FÜNF JAHRE ABKOMMEN

Der 24. November 2016 war ein hoffnungsvoller Tag für Millionen von Kolumbianer*innen, die seit 2012 die Friedensverhandlungen zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung unterstützt hatten. An diesem Tag unterzeichneten beide Parteien ein Abkommen, um den jahrzehntelangen bewaffneten Konflikt zu beenden.

Die FARC war nur einer der im Konflikt involvierten bewaffneten Akteur*innen. Linke Guerillas wie die Nationale Befreiungsarmee (ELN), rechte paramilitärische Gruppen, mafiöse Strukturen und auch der Staat und seine Sicherheitskräfte waren und sind weiterhin verantwortlich für gravierende Menschenrechtsverletzungen. Das Verschwinden der FARC als bewaffnete Organisation bedeutet somit nicht die Beendigung des langjährigen Konflikts in Kolumbien.

Dennoch waren die Friedensverhandlungen und die Wiedereingliederung der FARC in das zivile politische Leben ein notwendiger Schritt, um den Weg für einen langfristigen und ganzheitlichen Frieden zu ebnen. Mit diesem Ziel verhandelten Delegierte der FARC, der Regierung und der Opfer des Konflikts umfangreiche strukturelle Reformen etwa in Bezug auf Land, illegale Anbaukulturen und politische Teilhabe.

Die Hoffnungen großer Teile der Zivilgesellschaft auf Frieden sind fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens großteils der Enttäuschung gewichen. Der Jesuitenpater Javier Giraldo, eine wichtige Figur in der Verteidigung der Menschenrechte, äußerte sich in einem Interview mit der Zeitung El Espectador kritisch: „Es ist wie eine Konstante aller vorheriger Friedensabkommen. Der Konflikt wird nicht an den Wurzeln angepackt, die ehemaligen Kämpfer werden ermordet und die Gründe für den Krieg werden immer wieder hervorgeholt und dadurch auch der Krieg selbst.“

Das größte Hindernis der Umsetzung des Abkommens ist der fehlende politische Wille: In der Tradition des uribismo, der politischen Tradition des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, leugnet die aktuelle Regierung den bewaffneten Konflikt mitsamt seinen historischen Ursachen, versucht die Umsetzung des Friedensabkommen mit allen Mitteln zu torpedieren und diskreditiert öffentlich die entstandenen Organe für alternative Justiz und Wiedergutmachung.

Die Hoffnungen auf Frieden sind der Enttäuschung gewichen

Bereits vor der Unterzeichnung des Abkommens äußerten zivilgesellschaftliche Sektoren Sorgen bezüglich der Leerstelle nach Abzug der FARC aus den von ihnen kontrollierten Regionen. Die Befürchtung vieler Menschen, dass Kämpfe zwischen anderen bewaffneten Akteur*innen aufkommen würden, hat sich bestätigt. Nach dem Machtvakuum, das die FARC hinterlassen hatten, verpasste der Staat die Gelegenheit, mit einer sozialen Politik und Reformen zugunsten der verarmten Bevölkerung in diesen geostrategisch wichtigen (und deshalb gewaltvoll umkämpften) Territorien anzukommen. Der ehemalige FARC-Kämpfer Martin Batalla sagte dazu im LN-Interview: „Es ging nicht darum, die Regionen einfach sich selbst zu überlassen, dafür waren im Abkommen Programme und politische Maßnahmen vorgesehen – wie die umfassende Reform des ländlichen Raums, der Nationale Plan zur Substitution illegaler Anbaukulturen, das Sicherheitsprogramm für ländliche Gemeinden und für ehemalige Kämpfer“ (siehe LN 567). Umgesetzt davon wurde nichts.

Das Land braucht eine Regierung, die gewillt ist, das Abkommen umzusetzen

Der Staat ist in diesen umkämpften Territorien nur in Form des Militärs präsent, welches laut Pater Giraldo zumindest im Bundesland Antioquia „sehr offensichtlich mit dem Paramilitarismus zusammenarbeitet“. Vor dem Abkommen dominierte die FARC als prominenteste illegale bewaffnete Gruppe mit einer klaren Struktur und Ideologie. Gegenwärtig existieren über 30 bewaffnete Konflikt- gruppen, neben der ELN-Guerilla auch paramilitärischen Strukturen wie das mächtige Drogenkartell Clan del Golfo. Die große Leidtragende ist nach wie vor die ländliche Zivilgesellschaft.

Es kann nicht von einer „Beendigung des Konfliktes und der Etablierung eines stabilen und langanhaltenden Friedens“ die Rede sein, wie der Titel des Abkommens lautet. Anfänglich trat eine Zeit der relativen Ruhe in den ländlichen Regionen ein. Seit 2017 steigen jedoch die Zahlen der Morde, Massaker und Vertreibungen erneut an: Zwischen November 2016 und November 2021 wurden laut der NGO Indepaz 1.270 lideres/as sociales und 299 Unterzeichner*innen des Abkommens ermordet, 250.000 Menschen wurden gewaltsam vertrieben und zwischen Januar 2020 und November 2021 wurden 179 Massaker verübt. Die ermordeten líderes/as setzten sich oft für die Ersetzung von Anbaukulturen für illegale Drogen ein. Der Staat schweigt und selten werden die Täter*innen ermittelt.

Laut aktuellen Zahlen der UNO sind 95 Prozent der ehemaligen FARC-Mitglieder nach wie vor mit dem Abkommen verbunden. Jedoch hat der fehlende Wille der Regierung zur Umsetzung der mit dem Abkommen einhergehenden Garantien für ehemalige Kämpfer*innen dazu geführt, dass einige in illegale Gruppen eingetreten sind.

Auch innerhalb der aus dem Abkommen gegründeten Partei Fuerzas Alternativas Revolucionarias del Común (Farc), 2021 in Comunes unbenannt, funktioniert nicht alles wie erhofft: Machtkämpfe und divergierende Vorstellungen über Parteipolitik führten zum Austritt vieler Parteimitglieder. Batalla verwies jedoch darauf, dass die Unterzeichner*innen des Abkommens in verschiedenen Weisen für den Frieden kämpfen, die nicht notwendigerweise parteipolitisch sind.
Dennoch ist nicht alles negativ. Aus dem Abkommen resultierten mehrere Institutionen. Eine „Einheit zur Suche von als gewaltsam verschwunden geltenden Personen“, eine „Sonderjustiz für den Frieden“ (JEP) und eine außergerichtliche Wahrheitskommission (CEV). Die JEP ist verantwortlich für die juristische Aufarbeitung der Verbrechen und sieht für alle am Konflikt beteiligten Akteur*innen, im Gegenzug für die Mitarbeit zur Aufklärung der Geschehnisse, Straferlasse vor. Aussagen von Führungspersönlichkeiten der FARC, der Paramilitärs und des Militärs ermöglichten wichtige Einblicke in die Dynamiken des Kriegs. Die CEV soll bis Mitte 2022 einen umfassenden Bericht des bewaffneten Konflikts anfertigen, in der die Perspektive der Opfer im Mittelpunkt steht.

Seit Verabschiedung des Abkommens ist zivilgesellschaftlich  viel geschehen

Als Iván Duque 2018 zum Präsidenten gewählt wurde, wussten die Unterstützer*innen des Abkommens, dass sie verhindern mussten, dass sich die Drohung des Regierungsvertreters Fernando Londoño „das verdammte Friedensabkommen zu zerstören“ erfüllen würde. Seitdem ist zivilgesellschaftlich viel geschehen: Ein in Kolumbien nie zuvor gesehener Generalstreik und die Entstehung einer kollektiven Stimme, die ihr Recht auf ein würdevolles Leben und die Umsetzung des Abkommen einfordert. Die Hoffnungen liegen jetzt auf den Kongress-, Senats- und Präsidentschaftswahlen im März und Mai dieses Jahres. Das Land braucht dringend eine Regierung, die gewillt ist, das Abkommen umzusetzen, umfassende soziale und ökonomische Reformen durchsetzt und nicht von Korruption, Klientelismus und mafiösen Strukturen durchdrungen ist.

„FÜR EINEN INDIGENEN DAS SCHLIMMSTE, WAS PASSIEREN KANN“

Illustration: Joan Farias Luan, www.cuadernoimaginario.cl

…ich komme aus Miraflores und wuchs dort im indigenen Reservat El Gran Cumbal, in der Nähe von Pasto an der Grenze zu Ecuador auf. Unsere Nachbarn sind die Awá, die dort auch in Reservaten leben. Wir alle leiden unter einem brutalen Konflikt. Unsere Region war lange Zeit unter der Kontrolle der FARC (Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens, Anm. d. Red.). Zum Friedensprozess haben einige ihre Waffen abgegeben und andere gründeten Dissidentengruppen wie die Frente Oliver Sinisterra in unserer Region. Diese kämpfte gegen die ELN (Nationale Befreiungsarmee, Anm. d. Red.) um die Vorherrschaft in unserer Region. Auch die Präsenz von Paramilitärs nahm zu. Vor allem die Awá leiden unter ihnen, viele wurden von Paramilitärs ermordet.

Worum geht es bei diesen Kämpfen?
Dabei geht es um Kokain und Gold, vor allem der illegale Bergbau ist ein Problem. Außerdem wird über die Grenze viel geschmuggelt, zum Beispiel Waffen. Es ist bei uns für einen Bauern viel rentabler, Kokain oder Mohn zu kultivieren als Kartoffeln. Doch mit dem Drogenanbau ändert sich auch das Zusammenleben. Deswegen haben wir vom Indigenen Rat immer versucht, die Leute davon abzubringen, Kokain anzubauen. Wir Indigenen wollen keinen dieser bewaffneten Akteure in unserer Region haben. Keine Paramilitärs, keine Guerilla. Die benutzen die Angst, um die Dörfer unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie töten einen oder zwei Anführer aus dem Dorf und alle folgen ihrer Herrschaft. Darum haben sie auch meine Familienmitglieder umgebracht, zwei Onkel und eine Tante.

Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen.

Waren die auch Oberhäupter der Gemeinde?
Ja. Mein Onkel brachte jeden Tag die Milch vom Land ins Dorf, um sie dort zu verkaufen. Er war wichtig für die Wirtschaft unseres Reservats. Mein Vater war zuständig für die Bildung, er war Lehrer. Mein anderer Onkel wiederum war einer der wichtigsten Bauern und mein Großvater war der politische Anführer. Wie also bringst du ein Dorf unter Kontrolle? Indem du die zentralen Personen umbringst und so Angst säst.

Sie haben von den Anstrengungen der Gemeinde erzählt, die Jugendlichen davon abzubringen, in den Kokainhandel einzusteigen oder sich einer bewaffneten Gruppe anzuschließen. Wie kann das gelingen?
Nach den Morden an meiner Familie 2003 floh ich zunächst nach Cali. Ich sollte aber weiter für den Indigenen Rat mit Jugendlichen arbeiten. Ich versuchte, die Jugendlichen zu motivieren, an die Universität zu gehen. Dann half ich ihnen auch mit den Dokumenten, der Bewerbung. In Cali gründeten wir ein Studentenwohnheim für indigene Studierende und einen Indigenen Rat in der Universität, damit die Jugendlichen, die aus den Dörfern in die Stadt kamen, nicht ihre Traditionen und ihre Wurzeln verlieren. Das war interessant, weil wir Indigene aus verschiedensten Regionen Kolumbiens waren. Wir luden indigene Anführer nach Cali ein, um uns weiterzubilden.

Was haben Sie eigentlich studiert?
Agrarwissenschaften und später dann in Neiva Erdölingenieurswissenschaften. Ich wollte wissen, wie die Erdölgewinnung funktioniert, damit wir uns dann besser gegen die Ölkonzerne verteidigen und ihre Informationen überprüfen können. Ich konnte mein Studium aber nicht beenden, da ich wieder mit dem Tode bedroht wurde.

Wie kam es zu diesen Bedrohungen?
Als wir 2003 von unserem Land vertrieben wurden, trug mein Großvater mir auf, es zu verteidigen. Nun gibt es in Kolumbien aber ein Gesetz, wonach derjenige, der ein Land zehn Jahre bearbeitet, automatisch zum Landbesitzer wird. Also bemühten wir uns 2013 um die Rückgewinnung unseres verlorenen Landes und ich stellte den Antrag dazu. Die dafür zuständige Person in Nariño war eine Bekannte von mir. Ich dachte also, dass die Chancen gut stünden, unser Land zurückzuerhalten. Weißt du, was sie mir sagte? Dass wir in meiner Region die einzigen Antragsteller gewesen wären und deswegen zunächst alle anderen Regionen bearbeitet würden. Und das kann Jahrzehnte dauern.

