern, in ihren Körpern, überall. Genauso wie das alles in den Tapeten des Hauses, in den Möbeln hing. Die vergangene Zeit ist überall präsent, um dieses Gefühl nachzuempfinden, dass wir über etwas Altes, etwas im Verfall, um das sich niemand schert.

Haben Sie diese weibliche Welt aus familiären Erinnerungen rekonstruiert? Ich kann mir vorstellen, dass der Zugang dazu für einen Mann nicht so leicht war.
Das Grundsätzliche habe ich als Kind aufgeschnappt. Viele Dinge habe ich gehört, als ich mich als Kind versteckt und gelauscht habe und ich glaube, dass es das ist, was in meinem Kopf widerhallt. Ich glaube, dass ich das heute nicht mehr hören könnte, dass ich zu dieser Intimität keinen Zugang mehr hätte. Aber es erscheint mir, dass man es Kindern verzeiht, wenn sie da sind, während die Mutter und die Tanten miteinander sprechen… Ich glaube aber auch, dass die Teile der Gesellschaft, in denen man sich untereinander verbündet, in denen der Modus Operandi der Klatsch, der Gossip ist, mein Interesse wecken. Das erscheint mir in einer Gesellschaft wie der, aus der ich komme, von fundamentaler Wichtigkeit.

Und dann das Männerbild. Ich denke, dass Sie sehr oft darauf stoßen werden, wenn Sie über Lateinamerika sprechen. Das sind machistische Gesellschaften dort, in denen erwartet wird, dass der Mann immer alle Antworten kennt. Dass er seiner Sache immer sicher ist, immer alles weiß. Die Frauen können sich aber Fragen stellen. Und mir schien es, dass über die weiblichen Charaktere die beste Herangehensweise wäre, um Fragen zu stellen. Also habe ich mir gesagt: So machen wir das!

Würden Sie ihren Film als feministischen Film bezeichnen?
Nein. Ich glaube, es ist ein humanistischer Film. Weil die Frauen keine feministischen Positionen vertreten, es sind verschiedene Arten von Frauen. Ich weiß nicht, wie Feministinnen oder lesbische Kollektive den Film aufnehmen werden. Das entzieht sich meiner Kontrolle. Aber was ich mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass ich versucht habe, einen Film zu machen, der so humanistisch wie möglich sein sollte.

Der Film behandelt auch das Thema der sozialen Klasse, in diesem Fall der höheren sozialen Klasse. Das bemerkt man zum Beispiel im Verhältnis mit den Hausangestellten. Obwohl sie fast kein Geld mehr hat, möchte Chela, die Protagonistin, nicht auf ein Dienstmädchen verzichten. Wie präsent ist dieser Aspekt in der Gesellschaft in Paraguay?
In Paraguay gibt es eine enorme soziale Ungleichheit. Es ist eine Gesellschaft, in der wir sehr daran gewöhnt sind, dass ein Teil der Bevölkerung immer Diener, Chauffeure, Gärtner hat und der Rest am Existenzminimum lebt. Das erscheint mir sehr wichtig. Während der Entstehung des Films habe ich viel am Universum dieser Frauen gearbeitet und nicht so sehr an der Figur der Hausangestellten. Ich glaube, das ist erst gekommen, als wir diese Schauspielerin kennengelernt haben, die wirklich von Beruf Hausangestellte ist, bei meinem Nachbarn. Sie wohnt tatsächlich direkt neben meinem Haus. Und ausgehend von der Verbindung, die sie mit Chela hat, haben wir begonnen, darüber nachzudenken, ob ein großer Teil dessen, was passiert, daran liegt, dass es keinen Dialog zwischen den sozialen Klassen gibt, dass es da eine Annäherung, ein Gespräch geben müsste, damit die Dinge beginnen, sich zu ändern. Und ich glaube, das ist etwas sehr Wichtiges.

Ein anderes Thema des Films ist die Freiheit, die Chela sich nach und nach erarbeitet. Wenn wir über das Filmemachen in Paraguay reden, wo heute ein ziemlich repressives System an der Macht ist: Wie viel Freiheit gibt es heute für Filmemacher*innen in Paraguay?
Ich glaube, ich möchte hier nicht direkt vom repressiven System sprechen. Denn abgesehen davon, dass wir gerade einen Präsidenten haben, der in Anschuldigungen bezüglich Drogenhandel, Zigarettenschmuggel und Geldwäsche verstrickt ist, glaube ich, dass in Paraguay nicht nur der Staat, sondern das Bürgertum versagt. Es gibt diese romantische Beziehung zwischen der Bourgeoisie und den Diktatoren, die mir als etwas sehr Mächtiges erscheint. Und auf andere Weise besteht sie weiter fort, in diesen neuen Modellen, in denen die Mächtigen nicht mehr Diktatoren sind, sondern Schmuggler, Drogenbosse, andere Formen des Regierens. Für mich ist in diesem Moment, wenn ich von heute spreche, nicht mehr die Repression der Regierung das Schlimmste. Sondern die Unterdrückung durch die Gesellschaft, die viel stärker ist.

In Ihren Filmen sprechen Sie über kontroverse Themen, wie zum Beispiel das Massaker an der Landbevölkerung in Curuguaty. Wie wird das in Paraguay aufgenommen?
Diesem Film, der La voz perdida (Die verlorene Stimme) heißt und in Venezuela den Kurzfilmpreis Horizonte gewonnen hat, scheint mir ein so politischer Film zu sein, dass er dort, wo ich herkomme, als Propaganda aufgefasst wird. Es gibt in Paraguay keine große Offenheit dafür, keinen Wunsch, sich ernsthaft mit den Ereignissen zu befassen. Die Leute begnügen sich damit, die Nachrichten zu lesen. Aber wir wissen natürlich über die Entstehung dieser Nachrichten, die in Wirklichkeit große Manipulationen sind, Bescheid. Ich glaube, in Paraguay wäre dringend ein öffentlicher Fernsehkanal nötig. Ich habe schon einmal an so einem Projekt für öffentliches Fernsehen mitgearbeitet. Weil ich wirklich glaube, dass es wichtig ist, was es hier in Europa gibt: Eine Tradition öffentlicher Fernsehanstalten. In Lateinamerika gibt es das nicht. In Lateinamerika entsteht Kommunikation auf Privatinitiative und ich glaube, das ist sehr gefährlich für unsere Gesellschaft. Denn sie entsteht natürlich manipuliert durch die Interessen der großen Mediengruppen. Deshalb ist es mir sympathisch, dass Sie (Lateinamerika Nachrichten, die Red.) kollektiv organisiert sind. Das ist klug.

Aber auch viel Arbeit.
Die ist es wert.

