Nachtschwärmen mit Kaktus

Foto: Leo Calzoni

Der Bus ist gerade weg. Und der nächste kommt erst in acht Stunden. Es sieht also so aus, als ob Hugo diese Nacht an der Haltestelle verbringen müsste. Ganz schön langweilig, wenn die einzige Aussicht auf Gesellschaft dabei in einem Kaktus mit Namen Adolfo besteht, den er in einem Blumentopf mit sich herumschleppt. Nicht, dass das den stillen Einzelgänger groß stören würde. Aber die Alternative ist verlockend: Das Mädchen mit der Fliegermütze auf der anderen Straßenseite schnorrt nicht nur eine Zigarette von Hugo, sondern lädt ihn gleich auch noch auf eine Kostümparty ein. Nach kurzem Zögern lässt sich Hugo auf das Angebot der quirlig-durchgeknallten Momo ein und los geht es auf eine vergnügliche und turbulente Reise durch die Nacht.

Sofía Auzas stimmungsvoller Debütfilm funktioniert von der ersten Sekunde an prima. Das liegt in erster Linie an seinen Hauptdarsteller*innen: Zwischen Juan Daniel García Treviño als Hugo und der sehr überzeugenden Rocio de la Mañana als Momo stimmt die Chemie. Dabei wird zum Glück nicht übertrieben auf Teeniefilm-Klischees herumgeritten. Stattdessen hauen sich die beiden mit viel Wortwitz Dialoge um die Ohren, bei denen kein Auge trocken bleibt. Die schlagfertige Momo behält hier zwar meist die Oberhand, doch im Laufe des Films lernt auch Hugo immer besser, ihr ordentlich Kontra zu geben.

Die Geschichte des Films wird in knackigen 70 Minuten erzählt, von denen dafür keine einzige verschwendet ist. Dass Hugo mit Adolfo unterwegs ist, hat einen traurigen Hintergrund: Den Kaktus hat ihm sein kürzlich verstorbener Vater hinterlassen und er ist auf dem Weg zu seiner Beerdigung. Seine Mission: Einen Platz finden, an dem es Adolfo gut ergehen wird. Das entpuppt sich aber als gar nicht so einfach, wie es klingt und die Suche wird durch einige Zwischenfälle unterbrochen. Denn Momo hat ein Geheimnis und keine Skrupel, den gutmütigen Hugo zur Ausführung ihrer Pläne einzuspannen. Wobei auch sie seine Hilfe noch mehr benötigt, als es zunächst den Anschein hat.

Sofía Auza ist mit Adolfo eine erfrischende Komödie gelungen, die mit authentischen Charakteren und einigen echten Lachern überzeugt. Die Inszenierung ist in sich stimmig, fast märchenhaft leuchten die Schauplätze und die Gesichter der Protagonist*innen in der Nacht. Dazu passt, dass der Film in keiner erkennbaren Stadt spielt. Nur Mexiko ist als Land durch Sprache und kulturelle Items wie Tacos vorgegeben. Adolfo ist ein gelungener Film für Jugendliche, weil er einen originellen und glaubwürdigen Ton findet, ohne abgedroschene Plattitüden zu benutzen. Kein Wunder, dass sich davon auch die Jury der Berlinale überzeugen ließ: Sie verlieh Adolfo den Gläsernen Bären für den besten Jugendfilm in der Sektion Generation 14plus.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Schweigen ist Gold

Foto: Marcelo Iaccarino

„Kannst du nicht mal 10 Sekunden still sein?“ Felipe ist genervt. Eigentlich will er mit seiner Großmutter über seinen verstorbenen Vater reden, von dem alle mehr zu wissen scheinen als er selbst. Doch seine abuela, die er wie auch seine Mutter nur mit Vornamen anspricht, schweift immer wieder ab. Wenn sie es aber nicht schafft, über das Wesentliche zu sprechen, zieht Felipe ihr Schweigen vor.