Was passiert zur Zeit mit dem Land, das Ihnen gehört hat?
Dort wird Kokain angebaut. Ich habe mehrere Versuche gestartet, das Land mit der Guardia Indigena zurückzuholen. Doch so konnten wir die Leute nicht vertreiben.
Stattdessen erhielt ich Bedrohungen und musste erneut nach Cali fliehen. Als die Bedrohungen nicht aufhörten, ging ich nach Palmira und schließlich nach Neiva. Schließlich wurde mir gesagt, dass ich Kolumbien verlassen müsste. Die ELN hatte einen meiner Schulfreunde umgebracht. Sie zogen ihn um 5 Uhr morgens aus seinem Haus und schossen 16 Mal auf ihn. Am nächsten Tag riefen sie das Dorf zusammen und sagten, dass sie ihn ermordet hätten, weil er ein Informant der Paramilitärs gewesen sei, und dass sie zwei weitere Menschen umbringen würden, von denen einer ich war. Dann erhielt ich eine SMS, in der stand, ich hätte sieben Tage, um zu verschwinden. Ich wandte mich an die Opferschutzbehörde des Staates, doch die sagten, sie bräuchten zwei Wochen, um die Ermittlungen aufzunehmen und über Schutzmaßnahmen für mich zu entscheiden. Später erzählte mir ein Bekannter, der für dieselbe Behörde arbeitet, dass sie kaum Gelder zur Verfügung hätten und sogar die schusssicheren Westen ausgegangen seien.

Die Bedrohungen haben Sie bis in verschiedene Städte weiterverfolgt?
Ja, das funktioniert systematisch. Der Landbesitzer, der mich umbringen lassen möchte, kann verschiedenste Gruppen an unterschiedlichen Orten damit beauftragen. Und diese Bedrohungen werden in vielen Fällen auch wahr gemacht.

Trotz dieser schwierigen Situation gibt es eine starke indigene Bewegung im Südwesten Kolumbiens. Wie erklärt sich diese?
Dafür ist es wichtig, die indigene Gemeinschaft zu verstehen. Unsere Einheit war immer unsere Stärke. Bei uns hat sich die Individualisierung nie so durchgesetzt wie im Rest Kolumbiens. Dazu gehört auch, dass alle unsere Entscheidungen in Versammlungen getroffen werden. Wenn jemand einen Fehler begeht, entscheidet die Gemeinschaft, welche Form der Bestrafung er erhält. Das stärkt die Gemeinschaft. Uns wurde immer beigebracht, dass wir verschwinden, wenn wir nicht stark genug sind. Wenn wir nicht zusammenhalten, verschwinden wir. Es ist also auch ein Schutzmechanismus. Es sind Kämpfe, die notwendig sind, aber auf die wir eigentlich keine Lust haben. Wer will protestieren gehen, Straßen blockieren und sich einer bewaffneten Gruppe entgegenstellen? Aber wir sind dazu gezwungen, weil die Regierung nie die Versprechen uns gegenüber eingehalten hat. Die Minga, unser Protest, hat dieses Jahr viel Aufmerksamkeit erhalten, das ist gut. Aber eigentlich machen wir das jedes Jahr.

Wird auch Ihre Arbeit mit den Jugendlichen vor Ort weitergeführt?
Nein, gerade nicht. Mein Freund Miguel Ángel hatte die Aufgabe übernommen und kümmerte sich um die Jugendlichen des Reservats. Er wurde dieses Jahr am 1. Mai umgebracht. Ich habe nun den Kontakt zum Reservat etwas abgebrochen, seit ich in Deutschland bin. Aus Sicherheitsgründen, meine Familie ist ja noch dort und auch in Gefahr. Dazu kommt, dass für einen Indigenen das Verlassen des Landes das Schlimmste ist, was ihm passieren kann. Das ist, wie wenn dir jemand das Herz bricht. Innerhalb unserer Gemeinschaft bestrafen wir Menschen, die schwere Verbrechen begangen haben damit, dass sie ihre Dörfer verlassen müssen. Deswegen wollte ich nie das Land verlassen, ich versteckte mich lieber, lebte fern von meiner Familie, wechselte meine Wohnorte. Aber dann gab es keine Alternative mehr. Eines Tages sagte mir die staatliche Menschenrechtsverteidigerin: „Christian, du musst Kolumbien verlassen, es gibt keine andere Möglichkeit.“

Welche Erfahrungen haben Sie bei Ihrem Asylantrag in Deutschland bisher gemacht?
Für mich kam das alles sehr schnell. Die Menschenrechtsverteidigerin sagte, Deutschland sei ein gutes Ziel. Sofort kaufte ich das Ticket und einen Ratgeber „Wie ich mich in Deutschland verhalte“ (lacht). Am Flughafen in Deutschland wurde ich mehrere Stunden festgehalten, bis sie mich schließlich zur Erstaufnahmestelle schickten. Es war 11 Uhr nachts und ich hatte Angst, da man in Kolumbien nachts nicht einfach so rumlaufen kann. Jetzt weiß ich, dass das hier kein Problem ist. Ich habe meinen Antrag gestellt, aber ich habe kaum Informationen darüber, wie genau der Prozess weitergeht. Für mich ist das neu und alles sehr fremd, wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wohne derzeit in einer Geflüchtetenunterkunft und es gibt einfach nichts zu tun. Alles ist verboten für mich – dabei bin ich ein Mensch, der gerne unterwegs ist, arbeitet und Pläne schmiedet. Dafür kann ich ohne Angst leben. Manchmal wache ich nachts auf und denke, dass ich immer noch in Kolumbien bin. Und dann erinnere ich mich wieder daran, dass es hier sehr ruhig und sicher für mich ist.

WENIG GELD FÜR DEN FRIEDEN

Geld für den Haushalt Aber kaum für den Frieden (Foto: Daniela Rivas G.)

Im kolumbianischen Parlament wird derzeit heftig der Haushalt für das nächste Jahr diskutiert. Die Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC steht auf dem Spiel. Finanzminister Alberto Carrasquilla (siehe LN 531/532) will umgerechnet rund 74 Milliarden Euro ausgeben. Der größte Teil davon ist für die Begleichung der Schulden vorgesehen, gefolgt vom Ministerium für Bildung und dem Verteidigungsetat, der um fünf Prozent auf umgerechnet neun Milliarden Euro erhöht werden soll. Zum Vergleich: Das Budget der Behörde zur Betreuung und Entschädigung der Opfer des Konflikts (UARIV) wird auf drei Millionen Euro gekürzt. Auch der Haushalt der nationalen Agentur für Land, welche für Fragen der Eigentumsrechte in ländlichen Gebieten zuständig ist, wird um die Hälfte auf 40 Millionen Euro gekürzt.

Das üppige Budget für den Bergbausektor ist nicht nur für das Klima ein Problem

Geradezu üppig wirkt dagegen das Budget für Investitionen im Bergbausektor mit 550 Millionen Euro im Vergleich zu den 145 Millionen Euro, die in die Agentur für ländliche Entwicklung fließen sollen. Und das ist nicht nur für das Klima ein Problem. Im Friedensabkommen mit der FARC wurde eine Agrarreform beschlossen, welche die Situation der extrem marginalisierten Landbevölkerung verbessern sollte (siehe LN 508). In den Haushaltsplänen der Regierung wird diese aber nicht direkt erwähnt. Für den Wirtschaftsprofessor Giovanni E. Reyes der Universidad Rosario in Bogotá zeigt sich hier die Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik in Kolumbien.

De facto fehlen sieben Milliarden Euro, um den Plan von Finanzminister Carrasquilla umzusetzen. Um das Geld einzutreiben setzt er – selbst in einen Korruptionsskandal verwickelt – auf den Anstieg des Ölpreises und auf ein sogenanntes „Finanzierungsgesetz“ –ein Euphemismus für Steuererhöhungen, die indirekt Menschen im Niedriglohnsektor belasten und Steuersenkungen, die Großunternehmen zu Gute kommen werden. Sogar unter den Abgeordneten, die im Kongress hinter Duque und seiner Partei Demokratisches Zentrum (CD) stehen, wächst nun Unmut. „Wir haben Sorge, dass die Unterstützung für die unteren Bevölkerungsschichten gekürzt werden“, sagt Efraín Cepeda, Senator der Konservativen Partei gegenüber der Zeitung El Portafolio. Gemeint sind damit finanzielle Vergünsti­gungen bei öffentlichen Dienstleistungen wie zum Beispiel Strom für die Bevölkerung der untersten Einkommensklassen.

Die Regierung zeigt keinen politischen Willen zur Transparenz

Vor fast zwei Jahren wurde das Abkommen mit der FARC unterzeichnet und nun ist unklar, wie die Vereinbarungen 2019 umgesetzt werden sollen. Umgerechnet 37 Milliarden Euro werden für die im Vertrag vorgesehenen Programme in den nächsten 15 Jahren benötigt. Die Zuweisung der Gelder an die für die Umsetzung des Friedensprozesses zuständigen Institutionen ist jedoch teils undurchsichtig.

Eine andere Hürde für die Umsetzung des Friedensvertrages ist der kontinuierliche Anstieg der Kokaplantagen. So war der Kampf gegen den Drogenhandel ein großes Thema während des ersten Staatsbesuchs Iván Duques in den USA. Laut dem World Drug Report der UN, der im Juli vorgestellt wurde, sind die USA der größte Kokain-Markt der Welt und Kolumbien mit 170.000 Hektar Koka-Anbauflächen Spitzenreiter der weltweiten Kokain-Produktion. Ein im Juni veröffentlichter Bericht der US-amerikanischen Anti-Drogen Behörde geht sogar von einem Anstieg von elf Prozent im Jahr 2017 aus. Trump hatte Anfang des Jahres mit einem Finanzierungsstopp von Programmen in Kolumbien gedroht, sollte das Land die Fläche der Koka-Anpflanzungen nicht drastisch reduzieren.

Zwar sind Programme für den freiwilligen Ersatz illegaler Kokabepflanzungen im Friedensabkommen mit der FARC geplant (siehe LN 522), jedoch geht deren Umsetzung nur schleppend voran. In manchen Regionen wurden finanzielle Hilfen nicht geleistet. Nur 17 Prozent der Koka anbauenden Gemeinden bekommen infrastrukturelle Verbesserungen und nur in 22 Prozent der Gemeinden laufen die versprochenen Prozesse zur Legalisierung von Landeigentum. „Die Nichteinhaltung der Vereinbarungen haben nicht nur Folgen für die Glaubwürdigkeit der staatlichen Institutionen, sondern bergen auch das Risiko der Wiederbepflanzung und eines möglichen Anstieges der Kokaplantagen“, schrieb die Stiftung Ideen für den Frieden (FIP) in einem im Mai dieses Jahres veröffentlichten Bericht.

Präsident Duque hat sich vorgenommen, die Kokaplantagen um 70 Prozent zu reduzieren und die Drogenkartelle zu zerschlagen, wie ist aber weiterhin unklar. In seiner Rede vor der UN-Generalversammlung bekräftigte Duque, dass der Kampf gegen den Drogenhandel und die Förderung einer Gesellschaft, die sich gegen Drogen positioniert, die „moralische Aufgaben“ seiner Regierung seien. Aber um welchen Preis? Um dem Drogenkonsum entgegen zu wirken, unterzeichnete er am 1. Oktober ein Dekret, das die erlaubte Dosis von einem Gramm Kokain und fünf Gramm Marihuana verbietet und somit den Konsum kriminalisiert. Und obwohl 2014 das Verfassungsgericht die Vernichtung der Kokaplantagen aus der Luft durch die Besprühung mit Glyphosat verbot, will der Präsident diese Option wieder ins Gespräch bringen. Diesmal nicht mit Flugzeugen, sondern mit Drohnen, um so angeblich die Kollateralschäden des Gifteinsatzes zu reduzieren.

Die Diskussionen über die Budgets für die im Friedensvertrag beschlossenen Programme zeigen, wie schwierig es sein wird, diese durchzusetzen. Die Regierung zeigt ihrerseits keinen politischen Willen, Transparenz in diesem komplizierten Prozess zu gewährleisten, der Kolumbien bevorsteht. Es zeichnet sich eine Politik ab, die in wirtschaftlichen, juristischen und Sicherheitsfragen dem Frieden entgegenzuwirken scheint.