Kommen durch den Erfolg, dass es ein Film aus Paraguay in den Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, weitere Produktionen aus Paraguay nach? Gibt es eine junge Filmszene, die gerade entsteht?
Ja, es gibt eine neu entstehende, vielseitige paraguayische Filmszene, die verschiedene Aspekte behandelt. Aber ich glaube, dass die Unterstützung jedweder Filmproduktion fehlt. Es ist viel besser, auf der Basis öffentlicher Filmfonds zu arbeiten, die die Wichtigkeit des Kinos für den Aufbau einer Gesellschaft verstehen. In Paraguay gibt es immer diese Diskussion: „Wie kann man ins Kino investieren, wenn man doch die Ausgaben für die Gesundheit verwenden müsste?“ Das ist für mich eine grundlegende Debatte und ich vertrete dabei immer die Position, dass das Kino genauso Verletzungen heilt. Nur auf andere Weise.

Gibt es da Interesse von Seiten der Politik?
Wenig. Momentan laufen wir sogar Gefahr, dass Paraguay aus IberMedia, dem einzigen regionalen Filmförderfonds, dem wir angehören, austritt. Da werden wir dagegen kämpfen.


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IM ROSTIGEN KÄFIG


„Ganz Paraguay ist ein großes Gefängnis“ sagt Regisseur Marcelo Martinessi auf der Pressekonferenz zu Las Herederas. Das repressive politische System, das 2012 nach einer kurzen Phase der Lockerung durch einen kalten Putsch ins Land zurückgekehrt ist, lässt ungute Erinnerungen an das jahrzehntelange brutale Regime von Alfredo Stroessner, einer der letzten Militärdiktaturen Lateinamerikas, wach werden. Insofern ist es eine kleine Sensation, dass in diesem Klima der erste paraguayische Spielfilm aller Zeiten entstanden ist, der es in den Wettbewerb eines großen Filmfestivals geschafft hat. Martinessi, der bereits 2016 in Venedig den Preis für den besten Kurzfilm mit einem Beitrag über das Massaker an der Zivilbevölkerung in Curuguaty gewonnen hat, wählt mit Las Herederas eine für das männlich dominierte Paraguay ungewöhnliche, aber genau aus diesem Grund auch logische Perspektive: Der Fokus liegt komplett auf dem Privatleben mehrerer älterer Frauen.

Die Geschichte folgt Chela (herausragend in ihrem ersten Kinofilm: Ana Brun), einer in die Jahre gekommenen Dame der besseren Gesellschaft in Paraguay. Sie wohnt in einer nicht öffentlich ausgelebten Partnerschaft mit ihrer Freundin Chiquita (Margarita Irún) unter einem gemeinsamen Dach. Aber die Zeiten werden magerer und das Geld aus einer Erbschaft (vermutlich aus einer vorangegangen heterosexuellen Ehe) ist aufgebraucht. Deshalb wird im Laufe des Films nach und nach im wahrsten Sinne das Tafelsilber der beiden Herederas (Erbinnen) verscherbelt: Besteck, Tisch, Klavier. Als Chiquita wegen ihrer Schulden für kurze Zeit ins Gefängnis muss, sieht sich Chela, die ihr ganzes Leben lang nie selbstständig agieren konnte – oder durfte – plötzlich völlig auf sich allein gestellt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten findet sie sich jedoch schnell zurecht und baut mehr oder weniger durch Zufall einen Fahrservice für Frauen auf. Auf diese Weise macht sie die Bekanntschaft der lebenslustigen Angy (Ana Ivanova), zu der sie sich mehr und mehr hingezogen fühlt.

Martinessi geht im Film mehrere wichtige soziale Themen an, ohne dabei die Brechstange auspacken zu müssen. Das Getratsche der Frauen über ihre Hausangestellten aus der unteren sozialen Klasse, auf die selbst die quasi bankrotten von ihnen nicht verzichten wollen, ist eines davon. Ein anderes ist die völlige Ausblendung der gesellschaftlichen Realitäten, von denen die Frauen bei ihren Kaffeekränzchen und Dominozirkeln nichts mitbekommen. Erst durch Chiquitas Zwangsaufenthalt im Frauengefängnis kommen sie damit in Kontakt – und überraschenderweise finden sie dort trotz der teilweise chaotischen Verhältnisse sogar in gewisser Weise mehr Freiheit als in ihrem geordneten, aber von gesellschaftlichen Zwängen eingeengten Leben draußen. Zudem setzt auch der goldene Käfig, in dem viele von ihnen jahrzehntelang gut gelebt haben, durch die finanziellen Schwierigkeiten langsam immer mehr Rost an und bietet keinen Schutz mehr.

Las Herederas ist ein Film, der in leisen und subtilen Tönen ein komplexes Gesellschaftsporträt der (weiblichen) Oberschicht Paraguays entwirft. Die Protagonistinnen gehören zu einer „verlorenen Frauengeneration“ des Landes, die fast ihr komplettes Leben unter der Stroessner-Diktatur verbracht hat und niemals ihre Bedürfnisse jedweder Art offen ausleben konnte. Das Ergebnis war ein völliger Rückzug ins Privatleben und eine Unterordnung der Bedürfnisse unter ökonomischen Wohlstand, während das politische und gesellschaftliche Leben fast ausschließlich von Männern bestimmt wurde. Wie Martinessi diesen Spieß umdreht, wie er jedes Mal, wenn ein Mann im Film beginnt, zu sprechen (und das ist äußerst selten der Fall) die Kamera unscharf zoomt, das ist so bemerkenswert wie mutig. Kein einziger Mann nimmt auch nur im Ansatz eine Rolle ein, die über reine Dekoration hinausgeht. Und so öffnet sich der Blick auf eine Perspektive, die von teils sichtbaren, teils verborgenen Strukturen über Jahrzehnte fast unsichtbar bleib.So transportiert der Film feministische Ideen, ohne sie direkt anzusprechen.

Ein Interview mit dem Regisseur Marcelo Martinessi erscheint in der März-Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten.

Las Herederas lief im Wettbewerb der Berlinale. Die Hauptdarstellerin Ana Brun bekam den Silberen Bären für ihre schauspielerische Leistung. Der Film wurde außerdem mit dem Alfred-Bauer-Preist für Filme, die neue Perspektiven eröffnen, ausgezeichnet.


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DIEBE OHNE MOTIV

Der Weihnachtsmann kommt nicht in diesem Jahr zu Familie Núñez. Denn der Großvater, der den Job immer für die Kinder übernommen hat, ist kürzlich verstorben. Und Juan (Gael García Bernal), einziger männlicher Spross und deshalb von der Familie wie selbstverständlich zur Nachfolge auserkoren, hat darauf so überhaupt keine Lust („Vielleicht gehe ich als Quetzalcoatl, das ist wenigstens ein mexikanischer Gott“) und ohnehin ganz andere Pläne. Denn aus Gründen, die er selbst nicht so recht erklären kann, will er an diesem Heiligabend mit seinem Freund Wilson (Leonardo Ortizgris) das anthropologische Museum in Mexiko City ausrauben. Vielleicht aus Abenteuerlust, vielleicht aus Rebellion gegen seine Familie, in der er als Nichtsnutz und enfant terrible gilt, vielleicht auch weil die Sicherheitsvorkehrungen so lächerlich sind, dass er es versuchen will, bevor es jemand anderes tut. Der Raub der spektakulärsten Stücke gelingt und schafft doch mehr Probleme als den beiden Amateurdieben lieb ist. Denn am nächsten Tag sind sie in ganz Mexiko zur Fahndung ausgeschrieben und werden als Schänder des nationalen Erbes von der öffentlichen Meinung an den Pranger gestellt. Also so schnell wie möglich weg mit der heißen Ware, doch auch das gestaltet sich bei weitem nicht so einfach, wie Juan es sich in seinen recht kühnen Träumen vorgestellt hat.

