„Wir müssen dafür sorgen, dass die Welt uns sieht!“

„Hört nicht auf zu tanzen!“ Ferrerossas Projekt Yo Me Entacono schafft mehr Sichtbarkeit für queere Körper im Salsa-Tanz (Foto: Miguel Ferrerossa)

Wann hast du angefangen, professionell zu tanzen und was hat dich dazu gebracht, Yo Me Entacono zu gründen?
2013 habe ich begonnen, in einer Tanzschule in Cali zu tanzen. In Aguablanca, einem Viertel im Osten der Stadt, aus dem viele Tänzer kommen. Das Schöne daran ist, dass Tanzen etwas Soziales ist, das die jungen Menschen von der Gewalt und von anderen Problemen fernhält, die wir haben, wenn wir am Stadtrand aufwachsen.
Als ich angefangen habe zu tanzen, hatte ich bereits meinen eigenen, sehr femininen Stil und das hat nicht gut in die Vorstellungen der Tanzschulen gepasst. Mir wurde immer gesagt „Als Frau tanzt du sehr gut, aber du musst lernen wie ein Mann zu tanzen.” In Verbindung mit dem Tanzen und dem eigenen Körper gab es eine konstante Auseinandersetzung darüber, was es bedeutet Mann und was es bedeutet Frau zu sein. Ich sollte üben, das Maskuline zu repräsentieren, das hat die Schule von mir verlangt. Das löste eine Art mentale Krise in mir aus, denn mit 17 Jahren befindet man sich noch in einem Prozess, in dem man versucht, die eigene Identität zu finden. Bis heute fällt es mir sehr schwer zu verstehen, wie ich diese Männlichkeit verkörpern sollte. Ich habe mich auch gefragt, was es bedeutet, Weiblichkeit zu verkörpern. Mir ging es nie darum weiblich zu sein, sondern ich selbst zu sein, das war die Energie, die ich gespürt habe. Ich habe Frauen gesehen, die mit hohen Schuhen getanzt haben und gedacht „Ich möchte meinen Körper in High Heels tanzen sehen, ich weiß nicht warum.” Aus diesem sehr persönlichen Prozess heraus ist Yo Me Entacono entstanden. Das Projekt habe ich 2019 gegründet.

Erzähl uns ein bisschen mehr über dein Projekt, mit dem du gerade auch in Europa unterwegs bist.
Die Idee hinter dem Projekt ist es, weiblich gelesene Körper sichtbar zu machen – in Verbindung mit Salsa und High Heels. Die Idee begann mit mir und meinem Körper. Ich zeige meinen Körper in sehr machistischen Räumen, denn in der Salsaszene gibt es soziale Strukturen, die sehr stark dadurch definiert sind, was es bedeutet Mann oder Frau zu sein. Wenn du nicht in dieses Muster hineinpasst, befindest du dich in einem ständigen Kampf.

Letztes Jahr hast du Yo Me Entacono auf einem Wettkampf in Medellín repräsentiert und den zweiten Platz belegt. Wie kam es dazu und was hat dieses Erlebnis für dich und das Projekt bedeutet?
2022 ging es mir gesundheitlich nicht gut und da habe ich mir gesagt „Wenn ich jetzt nicht tanze, werden meine Pläne nie Realität werden.” Ich wollte an einem Wettkampf teilnehmen und hatte die Idee, als Solist in der männlichen Kategorie aufzutreten. Ich habe mir gesagt „Wenn es den Leuten gefällt, ist es gut, wenn es den Leuten nicht gefällt, ist es auch gut.” Meine Tutorin, die Tänzerin Xiomar Rivas, hat zu mir gesagt: „Wir können das machen, wir werden das machen.” Natürlich hatte ich Zweifel. Beim Salsatanzen gibt es immer Möglichkeiten den Schritt feminin oder maskulin auszuführen, die Möglichkeit zu beschreiben, was das eine und was das andere ist. Und da war ich, in der männlichen Kategorie, mit High Heels und einem Outfit, das ebenfalls nicht männlich gelesen wird. Die Tatsache, dass ich in dieser Kategorie den zweiten Platz belegt habe, ist von historischer Bedeutung für die LGBTQ+-Bewegung, die sich in Kolumbien solche Räume lange erkämpfen musste. In meinem eigenen Land an diesem Wettbewerb teilnehmen zu können, war sehr besonders. Vor allem nach all den Zweifeln, die ich hatte. Es gab keine Vorbilder, denen ich folgen konnte. Es gibt andere Tänzer, die auf High Heels tanzen und die mich inspirieren, aber niemanden, der an so einem Wettbewerb teilgenommen hat. Ich glaube auch, dass die Jury den Wert meiner Teilnahme erkannt hat, dass sie begonnen hat zu verstehen, was ich rüberbringen wollte. Das hat das Projekt auf ein anderes Level angehoben.