SCHWEIGEN IM CHOCÓ

Paramilitär? Armeesoldat? Wer unter der Uniform steckt, ist oft unklar (Foto: Jonas Ruhs)

Auf der Fahrt in den Chocó, dorthin, wo Krieg herrscht, während die Medien vom Frieden reden. Hier, wo einst die FARC waren, locken illegale Minen und die strategische Lage für den Drogenschmuggel bewaffnete Gruppen an. Holz und Gold rufen internationale Unternehmen auf den Plan. Staatliche Institutionen sind kein Garant für die Sicherheit der Bevölkerung. Vor Ort haben die Bewaffneten ihre Augen und Ohren überall. Für meine Reise gibt es eine Bedingung: Keine Fragen zum Konflikt stellen. Nichts, was nur annähernd auf ein Interesse an den Machtkonstellationen vor Ort schließen lässt.

Es ist Nacht, der Bus fährt Richtung Quibdó, Hauptstadt des Chocó, als die Straßen schlechter werden. Kein Asphalt mehr, stattdessen schlammige Erde, dazu ein Slalom durch große Steinbrocken, die von den Hängen abgebrochen sind. Dann taucht auf der linken Straßenseite ein Baustellenschild auf, auf dem groß „ELN“ geschrieben steht. Eintritt in den Machtbereich der Guerilla.

Die Einschüchterung des freien Denkens, des Hinterfragens, des Politischen.

Wer die einst sozialistische ELN heute ist und was sie will, ist von außen schwer zu sagen, inwieweit aus „der Finanzierung für den bewaffneten Kampf“ zunehmend der „bewaffnete Kampf für die eigene Finanzierung“ wurde. Die ELN lebt von Entführungen, Erpressung, aber wohl auch von Drogenhandel. Wo die ELN ist, hat sie das Sagen. Klaut jemand oder geht seiner Frau fremd, klopft am nächsten Tag schonmal ein „Eleno“ an die Tür und spricht die letzte Warnung aus. Wer sich in irgendeiner Art und Weise verdächtig macht, sich gegen die Guerilla zu stellen, der oder die schwebt in Lebensgefahr. Die soziale Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens durch die Angst vor der Waffe ist das Ziel jeglicher bewaffneter Gruppen in Kolumbien. Dadurch wird das Machtmonopol auf kleiner Ebene gesichert.

Der Bus quält sich weiter durch die Nacht. Im Morgengrauen wird sichtbar, wie viele Indigene sich in der Nähe der Landstraße angesiedelt­*­haben.­­ Es sind Embera, die eigentlich weiter im Landesinneren leben und vertrieben wurden. Erst im Oktober 2017 hatte die ELN einen indigenen Anführer umgebracht.

Der Chocó ist eine multiethnische Region, die hauptsächlich von Afrokolumbianer*innen und Indigenen geprägt ist, wobei die Afrokolumbianer*innen in der großen Mehrzahl sind. Überhaupt ließe sich auch abseits des Kriegs viel über den Chocó erzählen. Zum Beispiel dass Indigene und Afrokolumbianer*innen stets friedlich koexistiert haben – und doch weitestgehend separat. Dass die Region eine einzigartige Natur hat: Der Chocó ist von dichtem Regenwald geprägt und es gibt kaum Straßen.

“Wenn du unseren Schutz nicht haben willst, ist das deine Entscheidung.”

Drei große Flüsse, der Rio Baudó, der Rio Atrato und der Rio San Juan, sind die Hauptverkehrsadern, an deren Rändern die Dörfer liegen. Das Departamento, das die Region mit der höchsten Niederschlagsrate weltweit ist, hat gerade einmal 440.000 Einwohner. Die Erde ist reich an Bodenschätzen, unter anderem Gold, begehrt ist auch das Holz des Regenwaldes. Seit den 80er-Jahren ist der Chocó in den Fokus der bewaffneten Gruppen gelangt. Unvergessen bleibt das Massaker von Bojayá, als sich 2002 die FARC eine Schlacht mit den Paramilitärs der AUC (Autodefensas Unidas de Colombia) lieferten und sich die Dorfbewohner*innen in die Kirche flüchteten, darunter viele Schwangere und Kinder. Dann verirrte sich eine Zylinderbombe der FARC und schlug durch das Dach im Altar der Kirche ein und zerriss die Körper von mehr als 100 Menschen. Ihnen ist ein eigener Bereich in einer Kapelle in Quibdó gewidmet. Eine Opferchronik führt Foto, Datum, Ort und Mörder der Opfer des Kriegs seit den 80ern bis 2013 auf.

Wohin führt der Weg im Chocó? Holzhäuser auf Stelzen in einem von Paramilitärs kontrollierten Dorf (Foto: Jonas Ruhs)

Viele Menschen ließen ihr Leben bei Massakern von Paramilitärs, Guerilla und Armee, dazu kommen die vielen Einzelermordungen. Vor allem diese hinterlassen ihre Spuren in den Köpfen der Menschen. Es geht darum, nicht der oder die nächste zu sein – und so mit der Familie so weit wie möglich in Frieden zu leben – mitten im Krieg. Das Mittel: Keine Fragen stellen, wegschauen, weiter eben. Denn der Kampf der bewaffneten Gruppen ist auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Einschüchterung des freien Denkens, des Hinterfragens, des Politischen.

Auch Johns* Mutter, in deren Haus ich unterkomme, sagt: „Rede hier mit niemandem.“ Das Credo einer Frau, die den Krieg in der eigenen Familie erlebt hat. Später erzählt John von einem Cousin, der von der ELN angeworben wurde und sich mit der Waffe in der Hand veränderte. So weit, dass er eine Todesliste erstellte, auf der auch Johns Vater stand, den der Cousin an einem abgelegenen Ort außerhalb des Dorfes umbringen wollte, weil dieser ihm ein Boot nicht geliehen hatte. Noch bevor der Cousin seine Pläne in die Tat umsetzen konnte, bemerkten andere Guerilleros die Pläne des außer Kontrolle geratenen Compañeros und erschossen ihn. Nicht selten geht der Riss des Konflikts durch einzelne Familien.

John fällt es schwer, darüber zu reden, und trotzdem sagt er, solle ich ihm jetzt alle Fragen stellen, bevor ich lieber schweige, denn wir bewegen uns in diesen Tagen im Gebiet der Paramilitärs. Wenn jemand mitbekommt, dass John in Begleitung eines Deutschen ist, der kritische Fragen stellt, könnte das heftige Konsequenzen für John haben. Und du weißt nie, wer mit wem redet.

John sagt, dass einst die FARC die unangefochtene Macht waren. Dann übernahmen die AUC, die Paramilitärs, die in der Folge zwar offiziell entwaffnet wurden, doch unter neuen Namen weiterhin Präsenz zeigten. Verschiedene Splittergruppen der AUC kämpften um die Vorherrschaft im Chocó, letztlich vereinigten sich die letzten rivalisierenden Gruppen zu den Autodefensas Gaitanistas de Colombia (AGC), die sich im Namen verwirrenderweise auf den linksliberalen Politiker Jorge Elicier Gaitan beziehen und seitdem die Vorherrschaft haben.

John erzählt, dass in all den Jahren der schlimmste Kommandant „alias Pinillo“ gewesen sei. Dieser habe ohne Vorwarnung getötet. Gefiel ihm ein Mädchen, musste dieses sich fügen oder wurde erschossen. Wusste man, dass Pinillo nur in der Nähe war, sei den Menschen der Schauer den Rücken hinuntergelaufen. Vor acht Jahren wurde Pinillo dann von eigenen Leuten umgebracht. Diese schnitten ihm Körperteil für Körperteil ab und streuten Salz und Zitronen in die Wunden. Ich frage John, ob er mir den Namen von Pinillo aufschreiben kann. Er zögert, nimmt den Stift erst nicht an, dann schreibt er. In seinen Augen die Angst vor einem Mann, der schon seit acht Jahren tot ist.

Unter ständiger Beobachtung Kindheit und Maschinengewähr (Foto: Jonas Ruhs)

Und von welcher Gruppe war Pinillo? John überlegt: von den FARC. Ein Freund korrigiert ihn: Nein, der war von den AUC (Autodefensas Unidas de Colombia), den Paramilitärs. „Die bewaffneten Gruppen sind alle gleich“, ruft Johns Mutter eine ihrer Konfliktweisheiten.

Dann lerne ich Gloria Luna Rivilla kennen, die keine Angst hat zu reden. Die Aktivistin hat gelockte graue Haare, Ohrringe mit rotem Edelstein und eine breite Brille. Sie war in der linken Studierendenbewegung aktiv, wurde für ihre Aktivitäten von mehreren Unis geworfen und arbeitete schließlich doch als Professorin für Geschichte. Sie erzählt, dass in Quibdó viele Busse nicht mehr fahren, da die Schutzgeldforderungen der bewaffneten Gruppen einfach zu hoch geworden seien. „Besonders Frauen sind von der Gewalt betroffen.“ In der gerade einmal 115.000 Einwohner zählenden Stadt gab es 2017 neun Feminizide.

Mit am Tisch sitzt ein junger Mann, der von einer weiteren Facette des lokalen Konflikts berichten kann. Eines Tages bat ihn das staatliche Militär nach einer Ausweiskontrolle, in einen Transporter zu steigen. Zwei Stunden außerhalb der Stadt wurde ihm eine Uniform in die Hand gedrückt, mit der Forderung, er habe nun zwei Jahre zu dienen. Zwangsrekrutierung von staatlichen Sicherheitskräften.

Dann fahre ich weiter, weg aus der Hauptstadt Quibdó. Auf der Strecke mehren sich die Militärposten und Polizeistationen. Am Eingang jedes größeren Dorfes stehen Sandsatzbunker, in denen sich die Soldaten verschanzen können. Immer wieder passieren wir Polizisten oder Soldaten mit Maschinengewehren. An den Häusern der Dörfer steht groß „AGC“ geschrieben, Reviermarkierungen, die Abkürzung der Gaitanistas, der paramilitärischen Gruppe. Diese wird von der Regierung „Clan del Golfo“ genannt, weil ihr der politische Charakter offiziell aberkannt und sie als reines Drogenkartell eingestuft wird. Nach der Entwaffnung des paramilitärischen Dachverbands AUC 2004 unter Ex-Präsident Alvaro Uribe, der selbst wegen seinen vielfältigen Beziehungen zu Paramilitärs in der Kritik steht, haben sich verschiedenste neue paramilitärische Gruppen mit dem alten Personal gebildet. Im Chocó waren es vor allem die Aguilas Negras und die Rastrojos, die sich Auseinandersetzungen lieferten.

Quelle des Lebens Zwei Kinder wenden ihr Boot (Foto: Jonas Ruhs)

Daniel, der immer wieder in verschiedensten Dörfern gearbeitet hat, erzählt, dass er 2011 ein Jahr nicht mehr in die Dörfer konnte, weil die Kämpfe zu brutal geworden waren. Jeder Mensch, der ein Handy besaß, lief Gefahr, als Informant der anderen Gruppe denunziert und umgebracht zu werden. Später schlossen sich die Gruppen den Gaitanistas an; diese haben ihre Uniformen, Waffen und Schlafplätze in ihren Camps, irgendwo im Dschungel. Sie sind unsichtbarer geworden, es gibt ein politisches Interesse, nicht allzu viel Präsenz zu zeigen. Und doch wissen alle, dass sie da sind.

Auch die Soldaten der kolumbianischen Armee, die ich treffe. Ungefragt plaudert einer: „Wir sind hier im absoluten Kriegsgebiet. Mehrere meiner Kameraden sind ermordet worden, von der Guerilla, das sind die schlimmsten. Mit den Gaitanistas kann man zusammenarbeiten, die lassen die Zivilbevölkerung weitestgehend in Ruhe.“

In den Machtzentren des Landes, wo Medien und Politik sitzen, wird derweil ein Konflikt zwischen AGC und Armee inszeniert. Immer wieder machen die Meldungen von der Ergreifung von Clanchefs die Runde. Nun erklärte die AGC offiziell ihre Bereitschaft, in Friedensverhandlungen zu treten.

Im Chocó kommen Zweifel an dieser Version auf. Die parallele Präsenz von Militär und AGC in den Dörfern ist auffällig. Könnte es sein, dass sich eine Tradition des kolumbianischen Konflikts fortsetzt, dass der Staat die Paramilitärs im Kampf gegen die Guerilla vorschickt und dann, wenn die „Drecksarbeit“ gemacht ist, nachrückt und die Paramilitärs dafür im Anschluss weitestgehend unbehelligt ihren Geschäften nachgehen lässt? Es ist noch schlimmer: „Wenn die Gaitanistas hier jemanden aus dem Dorf holen wollen, dann tun sie das, da kann die Armee nichts gegen machen“, sagt Valentina*, die hier wohnt. Valentinas Vater ist politisch aktiv in der Region, schon mehrfach wurde er von paramilitärischen Gruppen entführt. Valentina ist erstaunlich ruhig, wenn sie vom Krieg erzählt. Trotzdem wird ihre Stimme etwas leiser, als sie beschreibt, wie vor wenigen Monaten die AGC in die Gebiete der ELN vorrückten, es zu Gefechten kam, bei denen die AGC schwere Verluste erlitten und sich wieder in ihre Gebiete zurückzogen.