Im Film Desperté con un sueño (deutscher Titel: Auch wenn ich nicht viel sage) des argentinischen Regisseurs Pablo Solarz geht es viel um die Relevanz des Unausgesprochenen. Felipe, ein Junge an der Schwelle zur Pubertät, lebt in La Paloma, einem kleinen Küstenort in Uruguay. Dort tut er die Dinge, die man eben tut in seinem Alter: Mit Freunden abhängen, Hip-Hop hören, an den Strand gehen. Aber er liebt auch das Theater und träumt von einer Schauspielkarriere. Trotz offensichtlicher Begabung spürt er, dass seine Mutter diesen Weg nicht gutheißen würde, auch wenn sie nicht sagt, warum. Deshalb schmiert Felipe sich seine Kleidung nach den Proben seiner Jugendtheatergruppe mit Matsch ein. Dadurch sieht es aus, als käme er direkt vom Fußballtraining – ein perfektes Alibi, das niemals hinterfragt wird. Die Verschlossenheit seiner Mutter beantwortet er so mit seinem eigenen Geheimnis. Und die Welt der Erwachsenen, an die Felipe sich annähert, verliert für ihn mit jeder unbeantworteten Frage an Geborgenheit.

Desperté con un sueño ist eine glaubhafte Darstellung eines Jungen auf der Suche nach seiner Identität, die für Kinder und Jugendliche genauso empfehlenswert ist wie für Erwachsene. Der Film wird getragen vom eindringlichen Spiel seines Hauptdarstellers Lucas Ferro. Der verkörpert Felipe mit so großer Präsenz und Ernsthaftigkeit, dass er oft reifer erscheint als viele ältere Menschen um ihn herum. Aber auch Regisseur Solarz, der selbst eine kleine, aber wichtige Rolle im Film übernimmt, schafft es, mit warmen und stimmigen Bildern Atmosphäre zu schaffen und die Zuschauer*innen in Felipes Gefühlswelten mitzunehmen. Nicht alles wird am Ende aufgeklärt und einige Figuren (speziell Felipes Mutter) hätten in der nur 75-minütigen Geschichte noch mehr Raum verdient. Aber vielleicht ist ja auch das Teil der Botschaft des Films: Nicht alles muss mit Worten gesagt werden, Schweigen und Reflexion können die wirklich wichtigen Dinge oft besser bewusst machen als zielloses Gerede.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Zwischen dem Mythos von Bestrafung und Heilung

Nino lebt mit seiner Familie in Santiago del Estero, Argentinien. Im Alter von vierzehn Jahren ist er dabei, seine Sexualität zu erforschen. Weil er nicht der Norm entspricht, wird er Opfer homophober Angriffe. Um ihn vor Ausschluss und Häme zu schützen, beschließen seine Eltern, die Stadt vorübergehend zu verlassen und die ganze Familie zieht in den Forstbetrieb, in dem sein Vater arbeitet.

Foto: © Tu Vas Voir

In seinem neuen Zuhause inmitten eines dunklen, feuchten Waldes hat Nino Schuldgefühle wegen seiner sexuellen Begierden und weil er das Leben seiner Familie aus den Fugen gebracht hat. Seine 16-jährige Schwester Natalia, die sich von ihren Freund*innen entfremdet hat, verzeiht ihm nicht. Estela, seine Mutter, will Nino wieder auf den rechten Weg bringen und organisiert seine Konfirmation in der örtlichen Kirche. Die Predigten des Pfarrers verstärken Ninos Schuldgefühle, da ihm weisgemacht wird, dass das, was er fühlt und tut, in den Augen Gottes nicht richtig ist.

In dieser ländlichen Umgebung, in der sich Mythos und Religion vermischen, entdeckt Nino die Legende von Almamula, einem in den Bergen lebenden Wesen, das diejenigen entführt, die verwerfliche sexuelle Handlungen begangen haben.  Diese Entdeckung hilft ihm dabei den Kreislauf von Sünde, Bestrafung und Heilung des “cuerpo-territorio” (der in das Territorium verflochtene Körper) zu verstehen. Der Druck der bevorstehenden Konfirmationszeremonie belastet Nino, gleichzeitig wächst seine Faszination für die Almamula, die seine vermeintlichen Sünden an- und auf sich nehmen würde. In einem Prozess des Widerstands und der Suche nach Selbstbestimmung findet Nino in der Almamula die Möglichkeit der Rettung. Um ihr näher zu kommen, betet er zu ihr und geht ihr in den Wald entgegen. Die Schädigung des Waldes spielt in der Handlung zwar eine untergeordnete Rolle, bringt zugleich jedoch symbolisch eine zweite Ebene der Sünde ein: Die des Extraktivismus als Versündigung gegen die Erde. Diese zieht keine äußere, göttliche Strafe nach sich, sondern eine innere, den Verlust der Seele.

