“DAS KINO AUS LIMA HAT MICH WÜTEND GEMACHT”

Álvaro Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)


Zum Einstieg folgende Frage: Warum machen Sie eigentlich Filme?
Diego Sarmiento: Jeder Künstler sucht einen Weg, seine Emotionen auszudrücken. In unserem Fall ist es ein glücklicher Zufall gewesen, dass wir beide das hier tun, und wir ergänzen uns dabei irgendwie gegenseitig. Ich glaube, dass wir glücklich sind mit dem, was wir machen, und diese Art von Festivals lässt die Inspiration
und die Lust aufs Filmemachen wachsen. Es ist wie Nahrung für die Seele und den Geist.

Woher kam die Idee für Ihren aktuellen Film?
DS: Vor fünf Jahren haben wir einen Workshop über Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche im peruanischen Amazonasgebiet gemacht und sind fast ein ganzes Jahr dort geblieben. Durch diesen Workshop lernten wir viele Menschen kennen und eben dadurch entstand unser Kurzfilm Hijos de la Tierra (Kinder der Erde), der 2014 in der Berlinale-Sektion ‚Generation‘ lief. Die Kinder, die in diesem Kurzfilm zu sehen waren, stellten uns ihre Familien vor und so kamen wir zu einigen der Protagonisten des Dokumentarfilms Rio Verde. Außerdem leben wir teils in Cusco und teils im Amazonasgebiet und haben innerhalb der letzten fünf Jahre viele Reisen gemacht. Aus dem ganzen Material ist der Film eigentlich in der Postproduktion entstanden. Álvaro hat zusammen mit unseren Videoeditoren im Schnitt den Film als Ganzes ermöglicht. Diese Phase hat sehr lange gedauert.

Was bedeutet der Titel Die Zeit der Yakurunas?
Álvaro Sarmiento: Es ist ein metaphorischer Titel. Die Yakurunas sind eigentlich Unterwassermenschen
aus einer Legende in Amazonien, aber dieser Film handelt nicht von Menschen, die unter Wasser leben, sondern von denen, die in der Nähe oder am Rande des Flusses leben. Es ist also ein poetischer Titel auf
Quechua, der uns gefallen hat, und gleichzeitig eine weitverbreitete Legende aus Amazonien mit hohem repräsentativen Wert. Daher haben wir uns für diesen Titel entschieden.

Sie haben Lima zugunsten von Cusco und dem Regenwald schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt. Was hat Sie dazu bewogen?
ÁS: Unser erster Dokumentarfilm über die Region von La Oroya war wie eine Rückkehr zu unseren Wurzeln, weil unsere Mutter aus der Stadt Huancayo kommt. Unsere Großeltern kommen aus Cerro de Pasco und unser zweiter Dokumentarfilm war eben über Cerro de Pasco. Es ist also eine Familiensache: eine Rückkehr zu
unseren Wurzeln, zu unserem Zuhause durch das Filmemachen und das Zeigen der Realität dieser Regionen. Außerdem identifiziere ich mich nicht mit dem Kino, das in Lima produziert wird, eben wegen der Qualität der dortigen Filme, der Nicht-Repräsentation der indigenen Bevölkerung oder ihrem Erscheinen als die ewigen
Diener, Hausmädchen und Ähnliches. Das hat mich immer wütend gemacht. Ich habe mein Studium an der Universidad de Lima abgebrochen und bin nach Brasilien gegangen, um dort vier Jahre lang Film zu studieren. Dort habe ich gelernt, was cine indígena (indigener Film) ist. Ich habe meine Abschlussarbeit über die NGO
Video nas Aldeias geschrieben, eine Organisation, die seit 25 Jahren indigenen Völkern das Filmemachen beibringt, sowohl theoretisch wie auch technisch. Ich kam dann aus Brasilien mit dem Wunsch und der Entschlossenheit zurück, diese Art von Kino zu machen.

Diego Sarmiento (Foto: Carmen Salas Cárdenas)

Das Thema der indigenen Gemeinschaften kommt nicht oft in die Medien und ist auch nicht wirklich präsent als künstlerisches Motiv in Peru. Was möchten Sie mit Ihrem Interesse an den Indigenen Perus erreichen?
DS: Das hängt von der jeweiligen Produktion ab. Es ist nicht so, dass wir mit all unseren Projekten das gleiche Ziel erreichen wollen, aber indem wir sie zeigen, möchten wir die indigene Kultur wieder aufwerten und verbreiten.
ÁS: Wenngleich unsere vorherigen Produktionen in Peru wenig gesehen wurden, glaube ich, dass es doch ein Publikum gibt, das sich für diese kulturelle Produktion interessiert. Das Interesse an einem Dokumentarfilm bedeutet, dass der Zuschauer etwas lernen möchte. Diese Art von Filmen hat eine lehrreiche Funktion. Was
Río Verde betrifft: Dieser Film würde in Peru zwischen fünf- und zehntausend Zuschauer im Kino erreichen. Aber was Filmfestivals angeht, könnte dieser Film sicher auf 50 Festivals gezeigt werden, eben wie unsere Kurzfilme, die bislang auf 30-40 Festivals gezeigt wurden. Angenommen, pro Festival würden 1.000 Menschen den Film sehen, dann würden wir durch die ganzen Festivals 50.000 Zuschauer weltweit erreichen. Das ist eine bedeutende Zahl, obwohl sie neben den Zahlen eines Blockbusters klein erscheint. Die Leute interessiert schon diese Art von Themen, die wir präsentieren, und ich glaube, damit sind wir alle glücklich.