Am Wasser gebaut Am Tag werden Bananen, abends Drogen verschifft (Foto: Jonas Ruhs)

Selbst wer wegschauen möchte, den holt der Konflikt im Alltag immer wieder ein. So tanze ich am Abend in einer Dorfdisco mit einer Freundin, die daraufhin von einem anderen Mann zum Tanzen aufgefordert wird. Der Mann ist ein Paramilitär. Die bewaffneten Akteure sind Teil des Dorfes: „Menschen, die zum Beispiel keine ande

re Wahl hatten zum Beispiel unter Geldnot litten, als sie sich einer Gruppe anschlossen“, hatte Daniel erklärt. Oft stellen sich Dorfgemeinschaften gegenüber dem Staat sogar schützend vor die Kämpfer.

Man arrangiert sich, soweit es die Angst und der Schmerz zulassen. So entsteht ein Geflecht aus internalisierten Regeln, die einem ein möglichst ruhiges Überleben sichern. Schwierig wird es, wenn Menschen von außerhalb kommen, die diese Regeln nicht kennen. Als ich ein Foto eines Mannes machte, der mir beim Ausladen des Jeeps half, wurde er nervös und drängte, das Foto sofort zu löschen. Später erfahre ich, dass er ein mit Haftbefehl belegter Paramilitär ist. Die Alltäglichkeit des Kriegs begegnet uns auch an einem anderen Abend: Über die meiste Zeit begleitete uns eine Gruppe Soldaten, deren Leutnant mich eines Abends bittet, mich in einem Video bei der Armee zu bedanken. Ich will das nicht. „Wenn du unseren Schutz nicht haben willst, ist das deine Entscheidung“, entgegnet der Leutnant. Ab jenem Moment sehe ich die Soldaten nicht wieder. Staatlicher Schutz nur mit Gegenleistung.

Stattdessen sehe ich am nächsten Morgen schon von weitem, wie mir zwei bewaffnete Männer entgegenkommen – ohne Uniform. Meine Knie werden weicher, ich schaue gerade aus und gehe an ihnen vorbei. Ich erzähle John davon, er wird nervös, sagt, das müssten dann die Gaitanistas gewesen sein. Valentina, die die Männer ebenfalls gesehen hatte, beruhigt uns am Abend: Das waren bloß Marinesoldaten, die sich ihre Uniform noch nicht angelegt hatten.

Während die Waffe mich in diesem Moment nur erschreckt, hat sie Cristians Familie zerstört. Ich lerne Cristian* kennen, als er mir erzählt, dass er zwölf Jahre alt ist und gerne Schnaps trinkt. Schnaps und Frauen, davon redet er gerne. Doch als wir auf einem Holzsteg sitzen und die Beine hinunterbaumeln lassen, erzählt er, dass er vor drei Jahren aus seinem Dorf fliehen musste. Die ELN hatte seinen Vater zerstückelt – vor seinen Augen. Bis heute hat er Alpträume. Er macht nun Gelegenheitsarbeiten, wohnt bei einem Onkel, schlägt sich durch. Menschen mit Geschichten wie Cristian – und ich schäme mich in diesem Moment für diesen Gedanken – sind gefundenes Fressen für die Agitatoren der Paramilitärs, die oft junge Menschen rekrutieren, die sie früh prägen können.

Davon erzählt Esildo Pacheco, 65 Jahre alt, graue Augenbrauen, grauer Oberlippenbart, ein Hemd in verschiedensten Rottönen, dazu seine hervorstehenden großen Augen. Wir sitzen an einem Restauranttisch, von dem er die Eingangstür beobachten kann. Pacheco hat viele Regionen gesehen und viel Geld verdient in den verschie­densten Firmen. Doch das Prägendste seiner Biographie ist sein politischer Kampf – innerhalb eines bewaffneten Konflikts, aber stets ohne Waffen. Pacheco war Teil der afro­kolumbia­nischen Bewegung, die mühsam die Anerkennung der Afrokolumbianer*innen und deren Rechte in der Verfassung von 1991 erkämpfte. Später besuchte er als Berater der afrokolumbianischen Gemeinden in Kolumbien alle Afro-Dörfer des Landes.

Ohne Angst, mit Schutzengel Esildo Pacheco in Quibdó (Foto:Jonas Ruhs)

Im Baudó hat er sich immer eingemischt. Als Teil einer Bürger*innenbewegung wurde er 1997 mit 71 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister gewählt. Die paramilitärischen Gruppen ließen sich das nicht gefallen, die Morddrohungen an Pacheco nahmen zu.

Eines Tages saß er in der Kirche in Quibdó, als er erfuhr, dass die Auftragskiller schon auf dem Weg zu ihm waren. Er floh in die Schweiz. Zeit, um durchzuatmen. Pacheco hat mehrere Male eine Pistole an den Kopf gehalten bekommen, einmal sogar in den Mund. Sowohl Chefs der Paramilitärs als auch der Guerilla sagte er bereits „Dann erschieß mich doch“, und jeweils taten sie es nicht, aus Respekt vor dem Mann, den scheinbar ein Schutzengel begleitete. 1986 wurde er für 15 Tage von der Guerilla entführt, dann wieder freigelassen. Pacheco kennt die Männer, die in den vergangenen Jahrzehnten das Sagen in der Region hatten, und er hat sie alle überlebt. Er hört nicht auf, sich einzumischen. Nutzt seine Kontakte nach Bogotá, ist aktiv als Teil der Kommunalvertretung der Region Baudó. Auch heute. Er poltert gegen die ausländischen Investitionen und den Ausverkauf des Chocó. Gegen die Abholzung und den Bergbau, der die Flüsse verseucht. Und obwohl der Chocó riesige Süßwasserreserven hat, herrscht Wassermangel. Selbst in der Hauptstadt Quibdó sammeln die Menschen in den Häusern das Regenwasser, weil das öffentlich bereit gestellte Wasser nur schleppend in Tonnen vorbeigebracht wird.

Esildo Pacheco reist bis heute die Dörfer des Baudó hinauf und hinunter. Mittlerweile wollen sowohl Paramilitärs als auch ELN, dass er sich nochmal zum Bürgermeister aufstellen lässt. Sie hoffen auf mehr Investitionen in der Region durch die guten Kontakte Pachecos. So können die Gruppen mehr Schutzgeld erpressen. Und trotzdem gehen auch die Bedrohungen weiter. „Die kommen wöchentlich“ , sagt Pacheco. „Aber wenn du Angst davor hast, stirbst du innerlich“.

*Name geändert

FRAGWÜRDIGE ÜBERGANGSJUSTIZ

Die Vorfreude auf die Realisierung des Friedensprozesses zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) schwindet. Einen Monat vor dem Fristablauf zur Entwaffnung der 6.900 Guerillerxs am 1. Juni hagelt es Kritik an der vom Kongress beschlossenen Übergangsjustiz. Zu viele Änderungen wurden während der Diskussionen im Senat und Repräsentant*innenhaus vorgenommen; dazu verstärken die bereits bekannten, strittigen Begnadigungsanträge von ehemaligen Staatsbediensteten den Verdacht, dass die Sonderjustiz wegen der verhältnismäßig milden Strafen von fünf bis acht Jahren bei tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden könnte.

Die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) ist der juristische Bestandteil des Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung (SIVJRNR), das im fünften Punkt des Friedensabkommens zwischen der Regierung und den FARC vereinbart wurde. Das System koppelt an das im Dezember 2016 erlassene Amnestiegesetz an und ist die tragende Säule des Friedensprozesses. Es besteht aus juristischen Maßnahmen – ein Sondertribunal für den Frieden wird zur Zeit gegründet – sowie nicht-juristischen Instanzen, die zur Aufklärung der direkten und indirekten Verantwortung bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen und zur Wiedergutmachung für die Betroffenen beitragen sollen. Einen Schritt in Richtung Aufklärung machte die Regierung am 6. April, als Präsident Juan Manuel Santos die Wahrheitskommission und die Sondereinheit für die Suche nach den Verschwundenen, auch Bestandteile der SIVJRNR, per Dekret ins Leben rief. 25.000 Menschen werden nach Angaben des Nationalen Zentrums für Historische Erinnerung seit 1985 immer noch vermisst.

Teil der Maßnahmen für die Wiedergutmachung ist aber auch die Rückkehr der 7 Millionen Inlandsvertriebenen in ihre Heimatregionen. Trotz der im ersten Punkt des Friedensabkommens geplanten integralen Agrarreform, welche die Rückgabe von Land ermöglichen soll, bleibt noch unklar, wie sich das mit der kolumbianischen Verfassung und dem Wirtschaftsmodell der Lizenzvergabe von Megaprojekten mit der Wiedergutmachung für Vertriebene vereinbaren lässt. In dem Gesetzesentwurf des SIVJRNR wird dies nicht erwähnt.
Möglicherweise bleibt jedoch mit den 72 Änderungen des mit der Opposition vereinbarten Abkommens, das die Regierung und die FARC am 23. November unterzeichneten, der Weg zur weiteren Aufklärung versperrt. Die Zivilgesellschaft, die nach der ersten Unterzeichnung des Abkommens die JEP begrüßte (LN 510), kritisiert die nun vorgenommenen Änderungen an der Sonderjustiz.

Die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH), das Anwaltskollektiv CAJAR und das Komitee für die Verteidigung der Menschenrechte (CPDH) äußerten sich in einem gemeinsamen Kommuniqué empört darüber, dass die Möglichkeit gestrichen wurde, Zivilist*innen, die paramilitärische Gruppen direkt oder indirekt finanziert haben, zu verurteilen und zu bestrafen. Die JEP wird gegen diese Personen nur vorgehen können, wenn eine klare Verbindung zu einem Verbrechen gegen die Menschheit bewiesen wird. Ob sich das beispielsweise bei den 1.166 Massakern zurückverfolgen lässt, die von paramilitärischen Gruppierungen verübt wurden, ist mehr als fragwürdig. „Das wiederkehrende und alarmierende Phänomen, dass Unternehmen in umkämpften Gebieten die bewaffneten Gruppen unterstützt haben, obwohl sie über die schrecklichen Verbrechen Bescheid wussten, wird somit geleugnet“, äußerten sich die Organisationen in ihrem Schreiben. Gleichermaßen halten sie die festgelegten Einschränkungen hinsichtlich der Kommandoverantwortung bei den von Soldat*innen begangenen Menschenrechtsverletzungen für besorgniserregend. Laut der Pressemitteilung der Organisationen verstoße das nun ratifizierte Vorhaben gegen die Rechte der Opfer und das Römische Recht, wonach gegen hochrangige Generäl*innen juristisch ermittelt werden kann, wenn ihnen untergeordnete Soldat*innen Verbrechen begangen haben. Dafür ist es nicht nötig zu beweisen, „dass das Verbrechen im Zuständigkeitsbereich des Befehlshabers lag oder ob dieser fähig war, Operationen in den Gebieten vorzubereiten und durchzuführen, wo die Straftaten verübt worden sind“, erklärte die Staatsanwältin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Fatou Bensouda, in einem Artikel zu diesem Thema für die Zeitschrift Semana. Dem stimmen die oben genannten Organisationen zu. Sie sehen in diesem Gesetzesvorhaben „ein deutliches Hindernis für den wirklichen Erfolg von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung in Kolumbien“.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen. Viele davon machen die Schwierigkeiten deutlich, vor denen die Richter*innen der JEP stehen. Der jüngste Fall ist derjenige des Hackers Andres Sepúlveda, der 2014 als Berater des Präsidentschaftskandidaten des Uribismus, Oscar Iván Zuluaga, fungierte. Mitten im Wahlkampf spähte Sepúlveda die Friedensverhandlungen zwischen den FARC und der Regierung aus. Noch 2014 wurde Sepúlveda zu 10 Jahren Haft verurteilt, nun will er seinen Fall im JEP eröffnen lassen. Sein Argument: Ziel der Ausspähung sei es gewesen, eine Politik zur Fortsetzung des bewaffneten Konflikts zu etablieren, den Friedensprozess mit den FARC zu torpedieren und mit illegalen Mitteln zu verhindern, dass Präsident Santos an der Macht bleibe. So lautete die Formulierung in einer Pressemitteilung des Anwalts von Sepúlveda.