Regisseur Juan Sebastián Torales entwickelt einen absolut glaubwürdigen Familienkontext, in dem der Vater abwesend ist und seine Rolle in der extraktivistisch-kapitalistischen Gesellschaft erfüllt, die religiöse Mutter die mentale Belastung und Verantwortung für das moralische Gerüst der Familie trägt, während die Tochter ihren verborgenen, aber rebellischen Weg zur Emanzipation ihres Körpers erkundet.  In diesem Sinne fängt der Regisseur in seinem Debütfilm ein Spektrum sexueller Spannungen ein, das sowohl nachvollziehbar als auch anschaulich ist. Die filmische Besetzung mit den Schauspielern Cali Coronel, María Soldi (Eltern), Nicolás Díaz und Martina Grimaldi (Kinder) als Familienmitglieder lässt uns eine echte Dynamik spüren, die gleichzeitig konservativ und befreiend ist.

Obwohl das Übernatürliche in der Handlung eine starke Präsenz hat, setzt der Film nicht auf Spezialeffekte, sondern konzentriert sich auf realistische Aufnahmen, die mit kleinen Überraschungsmomenten gespickt sind. Die vom Regisseur geschaffene Atmosphäre lädt uns ein, Teil des Mythos zu werden, in dem die Existenz der Almamula oder der Mulaánima uns zu Überschreitungen provoziert und anregt und uns – jenseits der christlichen Dualismen – gleichzeitig bestraft und erlöst.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Auf einen Schlag erwachsen

Bei der Vorbereitung auf ihre Rolle der Ramona, die im Alter von 15 Jahren erfährt, dass sie schwanger ist, entschließt sich die Schauspielerin Camila Santana den Dingen auf den Grund zu gehen. Das heißt in ihrem Fall, sich auf die Suche nach jungen Frauen zu machen, die als Teenagerinnen oder als sehr junge Erwachsene schwanger werden. Die Gespräche, die sie im Folgenden mit mehreren Gruppen junger Frauen führt, sind Inhalt der Dokumentation Ramona.

© Jaime Guerra

Dabei gleicht der Film eher einer Versuchsanordnung, wechselt häufig das Setting und die Rolle der Befragten. Die oft wechselnden Einstellungen stellen eine Analogie zu den Fragen Camilas her, die versucht, sich die Erfahrungen der jungen Frauen zu eigen zu machen. Das uneindeutige Format, mal dokumentarisch, mal inszenierte Stellprobe und schließlich Elemente aus der Dokufiktion, spiegelt diese Suche treffend wider. Die Doku, die frei-assoziativ verschiedene Themen behandelt, verschwimmt in ihrer Form. Die befragten Mütter werden immer mehr zu handelnden Protagonistinnen. Zudem zeigt der Film eine Dominikanische Republik jenseits der Postkartenidylle, frei von Kitsch. Vielmehr wird ein ungeschöntes Bild des Lebens junger Heranwachsender in den Armenvierteln Santo Domingos gezeichnet. Durch das soziale Gefälle zwischen Camila und den schwangeren Teenagerinnen wird der Klassenunterschied verdeutlicht. Während Camila aus einer wohlhabenden Gegend zu kommen scheint und zunächst wenig Berührungspunkte zur Lebensweise der jungen Frauen aufweist, spielt Ramona beinahe ausschließlich in deren Umgebung, in der von Armut geprägten Comunidad de Gualey. Camila tastet sich suchend voran und kann sich dabei ihre Herkunft nicht zum Vorteil machen, im Gegenteil, sie ist die rubia, diejenige, die nicht dazu gehört. Trotzdem gelingt es ihr im Laufe der Zeit, sich zu integrieren und mit ihren Gesprächspartnerinnen auf Augenhöhe zu interagieren.