Alonso Ruizpalacios (Güeros) beginnt seinen Film als klassisches Buddy-Movie, mit denen Gael García Bernal (z.B. Y Tu Mamá También) sich ja auch schon des Öfteren erfolgreich versucht hat. Sein dort kongenialer Partner Diego Luna kann ihm zwar diesmal weder im Film noch als Jurymitglied der Berlinale (wie letztes Jahr) helfen. Die Fahrten von Juan und Wilson durch pittoreske mexikanische Landschaften und ihr oft recht zielloses Herumvagabundieren zwischen Partys und dem Ernst des Lebens entbehren aber nicht eines gewissen Wiedererkennungseffekts. Trotzdem funktioniert der Film bis zur Hälfte als atmosphärisch dichtes Roadmovie recht gut, auch weil des Öfteren Fragen der ethischen Verträglichkeit von Archäologie zur Sprache kommen. Danach verliert sich Regisseur Ruizpalacios aber leider in fragwürdigen stilistischen Experimenten und billigen Latino-Klischees, die den Film wohl massentauglich machen sollen, ihm aber dadurch komplett die Dynamik nehmen. Dass Museo sich nur sehr locker an die historischen Fakten hält, ist dabei noch das kleinste Problem. Dass aber bis zum Schluss nicht klar wird, was die eigentlichen Motive der Täter waren, schon ein größeres. Denn genau darin hätte ja die Chance einer Adaption im Vergleich zu einer historisch korrekten Wiedergabe der Fakten bestanden: Den Tätern ein Motiv und somit den Charakteren ein viel schärferes Profil geben zu können. Ein wenig mehr Abweichen von den sicheren, massentauglichen Pfaden hätte dem Film gerade gegen Ende hin gutgetan. So bleibt von Museo am Ende nicht viel mehr als ein handwerklich weitgehend ordentlich inszeniertes Popcorn-Movies mit einigen gelungenen Lachern übrig. Der Berlinale-Jury hat der Film aber offensichtlich sehr gut gefallen. Museo lief im Wettbewerb des Festivals und erhielt den Silbernen Bären für das beste Drehbuch.


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ÄSTHETISCH MÄRCHENHAFT

Eine einsame Hütte in den Bergen, nur bewohnt von der jungen Maria (Bárbara Luz) und ihrer Mutter (Patricia Pillar). Ein Granatapfelbaum, ein Brunnen, der Wald. Und ein äußerst attraktiver Ziegenhirte, der mit seiner Herde vorbeikommt. Das ist das Setting von Unicórnio, dem zweiten Spielfilm des brasilianischen Regisseurs Eduardo Nunes. Wer darauf hofft, dass sich hier nun ein actionreicher, atemloser Plot entfaltet, liegt leider falsch, denn Unicórnio ist, das merkt man schon bald, ein langsamer Film. Sehr langsam. Minutenlange Einstellungen der Hütte, der Landschaft, der Alltagshandlungen der Protagonisten, könnten dazu führen, sich gelangweilt abzuwenden. Dass das nicht passiert, liegt vor allem an den spektakulär schönen Bildern, die Nunes erschafft. Die Geschichte von Unicórnio basiert auf zwei Erzählungen von Hilda Hilst, einer brasilianischen Autorin des magischen Realismus. Und „magisch“ ist auch eine gute Beschreibung für die wundervollen Aufnahmen der Kamera und die märchenhaft wirkenden Kulissen. Speziell die warmen, nachkolorierten Farben (ein hochaufwendiger Prozess, der über 5 Monate in Anspruch nahm) ziehen in den Bann, laden zum Träumen ein, bieten mentale und visuelle Entspannung. Selbst die Bäume in der Gebirgslandschaft – echt oder nicht – wirken so, als wären sie zur Meditation in einen Feng-Shui-Landschaftsgarten gepflanzt. Es fehlt eigentlich nur noch, dass die Tür der Hütte aufgeht und ein paar Hobbits zum Tee vorbeigeschlendert kommen. Das titelgebende Einhorn wartet ohnehin schon im Wald.

Die Handlung von Unicórnio ist enigmatisch und lässt verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen. Symbolische Gegenstände und Handlungen lassen unter anderem an die Geschichte von Adam und Eva oder antike Sagen und Mythen erinnern. Neben den Szenen vor der einsamen Hütte, bei denen sich sowohl Maria als auch ihre Mutter vorsichtig dem Hirten annähern, sind aber auch immer wieder Szenen vor einer weißen Wand zu sehen – vermutlich ein Krankenhaus oder eine psychiatrische Einrichtung. Ana unterhält sich hier mit ihrem Vater, der die Familie aus Gründen, die offen bleiben, verlassen hat, über Gut und Böse, Gott, und andere tiefgründige Themen. Wann die Szenen stattfinden – vor oder nach der Haupthandlung – bleibt ebenso offen wie das Ende, das großen Spielraum für Interpretationen lässt. Dass selbst Regisseur und Hauptdarstellerin auf Nachfrage unterschiedliche Auffassungen dazu äußerten, sollte alle Zuschauer*innen dazu ermutigen, sich eine eigene Meinung zu bilden – vielleicht gibt es hier auch nicht eine, sondern mehrere Wahrheiten.

Unicórnio ist sicherlich ein sehr spezielles Kinoerlebnis, auf das man sich einlassen muss. Zwei Stunden, in denen im Grunde kaum etwas passiert, in denen es für einige Geschehnisse keine eindeutige Erklärung gibt und in dem das Tempo maximale Entschleunigung vorgibt, sind vielleicht nicht für jeden Geschmack geeignet. Wer aber Film nicht nur als atemlose Erzählung, sondern als visuellen, poetischen Genuss verstehen kann, der wird für die Geduld in Unicórnio mit einem der ästhetisch schönsten Filme der diesjährigen Berlinale belohnt werden.

Unicórnio lief auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Generation 14plus.