Opferorganisationen sind jedoch vor allem von der Aufnahme der Fälle der Generäle Jaime Humberto Uscátegui Ramírez und Jesús Armando Arias in die Sondergerichtsbarkeit alarmiert. Uscátegui wurde 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 37 Jahren verurteilt, weil er die von der paramilitärischen AUC verübten Massaker in Mapiripán nicht verhinderte: 120 Paramilitärs stürmten 1997 das kleine Dorf im Verwaltungsbezirk Meta. Sie folterten, zerstückelten und enthaupteten mindestens 49 Menschen. Dagegen gelang es Armando Arias den von der Guerilla M-19 besetzten Justizpalast militärisch zurückzugewinnen, wobei 98 Menschen starben. Dafür wurden 2012 sowohl die M-19 als auch die Armee vom Verfassungsgericht Kolumbiens für schuldig erklärt und Arias zu 35 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Doch mit der Aufnahme dieser Fälle in die JEP könnten beide Generäle in den nächsten Wochen freigelassen werden, zumindest bis der Prozess in dem Sondertribunal für den Frieden anfängt.

Das sind nur einige der Fälle, welche Nachrichtenanalyst*innen und Menschenrechtsorganisationen die Stirn runzeln lassen. Die Empörung der Menschenrechtsorganisationen über das, was die ratifizierte Übergangsjustiz bewirkt hat, wuchs umso mehr, als ein Richter in Bogotá die Anhörung von zwölf Armeeangehörigen Ende März aussetzen wollte; gegen die Soldaten wurde wegen der willkürlichen Hinrichtung von jungen Männern, den sogenannten Soacha-Fällen, ermittelt.

Im Jahr 2008 verschwanden Dutzende junger Männer aus den ärmeren Bezirken Bogotás, sie wurden von Soldat*innen der Armee mit dem Versprechen auf Arbeit rekrutiert, 600 Kilometer von der Stadt entfernt ermordet und als militärische Erfolge im Kampf gegen die Guerillas präsentiert. Der Richter in Bogotá behauptete nun, dass er infolge der Ratifizierung der JEP nicht befugt sei, die Anklage fortzusetzen, weil dieser Fall nicht mehr in seinem Zuständigkeitsbereich liege. Doch am 4. April kippte die vorsitzende Richterin des Verwaltungsbezirks Cundinamarca diese Entscheidung wieder und verurteilte 21 weitere Angeklagte, darunter den Oberst Gabriel de Jesús Rincón, zu 46 Jahren Haft für den Mord an zwei Männern und fünf Jungen. „Die Opfer sind nicht im Kampf gefallen“, erklärte die Richterin, „die Militärs haben sich in einer kriminellen Bande organisiert“. Da die Motivation der Militärs von einem höheren Leistungslohn abhinge, müssten sie von der ordentlichen Justiz und nicht von der JEP aufgebarbeitet werden.

Diese Meinung teilen die Mütter von Soacha, die nach zehn Jahren des Wartens endlich wissen, was mit ihren Söhnen geschehen ist. „Zu erlauben, dass dieser Fall in das Sondergericht für den Frieden aufgenommen wird, wäre ein Geschenk an die Mörder meines Sohnes“, sagte Idaly Garcerá, Mutter von Diego Tamayo, einem der Ermordeten.

Der Gerichtsprozess ist jedoch längst nicht abgeschlossen. Offen bleibt, ob der Oberst und seine Männer den Fall vor das Sondergericht bringen werden. Trotz lautstarker Kritik von Menschenrechtsorganisationen, versicherte der Exekutivsekretär der JEP, Néstor Raúl Correa, dass diese Fälle durchaus vom Sondergericht aufgenommen werden könnten. Er berief sich dabei auf das Urteil des Verfassungsgerichts, das die Verbindung zwischen dem bewaffneten Konflikt und den willkürlichen Hinrichtungen feststellt. Das Gesetz für Frieden und Gerechtigkeit „ist kein Jahrmarkt, auf dem es Preise zu gewinnen gibt, und auch kein Basar, auf dem Freiheitsgeschenke verteilt werden, sondern es ist eine Struktur, die Rechte und Pflichten generiert“, unterstrich Correa.

Am 17. April wurden die ersten zwei Fälle von Militärs offiziell von der JEP angenommen; Elvin Andrés Caro und Luis Emiro Sierra Padilla, die 2010 in Medellín zu 30 Jahren Haft wegen des Mordes am Schüler Samir Enrique Díaz Galet verurteilt, kamen dadurch aus dem Gefängnis frei. „Mit der Abgabe der Fälle an eine noch nicht funktionierende Jurisdiktion setzen die Autoritäten die Anklagen auf unbestimmte Zeit aus“, kritisierten 33 nationale und internationale Organisationen, darunter Human Rights Watch, in einer Pressemitteilung. Doch welche Verbrechen haben mit dem Konflikt zu tun und welche nicht?

„Die noch nicht freigelassenen Guerillerxs sind verzweifelt und sehen große Widersprüchlichkeiten im Amnestiegesetz“, sagt Pastor Alape, eine der bekanntesten Figuren der Guerilla im Interview mit der Zeitung El Tiempo. „Es wurde eine Anzahl an Freilassungen vereinbart, die zur Zeit nicht erfüllt wird“, erklärte er. Nur 54 der 2.800 inhaftierten Guerillerxs, die vom Amnestiegesetz vom vergangenen Dezember profitieren sollten, weil sie keine Menschenrechtsverletzungen, sondern Verbrechen wie Rebellion, Volksverhetzung oder Diebstahl begangen haben, wurden bis jetzt aus dem Gefängnis entlassen. Einer der Freigelassenen, Luis Alberto Ortiz Cabezas, wurde allerdings am 17. April in Tumaco, Nariño, vom Narco-Paramilitär „Benol“ ermordet. „Solche Ereignisse untergraben das Vertrauen in die Sicherheitsgarantien für die begnadigten Guerilleros“, betonten die FARC in einer Stellungnahme. Es sei nicht hinzunehmen, dass inmitten des Friedensprozesses dessen Hauptfiguren vor den Augen der Weltgemeinschaft ermordet würden, ohne dass darauf reagiert werde. Und die Ex-Guerillerxs machten deutlich: „Hinsichtlich unserer strikten Einhaltung des Vereinbarten, verlangen wir von der Regierung, es ebenfalls zu tun.“

BLICK IN DEN SPIEGEL

Zumindest der juristische Weg in den weiteren Friedensprozess zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) scheint gesichert. Mit der Zustimmung des Verfassungsgerichts kann nun der Kongress durch das Fast-Track Verfahren das Friedensabkommen umsetzen. Dabei handelt es sich um eine Ausnahmegenehmigung, welche die nötigen juristischen Reformen beschleunigt und dadurch die Anerkennung des Friedensabkommens als Gesamtwerk ermöglicht.

Da im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen anstehen, ist die schnelle Umsetzung des Abkommens, insbesondere für die FARC, entscheidend.  Statt zwei Jahre wird der legislative Prozess nur etwa sechs Monate in Anspruch nehmen. Gleichzeitig garantiert dies, dass zukünftige Präsidenten den Inhalt des Friedensabkommens entsprechend der aktuellen Formulierungen umsetzen müssen. Bestimmte Gesetze wie etwa das Amnestiegesetz, das nun bereits Ende Dezember vom Parlament verabschiedet wurde, sind für den weiteren Verlauf des Prozesses von entscheidender Bedeutung – denn sie legen die Grundlage für die (Re-)Integration der Kämpfer*innen in die Gesellschaft.

In der Mehrheit der Übergangszonen sind noch keine Unterkünfte vorhanden.

Entsprechend dem 180-Tage-Plan, der als Teil des Abkommens im November verabschiedet wurde, müssten sich die Ex-Guerrillerxs seit Mitte Dezember in den sogenannten Übergangszonen befinden. In diesen Sondergebieten sollen die Kämpfer*innen entwaffnet und resozialisiert werden, um im Anschluss in die Gesellschaft (re-)integriert werden zu können. Allerdings verzögerte sich die Errichtung der Sammelzentren von Beginn an: In der Mehrheit der 23 Übergangszonen sind immer noch keine Unterkünfte und Zugangswege vorhanden. Daher befinden sich die meisten FARC-Kämpfer*innen nach wie vor in den temporalen Lagern, in denen sie nach dem verlorenen Referendum gesammelt wurden.

Solange die Guerrillerxs nicht in den endgültigen Übergangszonen sind, befinden sie sich jedoch noch in einer gesetzlichen Grauzone. Es ist beispielsweise unklar, wer für die Ernährung und gesundheitliche Versorgung der Ex-Kämpfer*innen zuständig ist. Julián Suárez, Cousin des 2010 getöteten FARC-Anführers Luis Suárez alias „Mono Jojoy“, beschreibt im Interview mit der Tageszeitung El Espectador seine Sorgen: „Als wir noch im Krieg waren, gab man uns Schuhe, Kleidung, Essen; es gab einen Arzt oder zumindest Krankenpfleger. Aber wenn jemand hier in der Zone krank wird, muss derjenige zum Camp des Prüf- und Auswertungsmechanismus (MMV) – aber offenbar ist dort niemand auf solche Fälle vorbereitet.“ Er erklärte zudem, dass ihnen nur wenige, teilweise bereits verdorbene Lebensmittel zur Verfügung ständen.

Da viele der ehemaligen FARC-Kämpfer*innen keine gültigen Ausweise besitzen, ist ihnen der Zugang zum normalen Gesundheitssystem verwehrt. Die unklare Situation sorgt bei vielen Guerrillerxs für Frustration. Dazu kommt die schwelende Angst, der Massenmord an der Union Patriótica (UP) Ende der 1980er Jahre könne sich wiederholen. Mindestens 5000 Mitglieder der Partei, die als eine Art politischer Arm der FARC gegründet worden war, wurden damals  innerhalb weniger Jahre ermordet – darunter zwei Präsidentschaftskandidaten.

Diese Angst wird verstärkt durch die enorme Zunahme der Gewalt gegen Menschenrechts- und Friedensaktivist*innen (siehe Kasten). Allein die linke Basisorganisation Marcha Patriótica beklagt die Ermordung von mindestens 127 ihrer Mitglieder im vergangenen Jahr. Dazu kommt, dass viele FARC-Kämpfer*innen durchaus von dem lukrativen Drogenhandel profitieren und nicht bereit sind, diese Einnahmen für eine ungewisse Zukunft aufzugeben.

So haben sich in den vergangenen Monaten einige FARC-Kommandos aus den Reihen der Guerilla gelöst. Anfang Januar kam es zu ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen desertierenden Gruppen und den FARC: In der Region Caquetá lieferten sich Dissident*innen der 14. Front und Kämpfer*innen des Kommandos „Teófilo Forero“ blutige Kämpfe, bei denen mindestens zwei Menschen getötet wurden. Die Auseinandersetzung fand nahe der Stadt San Vicente del Caguán statt – dem Austragungsort der gescheiterten Friedensverhandlungen zwischen der Regierung von Andrés Pastrana und der damaligen FARC-Führung. Der Ort hat somit einen besonderen symbolischen Wert für die Moral der Kämpfer*innen.

Bereits kurz nach den Kämpfen erklärte das kolumbianische Militär in einer offiziellen Verlautbarung die Vorfälle für nicht tolerierbar: „Wenn die FARC ihre Waffen benutzen – und sei es gegen ihre eigenen Dissident*innen – brechen sie damit den Waffenstillstand. Es ist die Pflicht des Militärs, solche Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen“. Die FARC hingegen erläuterten, dass es sich bei diesen Akten um eine „zielgerichtete Sabotage des Friedensprozesses“ handele: Die desertierenden Gruppen würden Bauern und Bäuerinnen mit Gewalt zwingen, den Frieden mit allen Mitteln zu boykottieren.

Menschenrechtsaktivist*innen fürchten, dass es – ähnlich wie nach dem Friedensprozess mit den paramilitärischen Gruppen Anfang der 2000er Jahre – zu einer Aufspaltung in bewaffnete Gruppierungen kommen könne, die nicht zu kontrollieren und nicht an einem Frieden interessiert seien.

Der Friedensprozess steht auf wackligen Füßen.

