Berlinale | Brasilien

Stadt, Land, Kuss

Cidade; Campo zeigt Leben und Lieben im urbanen und ländlichen Brasilien in zwei exzellenten Episoden

Dominik Zimmer

© Cris Lyra / Dezenove Som e Imagens

As boas maneiras (Gute Manieren), der Überraschungserfolg über ein Werwolfbaby in São Paulo gilt bis heute über Brasilien hinaus als Kultfilm im Horrorgenre. Nicht nur das ungewöhnliche Narrativ, auch die gelungenen Schockmomente, der überraschende Stilmix und die warmherzige Darstellung der Protagonist*innen sorgten für Aufsehen und einen Preisregen auf internationalen Festivals. Nun ist Juliana Rojas, die Co-Regisseurin von As boas maneiras, mit dem Episodenfilm Cidade; Campo (Stadt; Land) zum ersten Mal auf der Berlinale zu Gast. Diesmal ist sie allein verantwortlich für Regie und Drehbuch. Und auch wenn Cidade; Campo thematisch eine ganz andere Richtung einschlägt als sein Vorgänger – Rojas’ Handschrift ist unverwechselbar und macht die 42-jährige aktuell zu einer der aufregendsten Stimmen im lateinamerikanischen Kino.

Dabei klingt das Konzept des Films zunächst etwas sperrig: Cidade; Campo besteht aus zwei einstündigen Episoden, die sich inhaltlich nicht überschneiden. Dabei geht es um Migrationsgeschichten vom Land in die Stadt und umgekehrt. Die erste Episode folgt Joana (Fernanda Vianna), die durch den Bruch des Staudamms Brumadinho und den nachfolgenden Erdrutsch ihre Farm und ihre Tiere verloren hat. Nun zieht sie in die Millionenmetropole São Paulo zu ihrer Schwester Tânia (Andrea Marquee), die sie herzlich aufnimmt. Obwohl Joana nach wie vor traumatisiert ist, schafft sie es schnell, Arbeit bei einem Putzdienst zu finden, was ihr findiger Großneffe Jaime (Kalleb Oliveira) für sie per App organisiert. Dort freundet sie sich mit ihren Kolleginnen an und kämpft mit ihnen gegen die fortschreitende Prekarisierung ihrer Arbeitsverhältnisse. Weil Rojas es schafft, der eigentlich unspektakulär verlaufenden Geschichte durch einen genauen Blick auf ihre Hauptfiguren und liebevoll inszenierte Details einen Spannungsbogen zu geben, fällt Abschied von der ersten Episode nach einer Stunde schwer. Doch auch die zweite Episode hat es in sich. Hier zieht Flavia (Mirella Façanha) gemeinsam mit ihrer Partnerin Mara (wie immer großartig: Bruna Linzmeyer) aus der Stadt auf die verlassene kleine Farm ihres verstorbenen Vaters. Von Beginn an werfen sich die beiden Frauen voll ins Land- und Liebesleben (die ästhetisch inszenierten und choreografierten Liebesszenen sind ein Highlight des Films). Dabei herrscht klare Arbeitsteilung: Mara ist Tierärztin und kümmert sich vor allem um das Vieh, Flavia übernimmt die Knochenarbeit auf dem Feld. Nach und nach wird allerdings klar, dass mit der Farm etwas nicht stimmt. Und ohne zu viel zu verraten, zeigt die Regisseurin spät im Film, aber dafür umso gekonnter, dass sie auch an der Klaviatur des Horrorgenres nichts verlernt hat.

Es ist die Mischung aus originellen Inszenierungen, Stilsicherheit in den verschiedenen Genres (Joanas fiktive Putz-App möchte man sich nach den Werbe-Jingles im Film am liebsten sofort herunterladen) und dem Gefühl für Stimmungen, die Cidade; Campo sehr sehenswert macht. Ganz besonders fällt aber immer wieder auf, wie sehr Juliana Rojas ihre Figuren liebt: Oft sind es Außenseiter*innen, die nicht gesellschaftlichen oder körperlichen Idealbildern entsprechen, aber durch ihr Handeln und ihren ehrlichen, liebevollen Umgang miteinander im Handumdrehen das Herz des Publikums gewinnen. Figuren, die das Land Brasilien nach den polarisierenden und auch für die Außenwirkung verheerenden Bolsonaro-Jahren dringend gebrauchen kann. Man wünscht allen, die ihnen zusehen, dass sie sich von ihrer Empathie und Aufrichtigkeit eine Scheibe abschneiden. Und natürlich, dass es bald wieder mehr solcher wunderbaren brasilianischen Filme wie Cidade; Campo gibt.

LN-Bewertung: 5 / 5 Lamas

Cidade; Campo, Brasilien 2024, 119 Minuten, Berlinale-Sektion Encounters, Regie: Juliana Rojas

 

Vorführtermine auf der Berlinale:

Di 20.02. 19:30, International

Mi 21.02. 12:30, Colosseum 1

Do 22.02. 15:30, Zoo Palast 2

Fr 23.02. 09:45, Cubix 8

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