Berlinale

ÄSTHETISCH MÄRCHENHAFT

Das brasilianische Märchen Unicórnio gibt den Zuschauer*innen manches Rätsel auf, bietet dafür aber traumhaft schöne Bilder

Von Dominik Zimmer

Eine einsame Hütte in den Bergen, nur bewohnt von der jungen Maria (Bárbara Luz) und ihrer Mutter (Patricia Pillar). Ein Granatapfelbaum, ein Brunnen, der Wald. Und ein äußerst attraktiver Ziegenhirte, der mit seiner Herde vorbeikommt. Das ist das Setting von Unicórnio, dem zweiten Spielfilm des brasilianischen Regisseurs Eduardo Nunes. Wer darauf hofft, dass sich hier nun ein actionreicher, atemloser Plot entfaltet, liegt leider falsch, denn Unicórnio ist, das merkt man schon bald, ein langsamer Film. Sehr langsam. Minutenlange Einstellungen der Hütte, der Landschaft, der Alltagshandlungen der Protagonisten, könnten dazu führen, sich gelangweilt abzuwenden. Dass das nicht passiert, liegt vor allem an den spektakulär schönen Bildern, die Nunes erschafft. Die Geschichte von Unicórnio basiert auf zwei Erzählungen von Hilda Hilst, einer brasilianischen Autorin des magischen Realismus. Und „magisch“ ist auch eine gute Beschreibung für die wundervollen Aufnahmen der Kamera und die märchenhaft wirkenden Kulissen. Speziell die warmen, nachkolorierten Farben (ein hochaufwendiger Prozess, der über 5 Monate in Anspruch nahm) ziehen in den Bann, laden zum Träumen ein, bieten mentale und visuelle Entspannung. Selbst die Bäume in der Gebirgslandschaft – echt oder nicht – wirken so, als wären sie zur Meditation in einen Feng-Shui-Landschaftsgarten gepflanzt. Es fehlt eigentlich nur noch, dass die Tür der Hütte aufgeht und ein paar Hobbits zum Tee vorbeigeschlendert kommen. Das titelgebende Einhorn wartet ohnehin schon im Wald.

Die Handlung von Unicórnio ist enigmatisch und lässt verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen. Symbolische Gegenstände und Handlungen lassen unter anderem an die Geschichte von Adam und Eva oder antike Sagen und Mythen erinnern. Neben den Szenen vor der einsamen Hütte, bei denen sich sowohl Maria als auch ihre Mutter vorsichtig dem Hirten annähern, sind aber auch immer wieder Szenen vor einer weißen Wand zu sehen – vermutlich ein Krankenhaus oder eine psychiatrische Einrichtung. Ana unterhält sich hier mit ihrem Vater, der die Familie aus Gründen, die offen bleiben, verlassen hat, über Gut und Böse, Gott, und andere tiefgründige Themen. Wann die Szenen stattfinden – vor oder nach der Haupthandlung – bleibt ebenso offen wie das Ende, das großen Spielraum für Interpretationen lässt. Dass selbst Regisseur und Hauptdarstellerin auf Nachfrage unterschiedliche Auffassungen dazu äußerten, sollte alle Zuschauer*innen dazu ermutigen, sich eine eigene Meinung zu bilden – vielleicht gibt es hier auch nicht eine, sondern mehrere Wahrheiten.

Unicórnio ist sicherlich ein sehr spezielles Kinoerlebnis, auf das man sich einlassen muss. Zwei Stunden, in denen im Grunde kaum etwas passiert, in denen es für einige Geschehnisse keine eindeutige Erklärung gibt und in dem das Tempo maximale Entschleunigung vorgibt, sind vielleicht nicht für jeden Geschmack geeignet. Wer aber Film nicht nur als atemlose Erzählung, sondern als visuellen, poetischen Genuss verstehen kann, der wird für die Geduld in Unicórnio mit einem der ästhetisch schönsten Filme der diesjährigen Berlinale belohnt werden.

Unicórnio lief auf der diesjährigen Berlinale in der Kategorie Generation 14plus.

Unicórnio von Eduardo Nunes // Brasilien 2017 // Portugiesisch // 123 min

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