© Jaime Guerra

Die werdenden Mütter sind selbst noch beinahe Kinder, die bei ihren (meist alleinerziehenden) Müttern oder Eltern wohnen. So berichtet eine von ihnen, dass sie ihre Spielsachen noch im Zimmer habe und gelegentlich auch mit ihnen spiele.

Allgegenwärtig scheint der machismo, denen die jungen Mütter ausgesetzt sind. Die Kindsväter sind in der Regel abwesend und die Umstände der Schwangerschaften geprägt von patriarchalen Gewalterfahrungen. Besonders heftig ist hier die Schilderung einer Befragten davon, wie ihr Vater auf ihre Schwangerschaft reagiert habe. Schläge und Gewaltandrohungen prägen die Lebensrealität der Teenies. Dem gegenüber steht eine solidarische Schwesternschaft – der Berlinale-Begleittext nennt sie Schwesternschaft der 15 – aus der die jungen Frauen Kraft ziehen können und lernen, sich zu behaupten.

Mit Ramona ist der Regisseurin Victoria Linares Villegas eine stilistisch interessante Dokumentation gelungen, die vor allem auf den zweiten Blick viele Perspektiven eröffnet.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

TRANS, SCHWER ZU SCHLAGEN

© Beija Flor Filmes

Also Leute, ihr kennt mich als Alice Júnior. Ich bin trans, schwer zu schlagen und bereit für alles, was da so kommen mag!“ So beginnt die 14-jährige, charismatische Trans*-Teenagerin Alice (Anne Celestino Mota) ihre Morgenroutine als Youtuberin in Recife, der weltoffenen Metropole im Nordosten Brasiliens. Als sie ihr neuestes Video dreht, platzt ihr Vater Jean (Emmanuel Rosset) ins Zimmer, der ihr mitteilt, dass sie aufgrund seines Jobs in eine kleine, konservative Stadt in den Süden Brasiliens ziehen müssen. In dieser Kleinstadt scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Vor allem die katholische Schule, die Alice nun besuchen soll jagt ihr zunächst einen Schock ein – kein leichter Neuanfang. Als die Schulleiterin sie auch noch zwingt, die Schuluniform für Jungen zu tragen (ein Albtraum für die modebewusste Teenagerin), möchte sie am liebsten sofort nach Recife zurückkehren.

Doch natürlich gibt Alice so schnell nicht auf. Anders als in vielen Filmen, die sexuelle Minderheiten thematisieren, wird in diesem nicht die Geschichte eines Opfers, sondern die einer Heldin erzählt. Die hat unter anderem das Glück, von ihrem französischstämmigen Vater, der sie sehr liebt, unterstützt und verwöhnt zu werden. Auch in der Schule stehen der Newcomerin bei Weitem nicht alle Klassenkamerad*innen und Lehrer*innen feindlich gegenüber. Alice, die auf der Suche nach ihrem ersten Kuss ist, erobert durch ihren starken Charakter, ihren Witz und ihre Lebensfreude schnell die Herzen von Mitschüler*innen und Kino-Zuschauer*innen. Das liegt vor allem an der herausragenden Hauptdarstellerin, die in ihrer Rolle so aufgeht, dass man glauben könnte, die Figur Alice würde nicht nur im Film, sondern auch im echten Leben herumspazieren.