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TWERKING GEGEN DEN MACHISMUS

Die Erzählung von Bixa Travesty (75min) unterteilt sich in drei Ebenen. Da ist zunächst die Bühne, auf der die brasilianische Popfigur und schwarze Trans*frau Linn Da Quebrada zusammen mit Jup Do Bairro (auch Trans* und seine Partnerin in Crime) mächtige, politische und rhythmische Funk-Lieder singt. Die Performances sind voller Farben und Energie, so dass die Message tief ins Bewusstsein der Zuhörer*innen dringt. Die Lieder greifen brasilianische Machos und die rassistische Gesellschaft an, sind voller Wut, die sich aus der Unterdrückung armer schwarze Transsexueller speist. In dieser Wut gibt es aber eine echte Klarheit, die zu hören wichtig ist.

Die zweite Ebene: Linn Da Quebrada und Jup sprechen über verschiedene Anliegen in ihrem Radioprogramm. Unter anderem werden die Themen Hochzeit, Liebe, Politik, Machismus oder Körper mit unvergleichlichem Humor und Charisma von beiden Künstlerinnen behandelt. Das Radioprogramm wäre sehr empfehlenswert für religiöse Fundamentalist*innen, weil beide Frauen sich darum kümmern, kontroverse Fragen über Transsexualissmus ganz einfach zu beantworten.

Die dritte Ebene ist vielleicht die wichtigste von allen und auch der Grund, der diese 75minütige Dokumentation zur einem der “Must-See-Filme” der 68. Berlinale machte. Die Kamera verlässt die Bühne und die Radiosendung und betritt Da Quebradas privates Leben. Die erste Szene spielt in der Küche. Während das Essen gekocht wird, spricht Linn mit ihrer Mutter über die Romantisierung von Armut, ihre eigene Familiengeschichte in den Favelas von Sao Paulo und wie wichtig es ist, sich selbst und den eigenen Körper zu lieben. Ab diesem Punkt wird man tiefer in Da Quebradas Leben getaucht, um sie kennenzulernen: zum Beispiel wie sie gegen den Krebs gekämpft und überlebt hat und welche politischen und körperlichen Reflektionen sie dadurch erfahren hat. Linn da Quebrada hat eine besondere Einstellung, die sie alle diese Themen immer mit einem positiven Blick betrachten und über sie lachen lässt. Sie hat ein grosses Charisma. Die Zuschauer*innen müssen unwillkürlich zusammen mit ihr lachen und sich vielleicht – warum nicht? – ein bisschen in sie verlieben.

Musik und Rhythmus spielen in diesen Film eine besondere Rolle, dafür haben die Brasilianer*innen einfach ein gewisses Talent. Man kann sich auf großartige Bilder, Humor und viel Queer Twerking freuen.

Der Film der Regisseur*innen Claudia Priscilla und Kiko Goifman lief auf der Berlinale in der Sektion Panorama und gewann den queeren Filmpreis Teddy Award für die beste Dokumentation.


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EIN FILM FÜR DEN WANDEL

Während die Aufnahmen der argentinischen Einöde auf den ersten Blick eine schier endlose Weite vermitteln, ist gerade diese Umgebung beklemmend eng für den jungen Marcos. Nur hinter verschlossenen Türen tuscht er heimlich seine Wimpern und posiert in den bunten Röcken seiner Mutter vor dem Spiegel. Mit dem plötzlichen Tod des Vaters muss der Sohn einer Bauernfamilie mehr Verantwortung auf dem Hof übernehmen und ihm bleiben immer weniger Gelegenheiten für diese Ausflüchte aus dem harten Alltag. An Karneval kann er endlich sein wahres Ich in den Kleidern, die ihm gefallen, zeigen. Als „Marilyn“ macht sich Marcos jedoch auch angreifbar und ist verschiedensten Reaktionen der Dorfbewohner*innen von Begehren bis zu Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt.

Das Langfilmdebüt des argentinischen Regisseurs Martín Rodríguez Redondo zeichnet den steinigen Weg des Erwachsenwerdens und der queeren Selbstfindung in einer von konservativen Hierarchien geprägten Gesellschaft. Dabei gehen Ästhetik und Plot jedoch über die Grenzen eines klassischen Coming-of-age-Films hinaus. Neben Sexismus und Homophobie werden auch von Klassenunterschieden motivierte strukturelle und physische Gewalt sowie gesellschaftliche Unterschiede zwischen Stadt und Land thematisiert. Diese Komplexität der Hintergründe bindet sich jedoch ohne aufwendige Theatralik in die Geschichte ein. Sehr puristisch, ohne zusätzliche Musik und viele Dialoge, aber mit einigen überraschenden Wendungen, fokussiert sich Marilyn auf die Entwicklung der Hauptperson und deren innere Zerrissenheit.

Der Film lebt auch von der hervorragenden Leistung des Hauptdarstellers Walter Rodríguez, dessen persönlicher Bezug und emotionale Nähe zum tragischen, aber dennoch nicht hoffnungslosen Schicksal von Marcos/Marilyn spürbar ist. „Als ich zuerst das Drehbuch las, dachte ich nicht: Dieser Film wird alles für mich ändern. Aber ich habe gemerkt, er ist eine weitere Waffe im Kampf für den Wandel“, sagte er bei der Weltpremiere des Films am 19. Februar.

Die grenzübergreifende chilenisch-argentinische Produktion basiert auf einer wahren Geschichte. Die echte Marilyn konnte den Film im Gefängnis anschauen und sah in ihm „eine Dokumentation ihres Lebens“, so Redondo.

Marilyn lief 2018 im Berlinale Panorama.


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GERICHTSSHOW FÜR FORTGESCHRITTENE

„Voltamos pra inferninho?“ („Gehen wir zurück in die Hölle?“) fragt José Eduardo Cardozo und er meint: den Gerichtssaal. Cardozo ist Rechtsanwalt und führte die Verteidigung der brasilianischen Präsidentin Dilma Roussef bei ihrem Amtsenthebungsprozess an. Ohne Erfolg, wie man heute weiß. Auf dem Weg dorthin hat er aber dennoch bemerkenswerte Arbeit geleistet. Dass dies nicht in Vergessenheit gerät, dafür sorgt der Dokumentarfilm O processo (Der Prozess) von Maria Augusta Ramos, der auf der Berlinale seine Weltpremiere feierte, und in dem Cardozo eine der wichtigsten Figuren ist.

Der Amtsenthebungsprozess der Präsidentin, der dem Film seinen Namen gibt, war ein bürokratisches Monster in mehreren Akten und – wie man heute mit großer Sicherheit sagen kann –ein abgekartetes Spiel, das deswegen von vielen als „kalter Putsch“ bezeichnet wird. Nicht weniger monströs war auch die Aufgabe, die sich Maria Augusta Ramos stellte. Aus 400 Stunden Material hat sie einen 137-minütigen Film destilliert, der ein anschauliches Bild der Ereignisse liefert – allerdings nur, und das ist die große Einschränkung, für Personen, die sich bereits mit Ablauf und Protagonist*innen der Ereignisse aus den Jahren 2016 und 2017 auskennen. Ramos folgt hauptsächlich dem Verlauf des Prozesses und filmt ihre Protagonist*innen bei der Arbeit, was fast den Eindruck eines Kammerspiels vermittelt. Ab und zu werden zur Auflockerung Bilder von Demonstrationen für und gegen die Präsidentin auf den Straßen, seltener private oder halb-private Eindrücke einzelner Personen oder Bilder aus der Stadt Brasilia eingespielt. Musik gibt es nicht zu hören. „Spartanisch“ nennt die Regisseurin ihre filmische Herangehensweise. „Ich mag das“.