Weitere Angriffe dissidierter FARC-Kämpfer*innen scheinen ihnen Recht zu geben: So sollen Guerrillerxs die Bürgermeisterin der Siedlung La Paz, wo sich eine der Übergangszonen befindet, massiv mit Waffen bedroht haben.Auch für die Ermordung der Aktivistin Emilsen Mayoma und ihres Ehemanns am 17. Januar war laut Aussagen der FARC-Führung ein Dissident verantwortlich. Dabei handele es sich um den Bruder Emilsens, der die Reihen der Guerrilla im Dezember 2016 schwer bewaffnet verlassen hatte und dafür von seiner Schwester stark kritisiert worden war.

Während der Friedensprozess mit den FARC in den vergangenen Monaten ins Laufen kam, verzögerten sich parallel die Verhandlungen mit der zweitgrößten Guerilla, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN). Die Vorgespräche waren ins Stocken geraten, nachdem die Guerilla im April Odín Sanchéz entführt hatte. Der Politiker hatte sich gegen seinen Bruder Patrocinio Sanchéz austauschen lassen, der sich drei Jahre in den Händen der ELN befand und während dieser Zeit schwer erkrankt war.

Nachdem die Guerilla sich zunächst monatelang mit Verweis auf Sanchéz’ paramilitärische Verbindungen und Korruptionsskandale weigerte, den Politiker freizulassen, scheint die Vorbereitungskommission nun eine Einigung erzielt zu haben. Beide Parteien verkündeten, dass Sanchéz am 2. Februar freigelassen werde. Gleichzeitig sollen die offiziellen Friedensverhandlungen in Quito am 7. Februar endgültig beginnen. Überschattet wird diese neue Phase des Friedensprozesses von einigen blutigen Attentaten, die die ELN in den vergangenen Monaten verübte. Zudem erhielt die Guerilla laut eigenen Aussagen ein stattliches Lösegeld für die Freilassung Sanchéz.

Der Friedensprozess steht demnach nach wie vor auf wackligen Füßen. Es wird sicherlich noch Jahre dauern, bis wirklich überall im Land Frieden herrscht – solange die paramilitärischen Strukturen nicht ausgelöscht und ein Friedensabkommen mit den restlichen Guerillas geschlossen wird, wird die Situation wahrscheinlich zunächst eher schlimmer als besser. Auch die wirtschaftliche Lage wird laut lokalen Beobachter*innen die nächsten Monate für soziale Unruhen sorgen. Allerdings bleibt die Hoffnung, dass nun der Weg frei ist für die Beschäftigung mit den realen Problemen der kolumbianischen Gesellschaft. So betonte auch Frank Pearl, Mitglied der Regierungsdelegation in den Friedensverhandlungen mit den FARC: „Der bewaffnete Konflikt mit den FARC hat jahrzehntelang als Ausrede gedient, um die Abwesenheit des Staates in weiten Teilen Kolumbiens zu verstecken. Das ist eine Realität, die nun mit dem Friedensabkommen geändert werden muss“, erklärte er bei einer Konferenz in Santiago de Chile. „Der interne bewaffnete Konflikt war eine Ausrede dafür, dass es keinen Staat, kein Gesundheitssystem, keine Bildung und keine Gerechtigkeit gab. Jetzt ist diese Ausrede weg und wir müssen endlich unser Spiegelbild betrachten.“ Bleibt zu hoffen, dass die Regierung bereit ist, sich mit diesem Spiegelbild auseinanderzusetzen.

ENDE DER GEWALT?

Das überarbeitete Friedensabkommen zwischen den revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC-EP) und der kolumbianischen Regierung ist in beiden Kammern des Kongresses ratifiziert worden. Seit dem 6. Dezember hat die Konzentration der Kämpfer*innen in den Demobilisierungszonen begonnen. Dieser Prozess wird jedoch von ersten Desertationen und Sorgen um die zukünftige Sicherheitslage im Land begleitet.

Meta

 Leben in Frieden? Der Verwaltungsbezirk  Meta im Südosten war Jahrzehnte lang eine Hochburg der FARC

Nach dem knappen Sieg des ‚Nein‘ in der Volksbefragung zum Friedensabkommen vom 2. Oktober, das Kolumbien und die Welt erschütterte, verhandelte die Regierung von Juan Manuel Santos mit der FARC-EP über Änderungen am ursprünglichen Friedensvertrag. Parallel dazu führte Santos auch Verhandlungen mit Vertretern des ‘Nein’-Lagers rund um Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez und die Partei Centro Democrático (CP), um deren Unterstützung für ein neues Friedensabkommen zu gewinnen. Den Unterhändlern von Regierung und FARC-EP gelang es, sich innerhalb von nur wenigen Wochen auf ein neues Abkommen zu einigen, das am 12. November in der kubanischen Hauptstadt verabschiedet und  am 24. November von Santos und dem Führer der FARC-EP Rodrigo Londoño Echeverria in Bogotá unterzeichnet wurde.
Die Änderungen waren eine Reaktion auf die Kritiker*innen des ursprünglichen Vertrages, die durch ihre polarisierende  Kampagne eine knappe Mehrheit der wählenden Bevölkerung von der Ablehnung des Friedensvertrages überzeugen konnten. Beinahe alle Punkte des 310-Seiten starken Vertrages wurden überarbeitet, wobei die wohl bedeutendste Änderung die rechtliche Implementierung des Abkommens betrifft. So werden im Gegensatz zum ursprünglichen Vertrag nur die Punkte in die Verfassung übernommen, die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht betreffen. Zwar soll ein Übergangsgesetz dafür sorgen, dass in zukünftigen Legislaturperioden keine Veränderungen am Friedensvertrag vorgenommen werden können, allerdings gilt dieses nur für drei präsidentielle Legislaturperioden.
Die Gegner*innen des Friedensvertrages haben ihren Widerstand allerdings nicht eingestellt. Ex-Präsident Uribe und das CP bezeichneten die Änderungen lediglich als kosmetisch und verweigerten ihre Unterstützung im Kongress. Sie forderten vielmehr einen erneunten Plebiszit, was allerdings von der Regierung angesichts der starken Polarisierung in der Gesellschaft abgelehnt wurde.
Zwar galt eine Zustimmung aufgrund der Mehrheit der Regierungspartei als wahrscheinlich, die fehlende Unterstützung seitens der Opposition wird die zukünftige Implementierung in Form von politisch bindenden Gesetzten allerdings erschweren. Entsprechend äußerte sich auch ein hochrangiger Berater der Regierung: „Die Situation ist äußerst kompliziert. Wenn das zweite Abkommen von Havanna über den Parlamentsweg bestätigt wird, muss es dennoch rechtlich im Kongress ausgearbeitet werden. Dies wird sehr viele Probleme generieren, da für die Implementierung dieser Gesetzte eine Verfassungsänderung mit entsprechender Mehrheit notwendig sein wird.“ Im Rahmen der rechtlichen Implementierung des Abkommens bleibt vor allem die Gefahr, dass in künftigen Legislaturperioden die dringend notwendigen politischen und sozialen Veränderungen verwässern.
Weiteres Konfliktpotential birgt die Verwicklung der FARC-EP in den  Drogenhandel und die mit dem Friedensabkommen verbundene Übergangsjustiz. Laut dem neuen Abkommen sind nur diejenigen Drogendelikte von einer Amnestie betroffen, die unmittelbar im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt stehen und zu dessen Finanzierung beitrugen. Strafbar dagegen sind alle Delikte, die der persönlichen Bereicherung dienten oder im Zusammenhang mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit standen.  Die rechtliche Aufarbeitung entlang dieser Definition wird gerade im Kontext des kolumbianischen Konflikts eine Mammutaufgabe werden. Sollte die Übergangsjustiz daran scheitern, geht mit der Amnestie bzw. der Aussicht auf verringerte Haftstrafen ein Hauptanreiz für die Demobilisierung der Kämpfer*innen verloren, die dann sogar der Auslieferung an die USA aufgrund von Drogendelikten entgegensehen.
Besonders die unteren und mittleren Kommandostrukturen der FARC-EP dürften davon betroffen sein. Hierbei handelt es sich um äußerst erfahrene Kämpfer*innen und Strateg*innen, die neben militärischen Kenntnissen auch über das Knowhow verfügen, um den Drogenhandel zu kontrollieren. Das Konfliktpotential, das von diesen Gruppen ausgeht, wurde bereits 2006 nach der Demobilisierung der Paramilitärs deutlich. Auch damals wurde den mittleren und unteren Kommandeur*innen der einzelnen Gruppen kaum ein Anreiz für die Integration in die zivile Gesellschaft gegeben, weswegen innerhalb kürzester Zeit neue Organisationen entstanden, die bis heute massiv zu den Gewaltdynamiken im Land beitragen.
„Es gibt bereits seit Jahren Kooperationen zwischen der FARC-EP und den neuen bewaffneten Gruppen was den Drogenhandel betrifft“, so Alberto Santos vom Centro Nacional de Memoria Histórica (CNMH), das sich mit der Aufarbeitung des Konflikts beschäftigt. „Eine Einheit der FARC-EP ist bereits desertiert und nimmt nicht mehr am Friedensprozess teil. […] Diese desertierten Einheiten sind isoliert und ohne Schutz und werden aller Wahrscheinlichkeit nach Unterschlupf in den bestehenden, stärkeren Strukturen suchen, zu denen auch die neuen bewaffneten Gruppen gehören. Diese finden unter den ehemaligen Guerillas potentielle Rekruten, auch wenn die Demobilisierung von Guerillagruppen in Kolumbien traditionell mit geringeren Problemen zu kämpfen hatte, als die der Paramilitärs.“
Der Friedensprozess wird also nur bedingt zu einer Reduzierung der Gewalt in Kolumbien beitragen können. „Ich glaube man hat in diesem Land noch nicht verstanden, dass dieser Konflikt ein politischer Konflikt ist und dass ein Friedensabkommen daher auch politische Auswirkungen haben wird“, so Lukas Rodríguez, der ebenfalls für das CNMH arbeitet. „Das neue Abkommen betrifft bestimmte Faktoren nicht, die eine hohe Relevanz für das gesamte Land haben und vor allem einen Konsens unter der Bevölkerung verlangen würden. […] Es steht außerdem die Frage im Raum, was mit dem Abkommen passiert, wenn [2018] ein neuer Präsident gewählt wird, ob das Abkommen so beibehalten und weiter umgesetzt wird.“
Die Befürchtungen, dass Kolumbien auch trotz des Endes des über 50 Jahre alten Konfliktes zwischen Regierung und FARC-EP auch weiterhin ein von Gewalt gezeichnetes Land sein wird, scheinen sich leider zu bestätigen. Der Friedensprozess wurde von einer Reihe von Morden an Aktivist*innen begleitet, die vor allem aus dem linken Spektrum stammen. Manche Quellen sprechen von über 50 Morden allein in diesem Jahr, unter ihnen zahlreiche Mitglieder des Marcha Patriótica (MP), einer linken politischen Bewegung. So wurde zum Beispiel der MP-Aktivist Jhon Jairo Rodríguez Torres am 10. November in der Region Cauca auf offener Straße erschossen. Allerdings ist unklar, wer für diese und zahlreiche andere Taten verantwortlich ist. Viele vermuten konservative Eliten und Reste der demobilisierten Paramilitärs hinter den Morden, die das gemeinsame Interesse am Erhalt des Status Quo verbindet. Allerdings verhindert die äußerst fragmentierte Präsenz des Staates und der große politische Einfluss der ökonomischen Eliten in ländlichen Gebieten die Aufarbeitung der allermeisten politischen Verbrechen und führt zu einer weitgehenden Straflosigkeit für die Täter*innen. Viele sehen in dieser Entwicklung eine Parallele zu den Massakern an den Mitgliedern der Union Patriótica, denen in den 80ern und 90ern zwischen 3000 und 5000 Menschen zum Opfer fielen.
Hier würde die Integration der ehemaligen FARC-EP Kampfer*innen in die staatlichen Strukturen großes Potential bieten. Einerseits haben diese Personen gerade in den ländlichen Gebieten, in denen der Staat nicht präsent ist, in den vergangenen Jahren quasi-staatliche Funktionen übernommen, verfügen über territoriale Kenntnisse und in manchen Fällen sogar über einen Bezug zur Bevölkerung. Andererseits würde die Integration von Kämpfer*innen in den kolumbianischen Staat sowohl eine berufliche Perspektive für die Guerilla bieten als auch ein starkes Signal der Versöhnung senden. Diese Option wurde aber durch die Kampagne der Gegner des Abkommens unmöglich, da die Bevölkerung durch massive Falschinformation gegen diese Lösung polarisiert wurde. Überhaupt scheint sich der Staat nur begrenzt seiner Verantwortung zu stellen. So wurde unmittelbar vor der Unterzeichnung des neuen Abkommens ein Passus gestrichen, der die Befehlsverantwortung der Militärhierarchie etabliert hätte. Demzufolge wären beispielsweise Offiziere im Ruhestand für die Taten der ihnen unterstellten Ränge verantwortlich gewesen.
Dieser Punkt findet sich auch in der Kritik wieder, die der Journalist Juan David Ortiz Franco an dem neuen Friedensabkommen übt: „Das neue Abkommen behandelt eine zentrale Frage nicht, die meiner Meinung nach von größter Bedeutung ist und die mit den objektiven Gründen des Konflikts in Kolumbien zu tun hat. Dies ist die Bedeutung, die dritten Parteien in diesem Konflikt zukommt. Also solchen, die nicht unmittelbar am Kampf beteiligt waren, die aber von höchster Bedeutung für die Aktionen von bewaffneten Gruppen in Kolumbien waren. Diese Auslassung wird keine wirkliche Aufarbeitung der Verbrechen erlauben, die im Interesse von ökonomischen und politischen Eliten durch die bewaffneten Akteure verübt wurden.“
Ein Punkt, der die Probleme des neuen Abkommens wohl am besten verdeutlicht, betrifft die Gleichstellung von  LGBT-Gemeinschaften. Auf Drängen der evangelikalischen Kirchen wurde der explizite Genderfokus des ersten Abkommens als Angriff auf die Familie abgelehnt. LGBT-Rechte werden nun nicht mehr konkret benannt. Vielmehr wird die traditionelle Familie zum Nukleus der Gesellschaft erklärt. Zwar war dieser Diskurs keine Konfliktlinie, an der sich der Krieg zwischen FARC-EP und Regierung entwickelte. Jedoch zeigte die prominente Positionierung dieses Diskurses im ursprünglichen Friedensabkommen den Willen auf wirklichen gesellschaftlichen Wandel. Dass dieser Diskurs nun den konservativen Kräften zum Opfer gefallen ist, versinnbildlicht die mangelnde Bereitschaft dieser Bevölkerungsteile, auch die ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse wirklich zu ändern, die der Motor der Gewalt in Kolumbien sind. Solange sich aber kein gesellschaftlicher Konsens bezüglich der dringend notwendigen Veränderungen in Kolumbien bildet, werden die dem Konflikt zugrundeliegenden Faktoren weiterhin die diversen Gewaltdynamiken im Land befeuern.