Wer hat dich auf deinem Weg unterstützt, woher nimmst du die Energie, das Projekt aufrecht­zuerhalten?
Das sind verschiedene Faktoren, aber der gemeinsame Nenner waren immer Frauen. Es waren immer Frauen, die mich unterstützt haben, die Empathie gezeigt haben, für das, was ich durchmache. Woran das liegt? Frauen wissen, wie schwer es ist, nicht das Maskuline zu repräsentieren. Frauen haben mir immer das Gefühl gegeben, dazuzugehören. Das ist etwas sehr Wertvolles. Es gibt auch schwierige Momente, die man innerhalb der LGBTQ+-Community erlebt. Ich habe oft das Gefühl nicht dazuzugehören, weil ich so feminin bin. Aber es gab oft diese Frauen, die dich zudecken, die dich umarmen, die dir ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen geben. Das erlaubt dir die schönen Dinge zu sehen, die dir im Prozess widerfahren sind.

Seit April bist du mit Yo Me Entacono in Europa unterwegs, in Berlin, London und Paris. Welche Erfahrungen hast du dort gemacht, was bedeutet es für dich, mit deinem Projekt unterwegs zu sein?
Das Projekt soll Sichtbarkeit für die LGBTQ+-Bevölkerung auf der ganzen Welt schaffen. Das ist kein einfacher Prozess. Das Schwierigste ist es, mit der Ignoranz der Leute klarzukommen. Manchmal will es nicht in meinen Kopf, dass es Leute gibt, die dich angreifen wollen, einfach nur weil du existierst. Ich habe in Berlin homophobe Gewalt erlebt, sowie an verschiedenen Orten der Welt. Für mich ist es eine Herausforderung, auf die Straße zu gehen, weil mir Gewalt begegnet. Ich bin in Frankreich angekommen, als die extreme Rechte gerade die Wahlen gewonnen hatte. Das zeigt auch, dass wir als queere Menschen nirgendwo sicher sind. Auf gesetzlicher Ebene kann sich jederzeit etwas ändern. Das wird direkt unsere mentale und körperliche Gesundheit betreffen. Durch die Kunst und durch den Tanz versucht das Projekt, diese Geschichten sichtbar zu machen, weil es das Einzige ist, was uns bleibt. Je weniger wir uns zeigen, desto schwieriger wird es, andere Räume für uns zu öffnen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Welt uns sieht. Darum geht es.

Wie hat sich das Projekt auf deine persönliche Entwicklung als Tänzer und als Künstler allgemein ausgewirkt?
Es war ein sehr persönlicher Prozess. Das Projekt erlaubt es mir, meinen Körper Schritt für Schritt zu befreien. Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit meiner Mentalität. Am Anfang trug ich einen Hut, ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. All das, was Teil der männlichen Kleidung in der Salsawelt ist. Jetzt ist es das komplette Gegenteil. Ich zeige Teile meines Körpers, die du weder als Frau noch als Mann zeigen solltest, wenn du nicht als vulgär bezeichnet werden möchtest. Das Projekt hat dazu beigetragen, dass ich viele Vorurteile für mich selbst brechen musste. Ich hatte eine sehr maskulinisierte Vorstellung von mir, die ich abbauen musste, weil ich mich damit nicht wohl fühlte. Und dann kamen die High Heels dazu. Zum einen musste ich die richtige Technik erlernen, gleichzeitig war das aber auch eine persönliche Entwicklung. Jedes Mal, wenn ich meinen Körper an seine Grenzen brachte, begann ich, mich wohler zu fühlen, mit dem, was ich danach ausdrücken konnte.