Vom vielfach ausgezeichneten Regisseur Gil Baroni war von Anfang an vorgesehen, dass eine Trans*person die Rolle besetzt. Und wohl keine*r hätte Alice Júnior besser verkörpern können als Anne Celestino Mota, die im wahren Leben eine national bekannte Bloggerin und Trans*-Aktivistin ist. Für ihre Performance wurde sie in Brasilien bereits mit zwei Preisen als beste Schauspielerin belohnt. Vom Filmanfang bis zum Ende fiebert man mit und freut sich mit ihr über neue Freundschaften und positive Veränderungen, die sie in ihrer neuen Schule erreicht. Vor allem die mal resoluten, mal kreativen Methoden, mit denen sie sich in der vorurteilsgeprägten, konservativ-religiösen Kleinstadtwelt durchsetzt, sind beeindruckend und ermutigend. Aber auch im Kontakt mit ihren neuen besten Freund*innen Viviane (Thaís Schier, Preis für die beste Nebendarstellerin auf dem Filmfestival von Brasilia) und Bruno (Matheus Mora) oder anderen Schüler*innen kommt Alice/Anne wie das ganze Ensemble sehr authentisch und spielfreudig rüber. Da glaubt man Gil Baroni ohne Weiteres, wenn er verrät, dass der Filmdreh dem ganzen Team sehr viel Spaß bereitet hat.

Besonders ansprechend gestaltet ist der Film für Jugendliche, da er stilistisch die digitale Welt widerspiegelt: Mit Glitzer, Emojis, schrillen Soundeffekten und schnellen Bildwechseln erreicht Alice Júnior locker den aktuellen State of the (Youtube-) Art. Einen wichtigen Stellenwert nimmt auch die gelungen ausgewählte Musik (meistens brasilianischer Funk) ein. Viele Lieder werden von “Funkeirxs” gesungen, die gesellschaftliche Tabus brechen, wie z.B. von MC Xuxú, einem Travesti-Künstler und Feministen (Um beijo para as travestis” – „Ein Kuss für die Transvestiten”) oder der Drag Queen Gloria Groove aus São Paulo.

Alice Júnior ist aber nicht nur ein Film, sondern in Zeiten des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro, unter dem es sich in Brasilien für sexuelle Minderheiten gefährlich lebt, auch ein wichtiges Empowerment für Trans*-Personen. Zwar findet glücklicherweise nach wie vor am 29. Januar der „Día da Visibilidade Trans” („Tag der Trans*-Sichtbarkeit”) statt, der durch Travestis und Transgenderpersonen initiiert wurde und auf Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung aufmerksam macht. Dennoch wurden allein im Jahr 2019 in Brasilien mindestens 124 Transgender-Personen ermordet. Und genau wie die Protagonistin im Film ständig mit ihrem männlichen Geburtsnamen konfrontiert wird und sich ihren selbst gewählten Namen erkämpfen muss, erging es der Schauspielerin Anne Celestino Mota auch im wirklichen Leben. Oft werde ich gefragt: Was ist dein richtiger Name? Sie leugnen meine Identität, als ob sie leugnen würden, dass ich eine Frau bin.” Genau aus diesem Grund sieht die aus Recife stammende Bloggerin Alice Junior auch als repräsentativen Film für die Transgender-Community, der nach ihrer Auffassung die Meinung der Menschen verändern kann. Alice ist ein Transgendermädchen und ihre Existenz ist ein Synonym für Widerstand”, bestätigt der aus Guarapava (Südbrasilien) stammende Regisseur Baroni. Wir durchleben schwierige Momente in Brasilien, wo Exklusions-Reden Raum gewinnen, Hass schüren, Angst und Unsicherheit hervorrufen.” Umso wichtiger ist es, dass Filmemacher*innen wie er sich in ihren Werken mit Themen wie Empowerment von Minderheiten, Geschlechtergerechtigkeit, Klassenkampf und LGBTIQ-Anliegen beschäftigen. So wie Alice Junior, der in Brasilien bereits 8 Preise gewonnen hat (unter anderem beim renommierten Rio International Film Festival) und eine klare Message vermittelt: Soziale Barrieren sind künstlich, von der Gesellschaft geschaffen und diskriminieren Menschen, die anders sind. Stattdessen sollte die Schönheit, die in der Diversität liegt, gefeiert werden, denn wahre Liebe und Menschlichkeit kennen keine Grenzen.