SOZIALE BEWEGUNGEN RUFEN ZUM DIALOG AUF

Nach der Verhandlung ist vor der Verhandlung, nun ist die ELN dran. Beteiligung der Zivilgesellschaft, Demokratie für den Frieden, Veränderungen für den Frieden, Opferentschädigung, Ende des bewaffneten Konfliktes und Implementierung des Abkommens sind die Punkte der Agenda im Friedensprozess zwischen der Regierung Santos und der ELN.  Die öffentlichen  Verhandlungen sollten am 27. Oktober in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito beginnen, wurden jedoch seitens der Regierung auf Eis gelegt. An diesem Tag hätte auch der Politiker Odín Sáchez freigelassen werden sollen, der vor sechs Monaten von der ELN entführt worden war. Die Unterhändler der ELN verwehrten die Freilassung, denn sie sei keine explizite Bedingung für den Auftakt der Gespräche gewesen.
Inspiriert von der kubanischen Revolution und der Befreiungstheologie wurde die ELN 1964 gegründet. Jetziger Oberbefehlshaber ist Nicolás Rodríguez Bautista, alias Gabino, der sich 2013 bereit erklärte, mit der Regierung Juan Manuel Santos’ über den Frieden zu verhandeln.  In der 52-jährigen Geschichte der ELN gab es zwar mehrere Annäherungsversuche für einen Friedensprozess, doch wurden nur zwei Mal konkrete Verhandlungen geführt. Die ELN ist mit 2000 Kämpfer*innen wesentlich kleiner als die FARC, und ist vor allem im Südwesten und Nordwesten Kolumbiens sowie an den Grenzen zu Venezuela präsent. Viel mehr noch als die FARC finanziert die ELN ihren bewaffneten Aufstand mit illegalem Bergbau und Entführungen nationaler und internationaler Persönlichkeiten.
Im Gegensatz zu den Errungenschaften im Friedensprozess mit der FARC will Präsident Santos auf eine Waffenruhe mit der ELN oder eine neue internationale Beobachtungskmission verzichten.  Auf die Forderung sozialer Bewegungen, die Waffenruhe mit der FARC auf die ELN auszuweiten, um die andauernden Gefechte zwischen den Streitkräften und der Guerillaorganisation zu beenden, wird der Präsident also nicht eingehen. Anfang 2016 hatte die zweitgrößte Guerilla des Landes angefangen Gebiete zu erobern, aus denen sich die FARC gerade zurückzogen hatte.
Die Volksbefragung des 2. Oktobers über den Frieden mit der FARC hat unter anderem gezeigt, dass der Konflikt nicht beendet ist, und dass es ohne die Unterstützung der Bevölkerung unmöglich sein wird, ihn gesellschaftlich und politisch zu lösen. Die Debatten um den Frieden mit der FARC deckten zwar viele Bereiche ab, doch der Austausch von Ideen beschränke sich auf politische und akademische Räume und blieb der kolumbianischen Bevölkerung wegen mangelnder Beteiligung der Zivilgesellschaft fremd. Angesichts dessen sind die sozialen Bewegungen besorgt, dass sich die Friedensvorstellung des Präsidenten Juan Manuel Santos in dem Prozess mit der ELN durchsetzt und somit grundlegende Faktoren sozialer Gerechtigkeit ausgeschlossen werden.
Der Congreso de los Pueblos, die nationalen, indigenen Organisation Kolumbiens (ONIC), Casa de la Mujer und weitere 40 Organisationen und soziale Bewegungen haben dafür seit November 2015 den “nationalen Tisch für den Frieden” gegründet, der als Plattform für einen umfassenderen Dialog bei der Verhandlungen mit den Aufständischen und der Regierung fungieren soll. Die Teilnahme der Bevölkerung „ist eine notwendige Bedingung auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden“  sagen die Organisationen. Konzipiert wurde der soziale Tisch für den Frieden als Raum, in dem mit der Regierung Themen verhandelt werden können, die im Gespräch mit den Aufständischen nicht besprochen wurden. „Die  Beteiligung sollte zur Transformation des Landes beitragen. Sie soll garantieren, dass die sozialen Organisationen, entsprechend der unterschiedlichen Realitäten des Landes, ein integraler Bestandteil der Implementierung der Abkommen werden“, hieß es in dem jüngsten Kommuniqué auf der Webseite der Initiative. Die Organisationen haben dafür „eine eigene historische Agenda über die nötigen Änderungen für den Frieden“ entworfen. Verhandlungen sollen demnach auf sozialen und politischen Aspekten basieren, die parallel und in Zusammenarbeit mit der Regierung und den Aufständischen stattfinden soll. Obwohl 63 Prozent der Wahlberechtigten am 2. Oktober nicht an die Urne gingen um das Abkommen mit der FARC zu unterstützen, haben seitdem viele Menschen in den wichtigsten kolumbianischen Städten für die sofortige Implementierung des Abkommens demonstriert. Die Haltung der Bevölkerung gegenüber den Aufständischen hat sich dadurch positiv gewandelt.
Es ist dennoch besorgniserregend, dass paramilitärische Gruppierungen weitere Gebiete von Indigenen im Südwesten des Landes eingenommen haben. Trotz der Unterschrift und Ratifizierung des Friedensvertrages mit der FARC werden weiter Aktivist*innen getötet. Seit Beginn der Friedensgespräche mit den Aufständischen sind 124 Aktivist*innen der linken Bewegung Marcha Patriótica (MP) ermordet worden. Darüber hinaus meldeten Sprecher*innen sozialer Bewegungen und linke Senator*innen 25 Attentate, 13 Fälle von Folter, 93 verletzte Personen bei Demonstrationen und dutzende willkürliche Verhaftungen von Mitgliedern der MP. Der Congreso de los Pueblos meldete seinerseits neun Morde, zwei Attentate, 13 Drohungen und vier willkürliche Verhaftungen an seinen Mitglieder. Diese repressiven Maßnahmen drohen das Vertrauen in den  mit der ELN zu untergraben. Indessen wächst die Empörung vor allem unter denjenigen, die die politische Lösung des Konflikts aktiv unterstützen.

VERSPIELTE CHANCE?

Das ‚Nein‘ zu dem Friedensvertrag zwischen der Regierung und den bewaffneten Streikkräften Kolumbiens (FARC-EP) löste weltweit Bestürzung aus. Und angesichts des unerwarteten Ausgangs herrscht in Kolumbien jetzt vor allem Unsicherheit: Ist der Friedensprozess gescheitert oder bietet das ‚Nein‘ eine neue Chance für einen breiteren nationalen Konsens? In der kolumbianischen Bevölkerung gehen die Meinungen auseinander.