In Río Verde versuchen Sie, das Zeitgefühl der Menschen des Amazonas zu vermitteln, um eine Distanz durch diesen ethnographischen Blickwinkel zu klassischen Dokumentarfilmen zu schaffen. Haben Sie nicht die Befürchtung, damit ein größeres Publikum zu verschrecken?
ÁS: Mich interessiert das Autorenkino. Es ist auf jeden Fall für ein eingeschränkteres Publikum gedacht, eines, das Filme über Kulturen mag, das sogenannte ‚World Cinema‘. Zum Beispiel gibt es Menschen, die es genießen, die thailändische oder vietnamesische Gastronomie durch einen Film kennenzulernen. Es gibt durchaus Leute, die sehr kleine Filme genießen. Wir zielen auf dieses Publikum, das andere, wenig
erkundete Teile der Welt durch Filme entdecken möchte. Río Verde ist auf keinen Fall ein kommerzieller
Film, wir appellieren nicht an das große Publikum. Es ist ein Film, der einem Gemälde ähnelt, indem wir dadurch unsere eigene künstlerische Sensibilität zum Ausdruck bringen. Derjenige, der dies genießt, ist stets willkommen!
DS: So, wie es Animations-, Fiktions-, und Genre-Kino gibt, glauben wir, dass es auch indigenes
Arthouse-Kino, indigenes Fiktionskino, indigenes Animationskino und von Indigenen selbst gemachtes Kino geben könnte. Indigenes Kino muss nicht immer Protest-Kino gegen etwas sein, es kann auch etwas Künstlerischeres sein. Das ist es, was wir verbreiten wollen, eine Palette von verschiedenen Arten des indigenen Kinos.

Welche konkrete Vorteile hat Ihnen die Berlinale gebracht?
DS: Auf der einen Seite ist es im Bereich des Vertriebs sehr wichtig, die Weltpremiere bei der Berlinale zu haben. Dadurch wird es einfacher, einen Film auf andere Festivals zu bringen. Bei einem so großen Festival entwickelt sich ab der Premiere eine Art Netzwerk. In wirtschaftlicher Hinsicht bringt es nicht unbedingt Vorteile.

Wenn wir jetzt von der internationalen auf die nationale Ebene zurückgehen, stellt sich die Frage: Kann man in Peru von einem Vollzeitjob als Filmemacher*in leben?
DS: Alles ist möglich. Das hängt vom Lebensstandard ab, den jeder erreichen möchte. Zurzeit sind wir tatsächlich zu 100 Prozent mit unseren Produktionen ausgelastet.
ÁS: Ich glaube, dass man tatsächlich vom Filmemachen leben kann. Wir leben davon, aber auf eine sehr bescheidene Art und Weise. Leider gewinnen wir nicht immer die Preise, die von der peruanischen Regierung ausgeschrieben werden. Es gibt sehr viel Konkurrenz und die Jurys interessieren sich zum Teil einfach nicht
für das, was wir machen, obwohl wir uns international bereits einen Namen gemacht haben. Aber klar ist: Mit oder ohne Geld, wir werden weiter unsere Filme machen.

Jetzt, wo der peruanische Schauspieler und Filmregisseur Salvador del Solar zum Kulturminister
ernannt wurde: Meinen Sie, dass Peru dadurch einem neuen Filmgesetz einen Schritt näher gekommen ist?
DS: Ich denke, dass wir noch näher sein könnten. Es ist ein politisches und schwieriges Thema. Denn manchmal hängt das Kulturministerium vom Wirtschaftsministerium und anderen Organen ab. Es mag sein, dass da seinerseits Bereitschaft besteht, aber auf jeden Fall wird für so etwas die Stärke des filmischen Gremiums, die Stärke der kleinen Filmindustrie in Peru, benötigt. Es hängt nicht nur von Salvador ab. Nichtsdestotrotz ist jetzt ein neues Filmgesetz durchaus möglicher als früher. Was dabei aber nicht vergessen werden darf ist, dass alle Künste gefördert und besser gefördert werden sollten. Es ist die Gesamtheit und nicht nur die Filmindustrie, die das Land repräsentiert. Jetzt gerade vertreten wir in gewisser Weise unser Land und es ist natürlich wie ein großes Geschenk, Teil der Berlinale sein zu können, aber das ist nicht unser endgültiges Ziel. Es sollte mehr Förderungen geben. Zum Beispiel haben wir den DAFO-Preis (eine Auszeichnung der peruanischen Regierung, Anm. d. Red.) gewonnen und die staatliche Agentur Promperu hat die Flugtickets für die Regisseure bezahlt – leider nur die der Regisseure, denn wir hätten auch gerne zumindest unseren Videoeditoren mitgebracht – aber es ist traurig, diese Leistungen mit denen anderer lateinamerikanischer Staaten zu vergleichen. Die Botschaften kümmern sich um das ganze Team, sie helfen ihnen in wirtschaftlicher
Hinsicht, es ist schon ganz schön teuer, aus Südamerika hierher zu kommen. Ich glaube, dass zumindest unsere Botschaft sich in dieser Hinsicht etwas mehr Mühe geben sollte.

Welche Projekte verfolgen Sie in der nächsten Zeit?
DS: Wir würden nur ungern viele Details verraten, aber jetzt gerade sind wir in der Endphase des Dokumentarfilms Sembradoras de Vida (Säerinnen des Lebens), der durch einen Fonds des Kulturministeriums im Jahr 2014 möglich gemacht wurde und parallel dazu haben wir stets mehrere Ideen und Kurzfilmprojekte, denen wir nachgehen.
ÁS: Unsere Produktionen werden immer auf eine sehr handwerkliche, familiäre Art gemacht. Das ist unser Stil. Ähnlich, wie wenn man ein handgemachtes Produkt kauft. Zum Beispiel stehe ich auf, frühstücke und schneide dann im eigenen Heim. Ich brauche also keine Superproduktion im Rücken, um voranzukommen.

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