Im Gegensatz dazu stehen die oft chaotischen Szenen aus Gerichtssälen oder Parlamenten. Angefangen mit der legendären Abstimmung im brasilianischen Parlament, in der die Stimmen pro oder contra Dilma Amtsenthebungsverfahren unter anderem Gott, der eigenen Familie, ehemaligen Folterknechten, der Demookratie, Truckern oder der LGBT*-Bewegung gewidmet wurden und einige Abgeordnete sich wüst beschimpften und bespuckten. Sprechchöre, Tumulte, das Absingen der Nationalhymne nach gewonnenen Abstimmungen – in Deutschland undenkbar, in Brasilien mittlerweile Normalität. Neben diesen oft befremdlich wirkenden Ausuferungen zeigt der Film aber auch sehr exakt den Austausch von Argumenten und Gegenargumenten im Gerichtssaal. Dabei fokussiert sich die Regisseurin auf einige emblematische Personen, zum Beispiel die Anwälte der Verteidigung (Cardozo) und der Anklage. Letztere in Person der Evangelikalen Janaina Paschoal, die nicht nur der Verteidigung mit ihren substanzarm-pathetischen, oft mit Tränen untermalten Reden („Dilma, es tut mir leid, wenn ich dir wehtun muss, aber deine Enkelkinder werden mir für deine Amtsenthebung dankbar sein!“) den letzten Nerv raubt. Brilliant dagegen die messerscharfen Analysen und Diskurse ihres Gegenspielers José Cardozo, der sich mit seiner couragierten Verteidigung eines von vorne herein verlorenen Falls großen Respekt erwirbt und fadenscheinige Argumente der Anklage gekonnt entkräftet. Gut nachvollziehen kann man den Verlauf des Prozesses dadurch, dass Maria Augusta Ramos den Argumentationen und auch den Protagonist*innen beider Seiten Platz einräumt. Dies war ihr leider bei den strategischen Lagebesprechungen vor den Verhandlungen und Abstimmungen nicht möglich, da ihr nur die Verteidigung die Erlaubnis erteilte, zu filmen. Die Diskussionen dort gehören zu den Highlights des Films, da man dort intime Eindrücke in politische Strategien gewinnt, die sonst meist im Verborgenen bleiben.

Die Schwäche von O processo ist, dass er ein Film von Expert*innen für Expert*innen ist. Als Nicht-Kenner*in der Personen und des brasilianischen politischen Systems ist es schwer, ja fast unmöglich, dem Geschehen zu folgen. Dafür verantwortlich sind zum Teil auch ganz schlichte handwerkliche Fehler. Namen der Protagonist*innen werden so gut wie nie eingeblendet, die einzelnen Schritte der Amtsenthebung weder in Wort noch in Schrift erklärt. So kann man als Außenstehende*r zwar interessiert den Debatten folgen, weiß aber nie, wo diese gerade stattfinden – in der Abgeordnetenkammer, im Senat, vor einem Gericht oder ganz woanders? Schade, denn so verspielt Ramos die Chance, ihre ansonsten hervorragend gemachte Dokumentation für ein breiteres Publikum verständlich zu machen. Dennoch ist O processo aber eine wichtige und sehenswerte filmische Aufarbeitung von Ereignissen, die als eines der dunkleren Kapitel des brasilianischen Politik- und Justizsystems in die Geschichte eingehen werden.

 

O processo lief auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Panorama Dokumente.

 


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GUTE ESSGESCHICHTEN

Köstlichkeiten brauchen keine Sterne. Sie benötigen auch kein Restaurant. Doch ohne die nötigen Zutaten wird es schwierig. Und es wurde schwer, als Anfang der 1990er Jahre der Handel von Zuckerrohr gegen lebensnotwendige Importgüter mit der Sowjetunion wegbrach, weil sich diese auflöste. Kuba erlebte eine Zeit extremer Entbehrung, die den meisten Menschen die tägliche Versorgung mit Lebensmitteln zur beschwerlichen Hauptaufgabe machte.

Mit einer Einführung in die kubanische Geschichte der „Sonderperiode“ beginnt der Film Cuban Food Stories des inzwischen in New York lebenden Regisseurs Asori Soto. In neun Episoden führt er als heimkehrender Besucher die Zuschauer*innen durch die Kochtöpfe und offenen Feuer der Insel. Die Knappheit von Nahrungsmitteln in den 1990er Jahren führte zum teilweisen Verschwinden kulinarischer Fertigkeiten, was noch heute spürbar sei, so der Regisseur mit englisch sprechender Stimme aus dem Hintergrund. Beispielsweise muss der Gastgeber in Trinidad stundenlang durch mehrere Läden laufen, um die Zutaten für seine Gäste zu besorgen. Die bereiteten Speisen sind wiederum das Beste, was man sich wünschen kann bei Gedanken an Frische, Hingabe und Natürlichkeit. Zu entdecken gibt es in den recht kurzen Episoden vor allem Hausmannskost, oft draußen zubereitet, auf dem Boot oder am Strand. Keineswegs Küche, mit der Köche um Sterne kochen, dafür charmantes Essen am Herkunftsort.


Die Zuschauer*innen staunen nicht nur über die kulinarische Vielfalt, sondern werden gepackt von der Leidenschaft und dem Herzblut der Kubaner*innen an ihren Kochtöpfen. Gerade die alltäglichen Herausforderungen, welche das Leben für viele beschwerlich machen, bringen die Menschen am Esstisch zusammen. Sie teilen gemeinsam – sowohl das Essen als auch die Probleme. Eine lukullische Reise durch die Insel. Ein Dokumentarfilm der Sehnsüchte.

 

Cuban Food Stories waren 2018 im Berlinale Special zu sehen.


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SOJAMEER STATT PFIRSICHBÄUME

Grünes Meer soweit das Auge reicht. Millionen Hektar Sojaplantagen bedecken das Land und auch wenn Argentiniens Soja-Problematik ökologisch interessierten Menschen geläufig sein mag, wurde sie selten so plakativ und geballt vorgeführt, wie in Viaje a los pueblos fumigados (Reise in die verseuchten Dörfer).

