Wiedersehen mit Serra
Dilma Roussef muss in die Stichwahl gegen José Serra – wie einst ihr Ziehvater Lula
Für einen Sieg in der ersten Runde reichte es nicht ganz. Dilma Roussef, die Kandidatin der aktuell regierenden Arbeiterpartei PT, kam bei den Präsidentschaftswahlen am 3. Oktober auf rund 47 Prozent der gültigen Stimmen und hat damit die absolute Mehrheit um drei Prozentpunkte verfehlt. Am 31. Oktober wird es nun zur Stichwahl um die Präsidentschaft in Brasília kommen. Dilmas Konkurrent von der rechtssozialdemokratischen PSDB, José Serra, erhielt im ersten Wahlgang rund 32 Prozent der gültigen Stimmen. Serra war schon 2002 als Präsidentschaftskandidat der PSDB angetreten und musste sich in der Stichwahl der PT geschlagen geben. Damals hieß der Gegenkandidat Luiz Inácio Lula da Silva. Der darf nach zwei Amtszeiten nun nicht mehr antreten. Doch dürfte er nach der anstehenden Legislaturperiode 2014 wohl erneut kandidieren.
Für die bevorstehende Stichwahl wird entscheidend sein, wer die Stimmen der beim ersten Wahlgang Drittplazierten, Marina Silva, gewinnt. Die ehemalige Umweltministerin der Regierung Lula und Ex-Senatorin hatte im ersten Wahlgang knapp 20 Prozent der Stimmen erhalten. Marina Silva war 2008 überraschend als Umweltministerin zurück- und später aus der Arbeiterpartei PT ausgetreten, bevor sie sich der grünen Partei PV anschloss.
Es wird erwartet, dass eher Dilma die Stimmen von Marinas WählerInnen auf sich einen kann als der als Unternehmerkandidat geltende Serra. Gleichwohl sind die WählerInnen Marinas keine „grüne“ Wahlklientel im eigentlichen Sinn. Die Grüne Partei PV in Brasilien ist weit entfernt vom klassischen Grünenbild. So ist Marinas beachtlicher dritter Platz denn auch weniger auf „grüne“ Themen als auf ihre Persönlichkeit zurückzuführen. Ähnliches gilt für alle anderen KandidatInnen. Denn der Wahlkampf in Brasilien wurde von BeobachterInnen fast unisono als vergleichsweise inhaltsleer beschrieben: nicht Themen und Programme, sondern Personen bestimmten das Bild. Und wegen der gleichsam historischen Popularität des scheidenden Präsidenten Lula – bei aktuell um die 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung – war er das im Wahlkampf beliebteste Motiv.
Nicht nur Lulas selbst erwählte Kandidatin, Dilma Roussef, zeigte sich gern mit seinem Konterfei, sondern auch Gegenspieler Serra. Dies illustriert wohl am ehesten das Problem der diesjährigen Wahlen in Brasilien: nahezu alle KandidatInnen wollten für ein „Weiter so!“ einstehen. Das heißt für die nun anstehende Stichwahl aber auch, dass die von Lula massiv vorangetriebende Politik der umstrittenen Großprojekte wie beispielsweise der Monsterstaudamm Belo Monte fortgeführt wird – sei es von Serra oder Dilma. Die Politikunterschiede zwischen beiden KandidatInnen sind bislang am ehesten in Bereichen der Sozialpolitik auszumachen. Wenn es um Entscheidungen wie der Erhöhung des Mindestlohns, um die Fortführung der Sozialprogramme, um Fragen von Privatisierungen oder Staatseinfluß, um Arbeitsrechte sowie um die Stärkung der Gewerkschaften geht – sind in der Tat beachtliche Politikunterschiede zwischen Serra und Dilma zu erwarten.
Doch während Brasília noch vier weitere Wochen auf die Entscheidung warten muss, wer in den Regierungspalast Planalto einzieht, kam es bei den Parlamentswahlen im Bundesstaat Rio de Janeiro zu einer faustdicken Überraschung. Der Abgeordnete Marcelo Freixo von der linken Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) konnte seine Stimmen gegenüber dem Jahre 2006 mehr als verfünfzehnfachen. Mit über 177.000 Stimmen ist er bei der Parlamentswahl zweitmeistgewählter Abgeordneter des Parlaments von Rio geworden. BeobachterInnen werten dies als „starkes Votum“ der Bevölkerung Rios gegen die Umtriebe der berüchtigten Mafiamilizen. Freixo hatte als Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Paramilitärs im Bundesstaat Rio de Janeiro maßgeblich dazu beigetragen, dass zahlreiche enttarnte Milizionäre, unter ihnen auch ehemalige Landtagsabgeordnete und damit Kollegen von Freixo, im Gefängnis landeten. Mehrere Mordanschläge auf Freixo wurden in letzter Minute vereitelt. Er steht inzwischen 24 Stunden am Tag unter Bewachung schwerbewaffneter Sicherheitskräfte.
Diese Mafiamilizen, die ganze Stadtteile unter ihre Kontrolle gebracht haben und terrorisieren, dabei Schutzgelder erpressen, ganze Wirtschaftszweige unter ihre Kontrolle gebracht haben und vor Mord und Entführung nicht zurückschrecken, hatten im Vorfeld der Wahl ihre Position klargemacht: Wenn jemand von Freixos WahlkampfhelferInnen in die bevölkerungsreiche Zone im Westen Rios zum Plakatieren für Freixo ginge, dann „kriegt er eine Kugel“ – so die unmissverständliche Ansage. Dies bedeutete für Freixo: keine Wahlkampfreden vor Ort, kein Händeschütteln vor laufender Kamera, kein Plakatieren in der berüchtigten Westzone von Rio de Janeiro. Er war deshalb vor allem auf das Internet angewiesen. Umso mehr erstaunt sein Erfolg – hat er doch in der von den Milizen kontrollierten Westzone allein immerhin zehn Prozent seiner Stimmen erhalten. Noch bei der letzten Wahl wäre dies auch aus einem anderen Grund undenkbar gewesen: Damals stellte sich heraus, dass die Milizionäre von der Bevölkerung Belege gefordert hatten, dass sie die „richtigen“, also die KandidatInnen der Milizen, wählten. Als Nachweis dienten in der Wahlkabine mit Mobiltelephonen gemachte Photos des Wahlzettels. Deshalb war bei der diesjährigen Wahl die Mitnahme von Handys in die Kabine verboten.
Die Wahl Freixos ist aber auch als Zeichen zu werten, dass der Terror der Milizen die Bevölkerung mehr und mehr polarisiert. Denn den Gouverneursposten von Rio hat der bisherige Amtsinhaber, Sérgio Cabral, verteidigt. Und diesem wird nachgesagt, er schreite nicht energisch genug gegen die Milizen ein. Sein Konkurrent auf den Gouverneursposten, Fernando Gabeira von der Grünen Partei PV, hatte ihm im Fernsehen sogar vorgeworfen, mit den Milizen eine „politische Allianz zu bilden“. Als Beleg hatte Gabeira ein Video gezeigt, das den Gouverneur mit zwei stadtbekannten Milizionären zeigt. Die beiden Chefs der Miliz der so genannten „Liga da Justiça“ sitzen derzeit in Hochsicherheitsgefängnissen in Haft. „Diese Allianz hat sehr stark dazu beigetragen, dass diese Gruppen dermaßen expandieren konnten“, so Gabeira.