IN DEN DÜST’REN, DÜST’REN WALD HINEIN

Es gibt Filme, die lassen uns während ihrer gesamten Laufzeit nicht ein einziges Mal tief durchatmen. Filme, die ohne special effects und ohne Überraschungen, ohne mörderische Verfolgungsjagden und Zombieauftritte dafür sorgen, dass sich die Fingernägel 90 Minuten lang in die Lehne des Kinosessels bohren. El día que resistía („Der endlose Tag“), das Langfilmdebut der argentinischen Regisseurin Alessia Chiesa, ist so ein Film.

Die Geschwister Fan, Tino und Claa führen ein scheinbar unbeschwertes kindliches Leben in einem schönen alten Haus inmitten eines schönen alten Waldes. Sie spielen Verstecken im Garten, feiern Süßigkeitenparties und gehen gemeinsam mit dem Labrador Äpfel pflücken. Doch bald stellt sich heraus: die Eltern sind weg. Und eigentlich spricht nichts dafür, dass sie irgendwann wiederkommen. Fan übernimmt die Mutterrolle, kümmert sich liebevoll um ihre kleinen Geschwister, stellt Regeln auf – das Schlafzimmer der Eltern ist tabu, niemals dürft ihr alleine in den Wald gehen, wir müssen das Haus putzen, damit es schön aussieht, wenn Mama und Papa zurückkommen – und liest als warnende Erziehungsmaßnahme aus Hänsel und Gretel vor. Sie manscht Tomatensauce und Erbsen zusammen, das Rezept stößt bei ihrem Bruder Tino auf große Begeisterung. Als die Zahnpastavorräte zur Neige gehen, nimmt sie als Ersatz irgendeine ungenießbare Salbe. Sie liest ihren Geschwistern vermeintlich von den Eltern stammende Briefe vor, in denen sie Tino und Claa dazu ermahnt, ihrer großen Schwester auch ja zu gehorchen. Sie tut alles, um den Schein aufrechtzuerhalten.

Doch Tino bemerkt bald, dass Fan sich nicht an ihre eigenen Regeln hält und die kleine Claa und die mit ihr verbündete Hündin ziehen meistens ihr eigenes Ding durch. Dass Fan eigentlich zutiefst traurig ist, zeigen ihre eigenen Tabubrüche, die sie jedoch sorgsam vor den beiden anderen zu verstecken sucht.

Die wachsende Spannung in El día que resistía wird nicht durch unerwartete Szenen erzeugt, sondern durch die langsame Kameraführung, die düsteren, märchenhaften Bilder des dunklen Waldes, spannungsvolle Musik und den stillen, sich erst nach und nach aufbauenden Konflikt zwischen den drei Geschwistern, der sich mit der schleichenden Verwahrlosung und der ansteigenden Frustration und Einsamkeit verschlimmert. Warum die drei alleine sind, ist unklar. Die Interpretation liegt nahe, dass die Eltern im Zuge der argentinischen Militärdiktatur der siebziger und achtziger Jahre verschleppt worden sind. Das resistir, zu Deutsch „aushalten“, aber auch „Widerstand leisten“, im Filmtitel könnte darauf hindeuten, auch wenn dieser in der deutschen Übersetzung leider seine Doppeldeutigkeit verliert. Auch das verwahrloste Auto im Garten, Einrichtung und Kleidung könnten auf jene Zeit hindeuten. Könnten – denn vielleicht ist dies auch schon eine ungewünschte Überinterpretation. Fakt ist, dass nicht das Schicksal der Eltern, sondern das der Kinder im Mittelpunkt steht. Und dieses wird von den drei jungen Schauspieler*innen Lara Rógora (Fan), Mateo Baldasso (Tino) und Mila Marchisio (Claa) wunderbar verkörpert.

Auch wenn der Film auf der Berlinale unter der Rubrik Generation läuft und die drei einzigen Rollen von Kindern besetzt sind, ist El día que resistía nicht nur ein Kinder- und Jugendfilm. Er erlaubt auch Erwachsenen ein großartiges Eintauchen in eine zauberhafte und zugleich angsteinflößende Welt. Tragisch, gefühlvoll und zugleich spannender und gruseliger als die meisten Horrorfilme.

El día que resistía lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation Kplus.

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