Der Dokumentarfilm erzählt die Geschichte des Sojabooms in Argentinien, die gefeierten Anfänge, die Entwicklung, die extremen Folgen. Dafür reist Regisseur Fernando „Pino“ Solanas durch verschiedene Provinzen Argentiniens und widmet sich der dortigen Sojaproduktion und den damit verbunden Problematiken – es geht um Entwaldung, Vertreibung von indigenen Gemeinden, Landflucht, Binnenmigration. Aber auch um Agrobusiness, transnationale Verflechtungen, Patentrechte, die extremen gesundheitlichen Folgen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und Rückstände von Pestiziden in Flüssen, in Böden, im Gemüse, in Blutanalysen.

So reist das Team von Pino Solanas in die Provinz Salta, trifft dort auf Wichi-Communities, die mit Pflanzenschutzmittel geradezu „bombardiert“ und von Gebieten, in denen sie über 200 Jahre ansässig waren, vertrieben werden, da diese als Sojaanbaugebiete genutzt werden. Oder nur noch eingezäunt in Arealen leben, weil Straßen und Zugangswege bereits privatisiert sind. Solanas besucht ländliche Schulen, über die die Sprühflugzeuge ohne Beachtung vorgeschriebener Distanzen hinwegfliegen; Dörfer, in denen überdurchschnittlich viele Menschen an Krebs erkranken oder mit Missbildungen geboren werden und Gemeinden, in denen Kinder sterben, weil sie pestizidverseuchten Flüssen gespielt haben.

„Es gibt kein Leben, keine Insekten mehr“, beschweren sich Landwirt*innen in Entre Ríos, nur ein kleines „subversives Unkraut“ finden sie, das ob des Einsatzes der Pestizide überlebt hat. Hunderttausende Menschen haben das traditionelle Campo und die Arbeit in der Landwirtschaft verlassen. Dabei galt das genmanipulierte Saatgut zu Beginn des Sojabooms als Zeichen der Modernität. So weit ging der Fortschrittswahn, dass alles, was nicht genmanipuliert war, als rückständig, ja fast schon reaktionär galt. Doch nach dem Boom kam der Fall und die Krise nach dem Preisverfall auf dem Weltmarkt trieb hunderttausende abhängige kleine Produzent*innen in den Ruin. Was geblieben ist, ist eine Landwirtschaft ohne Landwirt*innen (gepflanzt wird nur noch übers Telefon), Quantität ohne Qualität, verlassene Bauernhöfe, verwaiste Schulen, abgeholzte Bäume und Wälder, Erinnerungen an Pfirsichbäume, wo nun Sojameere wachsen.

Solanas Film ist dicht, fast etwas erschlagend und vor allem deprimierend. Die Wörter „traurig“ und „machtlos“ fallen oft in den Interviews und wirken fast alternativlos angesichts einer Rhetorik in der Regie, die oft an Kriegsszenarien erinnert und vom Soja wie von einem übermächtigen Feind spricht, von Invasion, Überfall, Bombardierung, Zerstörung.

Eindeutig kommen alle Beteiligten des Films zu dem Schluss, dass diese Form der Landwirtschaft nicht den versprochenen Fortschritt gebracht hat, sondern den größten Rückschritt für ihr Land bedeutet. Und suchen daher wieder nach Alternativen zum Sojamodell, die im Film auch nicht zu kurz kommen. So entdecken sie heimische Gemüsesorten wieder neu, erzählen von Mischwirtschaft und Biohöfen, von Protesten der betroffenen Dorfgemeinschaften und wissenschaftlichen Studien an Universitäten und aus medizinischer Forschung. Diese belegen die Zusammenhänge zwischen dem Unkrautbekämpfungsmittel Glyphosat und den gestiegenen Zahlen an Krebserkrankungen, an Allergieleiden und schweren Missbildungen.

Viaje a los pueblos fumigados ist der achte Dokumentarfilm des argentinischen Filmemachers und grünen Politikers Fernando „Pino“ Solanas. Bereits im Jahr 2004 hatte Solanas einen Goldenen Bären für seinen Film Memorias del Saqueo gewonnen. Viaje a los pueblos fumigados läuft in der diesjährigen Berlinale im Programm Berlinale Special, das außergewöhnliche Filmpersönlichkeiten ehrt.

Pino Solanas als die besondere Persönlichkeit, die er ist, ist dann auch durchweg präsent im Film, meist kommt er im Auto (immer in verschiedenen) an seine Schauplätze gefahren, zeigt sich hinter und vor der Kamera, baut Nähe zu seinen Interviewpartner*innen auf, indem er sie immer mit Vornamen anredet und mit ihnen Mate trinkt. Jedenfalls ist er immer im Bild. Die Nähe aber ist spürbar, seine Protagonist*innen schätzen Pino und vertrauen ihm, er ist ein willkommener Gast, ein Freund, ein angesehener Aktivist.

Durch die entsättigten Farben der Aufnahmen, erinnert die Bildsprache an die 70er Jahre, was ästhetisch (und manchmal leider pathetisch) wirkt, aber vielleicht der Aktualität und Brisanz des Materials entgegenwirkt. Denn so scheint es fast, als ginge es um längst vergangene Kämpfe und könnte darüber hinwegtäuschen, dass diese bodenlosen Dummheiten in den letzten Jahren geschehen und immer noch aktuell sind.

Was der Film deutlich macht, ist die Abwesenheit des Staates, die fehlende Kontrolle der Politik. Keine Politiker*innen kommen zu Wort, niemand, der*die die (fehlende) Politik zu rechtfertigen sucht. Alle noch so extremen Konsequenzen der Sojaproduktion werden verleugnet oder verschwiegen. „Alle wissen es, aber niemand spricht darüber“, ist der Tenor, der zuletzt auch durch Bilder jener, die diese Katastrophe zu verantworten haben, emblematisch wird: stumme Präsident*innen und Minister*innen, die nur als Fotografien eingeblendet werden und nicht sprechen. Ob sie nicht wollten oder nicht durften, bleibt unklar.

Viaje a los pueblos fumigados ist zugleich Zeugnis und Anklage. Zeugnis einer, wie Solanas sagt, sozio-kulturellen und politischen Krise seines Landes und eine Anklage gegen Kontrollbehörden und Politiker*innen, die die Zerstörung der Ökosysteme und Beeinträchtigung der Gesundheit durch Pflanzenschutzmittel und Pestizide zulassen. Es ist ein Film, der vor allem auch in Argentinien gesehen werden sollte.

 

Viaje a los pueblos fumigados lief im Berlinale Special und ist vielleicht bald in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.


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DIE NACKTE VERZWEIFLUNG

Schon die erste Szene von La cama ist ein harter Brocken. Zwei ältere Menschen nackt im Bett, ein Ehepaar, dessen Beziehung die besten Jahre hinter sich hat. Beide versuchen fast schon verzweifelt, miteinander zu schlafen, doch es gelingt nicht. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse, um die gegenseitigen Erwartungen nicht zu enttäuschen. Aus hysterischem Schmerz wird schließlich stumme Resignation, wissend, dass gewohnte Routinen schon bald den kurzen Ausbruch der Emotion lindernd übertünchen werden.