Welche Pläne hast du mit Yo me Entacono? Welche Ratschläge möchtest du Frauen und Queers und allen Personen, die sich fürs Tanzen begeistern, mit auf den Weg geben?
Tanzen war das, was mich aus meinem Viertel herausgeholt hat. Ich möchte das mit Yo Me Entacono weiter in andere Teile der Welt tragen. Ich wollte immer eine Gemeinschaft schaffen, um das Projekt weiterzuentwickeln, um Musik machen zu können oder zu schauspielern. Allen, die eine Leidenschaft für das Tanzen haben, möchte ich sagen, dass sie nie damit aufhören sollen – besonders all die Frauen, die darin einen Raum sehen, in dem sie sie selbst sein können. Ich bin stolz darauf, wenn ich ein Teil ihres Prozesses sein kann. Ich glaube, Tanzen hat nicht nur eine soziale Funktion, sondern auch eine metaphysische Ebene. Ich glaube, dass sich dort alles vereint, was uns als Menschen verbindet, um das Leben zu feiern. In diesem Moment ist Tanzen das, was mich am Leben hält. Hört nicht auf zu tanzen!

STILVOLL STEPPEN IN SCHWARZ-WEIß

Wer gewinnt, muss aufhören. Das ist eines der ehernen Gesetze beim Malambo, einem dem Flamenco nicht unähnlichen Tanz aus Argentinien, der völlig ohne Gesang auskommt und ausschließlich von Männern praktiziert wird. Einmal im Jahr findet ein großer Wettbewerb statt. Der Sieger erntet großen Ruhm, darf danach aber nie mehr bei Turnieren antreten, sondern nur noch andere Tänzer anleiten und ausbilden.

Auch Gaspar träumt den großen Traum, den Wettbewerb der besten Malambistas zu gewinnen. Aber seine Voraussetzungen sind schlechter als bei seinen Konkurrenten: Er hat hartnäckige Rückenschmerzen und das beeinträchtigt ihn beim Üben für die körperlich sehr anspruchsvolle Performance unter Anleitung seines extrem fordernden Trainers Fernando sehr. Deshalb ordnet Gaspar alles seinem großen Traum unter. Er trainiert wie ein Verrückter, schwimmt und macht Wärmebehandlungen, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Er ignoriert sogar Flirtversuche seiner Physiotherapeutin. Doch seine Verbissenheit und sein Hass auf den Gegner, der ihn beim letzten Turnier besiegt hat, sind für seine Ziele nicht nur förderlich.

Malambo – El Hombre Bueno ist eine sauber und mit viel Herz erzählte Charakterstudie. In stilvollen Schwarz-Weiß-Bildern bleibt der Film sehr dicht an seinem zutiefst sympathischen Protagonisten Gaspar, seinen Zweifeln und Hoffnungen. Obwohl der Hauptdarsteller Gaspar Jofré auch im wirklichen Leben Malambista ist, ist der Film keine Dokumentation. Trotzdem wird ein interessantes und faszinierendes Bild des hierzulande ziemlich unbekannten Tanzes vermittelt – viele schick anzusehende Tanzszenen inklusive. Regisseur Santiago Loza sagt zwar: „Ich mache Filme mit meinen Freunden und für meine Freunde!“ – in diesem Fall könnte es ihm aber außerdem glücken, auch ein weit entferntes Publikum für ein außerhalb Argentiniens weitgehend unbekanntes Phänomen zu interessieren. Sein Beitrag gehört dadurch genau zu der Art von Filmen, wegen derer Filmfestivals wie die Berlinale ursprünglich erfunden wurden.

Malambo – El Hombre Bueno lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Panorama.

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