Der drohende erneute Griff zu den Waffen scheint zunächst abgewendet. Kolumbiens Präsident Juan Manuel Santos hat die Waffenruhe mit der FARC-EP bis zum Ende des Jahres verlängert. Sowohl die Regierung als auch die Delegation der Guerilla in Havanna bemühen sich weiterhin um ein Gelingen des Friedensprozesses. Dazu sollen die Bedingungen des Vertrags neu verhandelt werden, um einen breiteren Rückhalt in der Bevölkerung zu erreichen.
Die zentrale Figur der Kampagne gegen den Friedensvertrag, jetziger Senator und Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez, soll nun an den Verhandlungen beteiligt werden. Zudem hat die Regierung wenige Tage nach dem Plebiszit auch offizielle Verhandlungen mit der nationalen Befreiungsarmee (ELN), der zweitgrößten Guerilla im Land, aufgenommen. Dies wird als wichtiger Schritt hin zu einem dauerhaften Friedensprozess gewertet. Beobachter*innen hatten bereits zu Beginn der Verhandlungen zwischen FARC-EP und Regierung kritisiert, dass ein nachhaltiger Frieden und ein Ende der Gewalt ohne die Einbindung der ELN in die Verhandlungen nicht zu erreichen ist.
Jedoch birgt die Einbindung Uribes auch eine neue Bedrohung für den Erfolg des Friedensprozesses. Gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppierungen wie den konservativen Eliten aus den ländlichen Gebieten Kolumbiens und den evangelikalen Bewegungen führte er einen regelrechten Propagandafeldzug gegen den Friedensvertrag. Zu den Argumenten gehörten neben der durchaus nachvollziehbaren Kritik an der Sonderjustiz für Ex-Kombattant*innen auch fragwürdige Behauptungen bis hin zu eklatanten Lügen. So machten besonders die evangelikalen Kirchen Stimmung gegen die im Vertrag verankerte Gleichstellung der LGBTI-Gemeinschaft und stilisierten den Gender-Diskurs zu einer Ideologie, der sich das kolumbianische Volk zu unterwerfen habe.
Uribe selbst beschwor ebenso immer wieder das Gespenst des drohenden „Chavismus“ herauf und mahnte, die Kolumbianer*innen würden venezolanische Verhältnisse erwarten, sollte die linksgerichtete FARC-EP das im Friedensvertrag zugesicherte Recht auf politische Partizipation erhalten. Der Ex-Präsident zielte damit auf die Angst vor politischer und ökonomischer Instabilität in der Bevölkerung, da Kolumbiens Nachbar Venezuela seit Monaten eine der schwersten Krisen seiner Geschichte erlebt.
Angesichts der Polarisierung im Land und der Unsicherheit gegenüber der weiteren Entwicklung des Friedensprozesses stellt sich die Frage, wie die Bevölkerung auf das ‚Nein‘ reagiert und welche Hoffnungen und Ängste die Kolumbianer*innen mit den aktuellen Entwicklungen verbinden. Die – im wahrsten Sinne des Wortes – Unsicherheit im Land wird deutlich, wenn man mit Aktivist*innen spricht, die in den größeren Städten die Kampagne für den Friedensvertrag unterstützten. Da in den urbanen Zentren im Land mit Ausnahme der Hauptstadt Bogotá das ‚Nein‘ gewonnen hatte, sehen sie sich teilweise massiven Anfeindungen ausgesetzt. Eine Studentin in Bogotá, deren Familie in Medellín über Wochen für das ‚Ja‘ geworben hat, ist seit dem Plebiszit am Boden zerstört – nicht nur aufgrund der „vergebenen historischen Chance auf Frieden“, sondern auch, weil sie und ihre Familie seit dem Morddrohungen erhalten. Aus diesem Grund will sie ihren Namen in keiner Zeitung lesen.
Die indigenen Minderheiten im Land sind ebenso um die Sicherheit in ihren Gemeinden besorgt. Die häufig in Selbstverwaltung lebenden Gemeinschaften waren in der Vergangenheit immer wieder zwischen die Fronten geraten. Um die Menschen in ihren Gebieten vor den Auseinandersetzungen zwischen Guerilla, Paramilitärs und Militär zu schützen, versuchten sogenannte Guardias Indigenas (Indigene Wachen) im Konfliktfall die Kampfhandlungen von den bewohnten Gebieten fernzuhalten und die Menschen in Schulen oder Kirchen in Sicherheit zu bringen. In den letzten Monaten mussten sie dieser lebensbedrohlichen und extrem komplizierten Aufgabe nicht mehr nachkommen. Jetzt herrscht  die Angst, dass sie bald wieder ihr Leben für ihre Gemeinschaft aufs Spiel setzen müssen.
Dieser asymmetrische Charakter des Konflikts, dem in großer Zahl unbeteiligte Zivilist*innen, Aktivist*innen und auch Politiker*innen zum Opfer fallen, ist auch ein essentieller Teil der traumatischen Geschichte der Unión Patriótica (UP). Die Partei wurde 1985 als politische Exit-Option von demobilisierten Guerillakämpfer*innen gegründet. Die zu Beginn beachtlichen politischen Erfolge der Partei gingen jedoch in einem regelrechten Massenmord an ihren Mitgliedern unter. Zwischen 3.000 und 5.000 Personen wurden von paramilitärischen Todesschwadronen, Drogenhändlern und vom Militär selbst ermordet, teilweise im Rahmen blutiger Massaker mit bis zu 43 Toten.
Dementsprechend präsent waren die aktuellen Entwicklungen rund um den Friedensprozess auf dem jährlichen Treffen der Opfer am 21. Oktober in Bogotá. Dabei äußerte sich die Sorge um die Fortdauer des Prozesses in einem klaren Appell von allen Sprecher*innen an die Regierung Santos, die Friedensverhandlungen fortzusetzen und  die Sicherheit der demobilisierten Kämpfer*innen zu garantieren. Ex-Präsident Uribe, der zwischen 2003 und 2006 die Demobilisierung der hauptsächlich für die Massaker an den UP-Mitgliedern verantwortlichen Paramilitärs verhandelte, wurde dabei die Torpedierung des Friedens und seine auf Falschinformationen beruhende Kampagne vorgeworfen.
Viel Lob dagegen fand die „besonnene und dem Frieden zugewandte Reaktion der Unterhändler*innen in Havanna“. Eric Sottas, Direktor der Weltorganisation gegen Folter (OMCT) wies darauf hin, dass man „die kleine Minderheit des ‚Nein‘-Lagers, die einen ohnehin unmöglichen militärischen Sieg verfolgt, isolieren und durch die Annäherung an die übrigen Vertreter*innen dieses Lagers die Chance auf einen besseren Friedensvertrag realisieren muss“.
Eine ähnliche positive Perspektive vertritt auch Eduardo Pizarro Leon Gómez, heute kolumbianischer Botschafter in den Niederlanden. Pizarro war von 2005 bis 2009 Vorsitzender der Nationalen Kommission für Reparation und Aussöhnung, die die rechtliche Aufarbeitung des Paramilitarismus in Kolumbien überwachte. Zwei seiner Brüder kämpften für die Guerilla und waren von Paramilitärs ermordet worden, nachdem sie die Waffen niedergelegt hatten. „Das mit 50.000 Stimmen Vorsprung denkbar knappe ‚Nein‘ zum Friedensabkommen war zwar nicht der optimale Ausgang, stellt aber dennoch eine neue Chance dar“, so der Botschafter. „Dieses suboptimale Ergebnis zwingt uns dazu, einen nationalen Konsens zu finden. Hätte das ‚Ja‘ so knapp gesiegt, wäre dies dagegen ein katastrophaler Ausgang gewesen, da der Friedensvertrag so keine breite Legitimierung gehabt hätte, diese aber auch nicht durch Neuverhandlungen hätte erreicht werden können.“
Seine Deutung der geringen Wahlbeteiligung von knapp über 37 Prozent unterscheidet sich auch von der zahlreicher anderer Beobachter*innen: „Die Wahlbeteiligung war außerordentlich hoch. Da Kolumbien historisch ein enthaltsames Land ist, was Wahlen betrifft, war der Plebiszit geradezu dramatisch. Mit dieser Wahl wurde nicht über politische Ämter abgestimmt, weswegen es kaum zu einer Mobilisierung der Wählerschaft seitens der Politiker kam. Es war vielmehr eine reine Meinungswahl, bei der die Zukunft der Politiker nicht auf dem Spiel stand. Das war ein außerordentlicher Tag und ein Triumph für die kolumbianische Demokratie, der das Land mitten in einer politisierten Debatte zurückgelassen hat.“ Seine Einschätzung für die Zukunft des Landes ist ähnlich positiv. Er verweist auf das Potenzial, das mit dem Freiwerden von Kapazitäten im Sicherheitsapparat verbunden ist, sobald dieser nicht mehr durch den Konflikt mit FARC-EP und ELN gebunden ist. Kolumbien verfügt dank der cirka 6 Milliarden Dollar US-Militärhilfe, die im Rahmen des Plan Colombia ins Land geflossen sind, mit über 600.000 Mann über den größten Militärapparat Lateinamerikas.
Eine andere Position vertritt Jorge Gómez, einer der Gründer der Menschenrechtsorganisation Reiniciar, die unter anderem den jährlichen Kongress der UP-Opfer organisiert. Seiner Meinung nach birgt die Polarisierung der kolumbianischen Gesellschaft durch die aggressive Propaganda des ‚Nein‘-Lagers die Gefahr neuer Gewalt. „Aufgrund der Geschichte des Landes, die seit Jahrzehnten von politischer Gewalt geprägt wird, ist Kolumbien anfällig für Gewaltdynamiken, die aus politischen Disputen erwachsen sind“, so Gómez.
Darüber hinaus sieht er noch eine weitere Gefahr, die mit dem Friedensprozess verbunden ist: Seit dem offiziellen Ende der Demobilisierung der Paramilitärs im August 2006 haben sich zahlreiche neue bewaffnete Gruppen im Land gebildet und den zuvor von den Paramilitärs kontrollierten Drogenhandel unter sich aufgeteilt. Die Gruppen ständen bereits in den Startlöchern, um das Vakuum zu füllen, das eine Demobilisierung der FARC-EP hinterlässt. „Diese Gruppen dringen in die ehemals von der FARC-EP kontrollieren Gemeinden vor, mit den Worten ‚Wir sind gekommen, um zu bleiben‘“, warnt der Menschenrechtsaktivist.
Genau diese Befürchtung bestätigen auch Vertreter*innen der UP aus Urabá. Die für den Drogenhandel strategisch wichtige Region im Nordwesten des Landes liegt an der Grenze zu Panama. In der früheren Hochburg der Vereinten Bürgerwehren Kolumbiens (AUC) herrscht heute mit den Urabeños eine Gruppe, die sich nur im Namen von den früheren AUC-Gruppen in der Region unterscheidet. Sie kontrolliert die Bevölkerung und so gut wie jede ökonomische Aktivität. Ihre Mitglieder haben wichtige Positionen in der Gemeinschaft besetzt und pflegen enge Beziehungen zu den dortigen Eliten. Diese sind häufig Großgrundbesitzer*innen, Drogenbosse und lokale Politiker*innen, die durch die im Friedensvertrag verankerten politischen und sozialen Veränderungen nur verlieren würden.
„Polizei, Militär, Politiker, Großgrundbesitzer – sie alle stecken unter einer Decke mit den Urabeños.“  – so eine Aktivistin, die wegen der gefährlichen Sicherheitslage anonym bleiben möchte. „Ein Frieden mit der FARC-EP hat keine Bedeutung für uns, da er nichts an den bestehenden Verhältnissen in unseren Gemeinden verändern würde. Die Urabeños warten bereits darauf, in die Gebiete vordringen zu können, die zurzeit noch von der Guerilla kontrolliert werden“.
Und darin liegt das tragische der Ablehnung des Friedensvertrags: Ein offizielles Ende des Konfliktes zwischen FARC-EP und Regierung würde bestenfalls einen Teil der Gewaltdynamik in Kolumbien zum Stillstand bringen. Viel dramatischer ist die verpasste Chance auf einen politischen und sozialen Wandel im Land, den der Friedensvertrag in seiner ursprünglichen Form festschrieb.
Durch die Neuverhandlung des Vertrages und die Einbeziehung der konservativen Kräfte um Ex-Präsidenten Uribe sind zahlreiche Projekte wie die dringend notwendige Landreform, die Öffnung des politischen Systems für linke Positionen und die Ausdehnung der Versorgung mit öffentlichen Gütern in die ländlichen Gebiete in Gefahr. Ohne diesen Wandel werden Gruppen wie die Urabeños weiterhin in der Lage sein, gemeinsam mit den lokalen Eliten die Bevölkerung durch Gewalt zu kontrollieren.
Auch die Perspektive, dass sich der gesamte Sicherheitsapparat nach der Demobilisierung von FARC-EP und ELN auf die Verfolgung von Gruppen wie den Urabeños konzentrieren kann, scheint wenig Hoffnung auf eine Verringerung der Gewalt im Land zu geben. Zwar können kriminelle Gruppen im Gegensatz zur politisch motivierten Guerilla durch eine strafrechtliche Verfolgung bekämpft werden. Die militarisierten Strategien des kolumbianischen Sicherheitsapparates in Kombination mit der grassierenden Korruption und den engen Verbindungen zwischen Drogenhändler*innen, lokalen Eliten und Politiker*innen werden aber bestenfalls nur zu einer kurzfristigen Verdrängung von Gruppen wie den Urabeños in den Untergrund führen.
Während die Guerilla uniformiert und vor allem in dünn besiedelten Gebieten aktiv ist, sind die Mitglieder der neuen bewaffneten Gruppen nur schwer von der Zivilbevölkerung zu unterscheiden und in beinahe allen Teilen des Landes aktiv. Sollte das Militär und die militarisierten Polizeieinheiten gegen diese Gruppen vorgehen, wird die asymmetrische Gewalt des Konfliktes um ein Vielfaches zunehmen und erneut besonders Zivilbevölkerung und Aktivist*innen treffen.
Wo also steht Kolumbien nach dem gescheiterten Versuch, einige der grundlegenden Ursachen für den bewaffneten Konflikt im Land durch einen Friedensvertrag und soziale wie politische Veränderungen zu neutralisieren? Präsident Santos hat trotz des ‚Neins‘ im Plebiszits den Friedensnobelpreis erhalten, die Verhandlungen in Havanna gehen weiter und mit dem ELN und Ex-Präsident Uribe werden nun weitere wichtige Partner in den Prozess mit eingebunden.
Gleichzeitig hat US-Außenminister John Kerry am 7. Oktober Uribe per Telefon wissen lassen, dass die USA weiterhin auf dessen Dialogbereitschaft und Engagement für den Frieden zählen. Dies deutet darauf hin, dass die Regierung von US-Präsident Barack Obama hinter den Kulissen Druck auf Uribe aufbaut um zu verhindern, dass dieser den Friedensprozess blockiert. Immerhin ist Kolumbien seit dem Beginn von Plan Colombia 2000 und den Milliarden von Dollar an Militärhilfe ein enger Verbündeter der USA im „War on Drugs“ und im „War on Terror“. Dass die USA mit dem Ende des bewaffneten Konflikts mit der FARC-EP zumindest formell einen partiellen „Erfolg“ ihrer Strategien verbuchen können, ist für den angeschlagenen Ruf der Weltmacht natürlich von großem Interesse. Ob dieser Druck von internationaler Seite ausreicht, um den dringend notwendigen politischen und sozialen Wandel in Kolumbien umzusetzen, bleibt abzuwarten. Gleiches gilt auch für die Hoffnungen, die viele in die Ausdehnung der Verhandlungen setzen. Sicher ist aber, dass solange paramilitärische Nachfolgeorganisationen wie die Urabeños weiterhin große Teile des kolumbianischen Territoriums kontrollieren und mit Gewalt gegen jeden gesellschaftlichen Wandel vorgehen, das Land nicht zur Ruhe kommen wird.

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