Dem ersten Langfilm der argentinischen Schauspielerin und Regisseurin Mónica Lairana zuzusehen, ist nicht nur wegen dieser Szene nicht immer ein Vergnügen. Wie Mabel und Jorge, die sich auseinandergelebt haben und nun die letzten 24 Stunden gemeinsam in ihrem Haus verbringen, bevor sie ausziehen und in jeder Sekunde das Scheitern ihrer jahrzehntelangen Beziehung an der Gewohnheit atmen, tut beim Zusehen fast physisch weh. Klaustrophobisch erscheint die Enge des Hauses, das zu allem Überfluss auch noch leergeräumt werden muss, da es am nächsten Tag zum Verkauf freigegeben wird. Dabei gehen Dinge zu Bruch, Essen und das Verpacken von Habseligkeiten werden freudlos und meist stumm erledigt. Kurze Momente der Entspannung wie ein Bad mit dem Schlauch im Garten oder die Aufteilung der teils schon abgelaufenen Medikamente können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Beziehung längst in einem Teufelskreis aus Gleichgültigkeit und gleichzeitigem Nicht-Loslassenkönnen verfangen hat. Das Ende ist unausweichlich, die Entscheidung getroffen, jedoch bei weitem ohne vorher alle Probleme gelöst zu haben.

Mónica Lairana hat in La cama nach eigener Aussage Erfahrungen einer eigenen gescheiterten Beziehung verarbeitet, was auch nicht gerade Anlass für Optimismus bietet. Die ästhetischen Stilmittel – ein asketischer Realismus, der an Dogma-Filme erinnert, die Kamera, die die Zuschauer*innen auf voyeuristische Weise Nähe erfahren lässt, die kraftvoll-nüchterne Darstellung von Nacktheit – erfüllen ihren Zweck. Nichts wirkt gekünstelt, gestellt oder dramaturgisiert. Dialoge beschränken sich auf die notwendigste Alltagskonversation, Musik oder filmische Effekte kommen nicht vor. Auch die schauspielerischen Leistungen lassen nichts zu wünschen übrig. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – muss man schon hart gesotten sein und einen sehr speziellen Geschmack haben, um ein wenig Genuss aus diesen anderthalb Stunden Depression zu ziehen. Das Kino dient nicht selten als Vehikel, um kurz den Alltagssorgen zu entfliehen. La cama verweigert sich dieser Funktion abervöllig, erinnert vielmehr schmerzhaft daran, wie präsent und unausweichlich sie sein können. Für manch eine*n ist das womöglich etwas zu viel des Realismus.

La cama lief 2018 im Forum der Berlinale.


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KEINE EINFACHEN WAHRHEITEN

Als der Abend des 16. April 1989 in Montevideo hereinbricht, regnet es in Strömen. Hörbar prasselt das Wasser auf Straßen und Dächer, während sich nach langen Stunden der Anspannung die Müdigkeit in den Auszählungsräumen breit macht. Vor den Augen vieler Beobachter*innen sind die Stimmzettel zu farbigen Stapeln angewachsen: Grün, das ist die Farbe der Referendumsbefürworter*innen, steht für eine Aufhebung des Amnestiegesetzes. Gelb, die Farbe der Referendumgsgegner*innen, steht für ein weiter wie bisher.

Als sich die ersten Ergebnisse der Auszählung wenig später herumsprechen, ist kein Jubel auf den Straßen zu vernehmen. Gelb gewinnt. Nur wenige Menschen trotzen dem Regen und lassen sich vor der Kamera befragen. Vor allem die Jungen wirken ungläubig bis fassungslos.

Unas preguntas von Kristina Konrad ist eine Art teilnehmende Beobachtung, welche die Geschichte der Volksabstimmung über das „Ley de la Caducidad“ Ende der 80er Jahre in Uruguay erzählt. Über jenes Gesetz also, das Militär und Polizei Straffreiheit für die in der Zeit der Militärdiktatur begangenen Verbrechen gewährt – darunter Entführung, Folter und Mord.

Über einen Zeitraum von zwei Jahren haben Kristina Konrad und ihre Freundinnen Maria und Gabriella den Prozess des Referendums begleitet. Initiiert von einer Koalition aus Hinterbliebenen, einer linken urbanen Mittelschicht und Gegner*innen der Militärdiktatur, liegt in diesem Referendum über die Abschaffung der Straffreiheit die Hoffnung auf eine Aufarbeitung der Diktatur und ihrer Gräueltaten und auf einen Aufbruch in eine gerechtere Zukunft. Es sind auffällig viele Frauen, die die Demonstrationen anführen, unerschrocken und fordernd in den ersten Reihen stehen.

Konrad und ihre BegleiterInnen waren stets dabei – vom Sammeln der für den Antrag notwendigen Stimmen über die Mobilisierungsprozesse von Gegner*innen und Befürworter*innen des Referendums bis zum Referendum selbst und dieser Nacht am 16. April 1989.

Was sie mit ihren einfachen Handkameras eingefangen haben, ist heute, fast 30 Jahre nach den Geschehnissen, ein historisches Dokument. Die Qualität der alten Bilder, das Rauschen, haben heute einen ästhetischen Charakter – die gezeigten Auseinandersetzungen jedoch zum Teil erschreckende Gemeinsamkeiten mit aktuellen Geschehnissen.

Klug geschnitten wechseln sich Bilder der Straßenszenerie mit einfachen Interviews ab. Zusammen mit immer wieder eingeschobener Fernsehwerbung vermittelt diese ein Gefühl für die Zeit der 80er in Uruguay. Die Zeit nach langen Jahren der Diktatur und wirtschaftlicher Rezession.

Im Mittelpunkt stehen hierbei die Menschen und die Straße als Ort des Austausches. Der Film tut gut daran, unterschiedlichste Menschen an unterschiedlichsten Orten des Landes, ihre Motive und Gedanken, vor die Kamera zu bringen. Maria und Gabriella leiten mit ihren intervenierenden aber immer beruhigenden und klaren Fragen durch den Film. Zum Teil fällt der Ton aus, oder ist ganz leise. Dann sprechen die Bilder für sich.

Der Film zeigt eine sich politisierende Gesellschaft, welche nach Jahren der Militärdiktatur auf der Suche danach ist, was Gerechtigkeit und Frieden, was Erinnerung und Vergessen sind.

Befürworter*innen wie Gegner*innen polarisieren, wobei die Seite der Gegner*innen stark polemisiert und Drohszenarien heraufbeschwört. Da ist die Rede von marxistischen Sekten, Subversion und einer kommunistischen Bedrohung. Angesichts eines prophezeiten Bürgerkriegs fällt es ihnen leicht, Begriffe wie Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit für sich zu vereinnahmen und umzudeuten. In Funk und Fernsehen entwickelt sich ein propagandistischer Schlagabtausch, bei dem nur Kleidungsstil, Automodelle und die Tatsache, dass die Menschen sich Radios statt Smartphones an die Ohren halten, daran erinnern, dass diese Auseinandersetzung weit in der Vergangenheit zurückliegt.

Wie Konrad selbst sagt, soll der Film zeigen, wie Demokratie funktioniert. Allerdings wird ebenso ersichtlich, wie schwierig es ist, Gerechtigkeit über ein Referendum herzustellen, und dass Demokratie nicht automatisch zu Gerechtigkeit führt.

Das Referendum entwickelt sich zu mehr als einer bloßen Frage der Zustimmung oder Ablehnung des Gesetzes. Gedanken, Gefühle und Ängste der Befragten vermischen sich und es zeigt sich eine zunehmende Unmöglichkeit ,die Pluralität der Meinungen auf eine binäre Entscheidungsstruktur des 1 oder 0, des Entweder-Oder, des Ja oder Nein zu reduzieren.

Auf die leitende, so einfache wie komplexe Frage „Was ist Frieden?“ gibt es selten eine klare und deutliche Antwort. Und auch in den Interviews, die außerhalb der beiden Lager geführt werden, zeigt sich, dass für viele, deren soziale Realität von Armut, Gewalt und einem Bedürfnis nach sozialer und ökonomischer Sicherheit geprägt ist, Frieden und Gerechtigkeit eine Abstraktion darstellen, welche nicht mit einem Referendum hergestellt werden kann.

Unas preguntas von Kristina Konrad ist ein Film, der durch verschiedene Lebensrealitäten geht und diese offen und ehrlich zeigt, der zuhört und nachhakt, ohne dabei aufdringlich zu wirken. Der sich Zeit nimmt und lange dauert, aber nicht langweilig wird, der die Anspannung und Verunsicherung Vieler und die Hoffnung Einiger darstellt.

Der Film ist sicherlich spannend für historisch Interessierte, hat aber auch einen gewissen Lehrstückcharakter für alle, die Fragen danach umtreiben, ob und wie ein bisschen mehr Gerechtigkeit möglich ist.

Unas preguntas lief 2018 im Forum der Berlinale.


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DIE WELT IN EINER BILDERKISTE

Segundo wacht erschrocken auf, als der Pick Up über ein Schlagloch hüpft und der Altarschrein nach vorn zu kippen droht. Sorgfältig verstaut er den eingewickelten Flügelaltar wieder sicher auf der Ladefläche. Dann lugt er nach vorn ins Fahrerhäuschen und sieht etwas, das ihn zutiefst verstört –  seinen Vater mit einem anderen Mann.

Segundo lebt in einem Dorf in den Bergen Perus und lernt von seinem Vater die Anfertigung von traditionellen Retabeln, aufklappbare kunstvoll gefertigte Holzboxen, die im Inneren durch kleine Figuren religiöse oder soziale Geschichten darstellen. Sein Vater, das ist ein geachteter Mann in der Dorfgemeinschaft und Segundos großes Vorbild. Das Geschehen auf dem Fußballplatz, wo die Jugendlichen des Dorfes darum buhlen, wer der Stärkste ist, beobachtet Segundo distanziert. Als er von der Homosexualität seines Vaters erfährt, verspricht er seinem besten Freund mit ihm das Dorf zu verlassen und seinen Traum, Kunsthandwerker zu werden, aufzugeben. Aber dann findet auch das Dorf heraus, dass Segundos Vater sexuelle Beziehungen mit Männern führt und Segundo sieht sich mit dem Schlimmsten konfrontiert und muss sich entscheiden, welchen Weg er einschlagen möchte.

Der Regisseur entwirft nicht bloß das Bild einer Dorfgemeinschaft in Peru, sondern zeigt letztendlich auf, wohin die konsequente Durchsetzung heteronormativer Ordnungen führt.

In seinem Spielfilmdebüt Retablo zeichnet Álvaro Delgado Aparicio einfühlsam das Bild eines Jugendlichen, der in einer von patriarchalen Strukturen geprägten Welt heranwächst. Dabei legt er schonungslos offen, wie viel Gewalttätigkeit sich hinter den homophoben Strukturen des vermeintlich harmonischen Dorflebens verbirgt. Die Brutalität, mit der die Dorfbewohner*innen den Vater aus der Gemeinschaft ausschließen, als dessen Homosexualität entdeckt wird, erschüttert. Doch der Regisseur entwirft nicht bloß das Bild einer Dorfgemeinschaft in Peru, sondern zeigt letztendlich auf, wohin die konsequente Durchsetzung heteronormativer Ordnungen führt.

Der Welt des Machismus steht in Retablo die Welt des Kunsthandwerks gegenüber, in die der Vater Segundo hingebungsvoll und geduldig einführt. Liebevoll bringt dieser ihm bei, die kleinen Figuren für die Schreine zu formen und zu bemalen. Dabei gelingt es Delgado Aparicio hervorragend zu zeigen, dass das traditionelle Kunsthandwerk nicht nur ein Handwerk ist, sondern auch eine Form der Kunst, die ein Wissen voraussetzt, das über Generationen weitergegeben wird. Auch die filmische Inszenierung orientiert sich in ihrer Ästhetik an der Konstruktion der Altarretabeln: Immer wieder sind die Ereignisse durch Türen oder Fenster gerahmt, die geöffnet oder geschlossen werden, was den Eindruck erweckt, dass die Geschichte innerhalb eines Retablos stattfindet.

Besonders schön an Retablo ist, dass er fast komplett auf Quechua gedreht wurde und damit die indigenen Bewohner*innen der Anden und ein Stück ihrer Lebenswelt auf die Filmleinwand bringt, was selten passiert und noch seltener in den Kinos der Berlinale zu sehen ist. Es fällt auf, dass vor allem die derben Beleidigungen, die sich die Dorfjugendlichen gegenseitig an den Kopf werfen, aus dem kolonialen Spanisch stammen.
Amiel Cayo, der den Vater spielt, ist nicht nur im Film Kunsthandwerker. Neben seiner Arbeit auf Bühnen und in Filmen fertigt er im wirklichen Leben auch rituelle Masken für das Theater. Junior Béjar, in der Rolle des Segundo, steht zum ersten Mal für einen Kinofilm vor der Kamera, wohingegen Magaly Solier, die Mutter in Retablo, schon zum dritten Mal mit einem Film auf der Berlinale vertreten ist. 2009 gewann sie mit Claudia Llosas La teta asustada den Goldenen Bären.

Retablo wurde 2017 mit dem Preis für den besten peruanischen Film auf dem internationalen Filmfestival in Lima ausgezeichnet. Den Preis hat er sich verdient. Auch wenn das Ende in seiner dramatischen Überspitzung der Ereignisse ein wenig zu dick aufträgt, erzählt der Film sehr gelungen von der Wirkmächtigkeit von Homophobie.

 

Retablo lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation 14plus und gewann den L’Oreal Paris Newcomer Award. Außerdenm gab es eine Lobende Erwähnung für den Langfilm in der Kategorie Generation 14plus.


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