,,Die Wahrheit zu erfahren ist sehr wichtig”

(Foto: MAFAPO)

Was ist ein falso positivo? Ist diese Bezeichnung dem Sachverhalt angemessen?

Der Begriff wird innerhalb der Armee verwendet und bezeichnet im Kampf Getötete. Ein positivo meint eine eliminierte Person, die in diesem Fall der Guerilla zugeordnet wurde. Da unsere Verwandten aber keine Guerilleros waren, kam es zur Bezeichnung falsos positivos. Manchmal wird auch von außergerichtlicher Hinrichtung gesprochen, aber auch das ist nicht der richtige Begriff. Die JEP spricht von Toten, die unrechtmäßig als Opfer eines Kampfes dargestellt wurden, und ich denke, das trifft den Sachverhalt am besten.

Wie kamen Sie zur Organisation MAFAPO? Über das Schicksal ihres Bruders, dessen Tod als Folge eines Kampfes dargestellt wurde?

Ja. Mein Bruder Jaime verschwand am 10. August 2008 und wurde zwei Tage später tot aufgefunden. Noch während ich ihn suchte, sah ich in den Nachrichten, was mit den jungen Leuten von Soacha geschehen war. Das hat mich tief erschüttert. Ich fand meinen Bruder am 6. Oktober 2008 in der Rechtsmedizin in Bogotá. Ich bat darum, die dortigen Fälle zu sehen, die in Ocaña, im Departamento Norte de Santander aufgefunden worden waren. Sie gaben mir eine Liste von elf Leichen, die nicht identifiziert worden waren. Die meisten waren unter 32 Jahren, es gab nur ein Opfer von geschätzten 40 oder 45 Jahren. Sie zeigten mir Bilder dieser Leiche und – was für ein Schock! – es war Jaime.

Gab es in der Rechtsmedizin Auskünfte über den Hintergrund von Jaimes Tod?

Sie fragten mich, ob er in der Guerilla gewesen sei, weil er in Ocaña als Guerillakämpfer geführt worden war. Als sie mir das sagten, erinnerte ich mich an Soacha und das war furchtbar. Im November 2008 fuhr ich nach Soacha, um Kontakt mit den Müttern der dort Verschwundenen aufzunehmen. Mir war klar, dass man diese Vorgänge nicht verschweigen durfte. Ich musste dafür kämpfen zu beweisen, dass unsere Verwandten keine Guerilleros waren. Also fingen wir an, auf öffentlichen Plätzen zu demonstrieren und gingen in Schulen und Universitäten. Allmählich wurde klar, dass diese Verbrechen im ganzen Land stattgefunden hatten. Das gab uns mehr Kraft weiterzukämpfen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das war der Ursprung von MAFAPO.

Der Fall Soacha war bereits bekannt und bekam auch international zusätzliche Aufmerksamkeit, als die JEP die Zahl von insgesamt 6.402 Fällen bestätigte. Wie beurteilen Sie die Arbeit der JEP?

Wir waren anfangs dagegen, dass die JEP Fälle von falsos positivos behandelte, weil sie als Gerichtsbarkeit geschaffen worden war, die Kriegsverbrechen untersucht. Unsere Verwandten waren aber in keinem Krieg, sie kämpften nicht. Wir verstanden nicht, warum die JEP diese Fälle übernehmen sollte, und es gefiel uns nicht. Dann wurde uns klar, wie wichtig es ist, die Wahrheit zu kennen, zu wissen, was passiert ist, warum es passiert ist, und vor allem – und das war unser Motto – zu wissen, wer die Anweisungen gegeben hat. In der JEP hatten wir die Gelegenheit, die Aussagen der Beteiligten zu hören, was in der ordentlichen Justiz nicht der Fall ist. In den wenigen ordentlichen Gerichtsverhandlungen gab es nur wenig Verurteilungen. Die Angeklagten sagten nicht, was und wie es wirklich passiert war und warum sie es getan hatten. Für uns war es eine Genugtuung, das Ergebnis der JEP-Untersuchung zu erfahren, denn es zeigte, dass es sich um eine systematische Praxis handelte, die in gewisser Weise von einer staatlichen Politik gedeckt wurde.

Haben Sie das Gefühl, dass diejenigen, die vor der JEP erscheinen, zur Wahrheit beitragen?

Die Auftritte hochrangiger Armeekommandeure haben mich nicht wirklich überzeugt. Ich habe das Gefühl, dass da noch viel an Wahrheit fehlt. Ich sah, wie sie mit vorgefertigten Erklärungen in der Hand ankamen, um ihre Aussage zu machen. Die JEP hätte das nicht zulassen dürfen. Wenn ich meine Wahrheit sage, lese ich sie auch nicht vom Blatt ab. Einmal sagte uns ein Soldat, dass sie noch immer unter Anweisungen stünden. Dass sie zwar die Wahrheit sagen müssten, aber darauf zu achten hätten, wie man sie erzählt. Es gab auch die Aussagen eines anderen Generals, bei dem man merkte, dass viel Wahrheit darin steckte. Ich nahm Kontakt mit ihm auf. Zunächst hatte er Angst, aber dann traf er uns in Bogotá, in einem Workshop, den wir mit den Müttern von Soacha durchführten.

Und hat er offen geredet?

Ja. Er ist der erste Soldat, der mit uns zusammenarbeitet und wir werden mit ihm zu weiteren Veranstaltungen in die Regionen gehen. Es war hart, denn alles, was er erzählte, zwang die Mütter wieder, sich die schrecklichen Dinge anzuhören, die geschehen waren, aber ich denke, das ist Teil des Prozesses. Im Oktober werden wir das erste Treffen mit den Angehörigen von Opfern haben, in deren Fälle er verwickelt war. Es wäre interessant, wenn das Militär sich mit uns zusammensetzen würde, um ihren Teil zu dieser wichtigen Arbeit beizutragen. Wir können nicht bei Hass, Wut, Groll verharren.

Gibt es auch aussagekräftige Aussagen von Seiten der Paramilitärs?

Durchaus. Mehrere Paramilitärs, die ebenfalls vor der JEP aussagten, haben weitere Dinge zum Vorschein gebracht. Beispielsweise Salvatore Mancusos (ehemaliger Kommandant der paramilitä- rischen Gruppe AUC, Anm. d. Red.) Aussagen eigneten sich hervorragend, um mehr Fakten ans Licht zu bringen. Denn darum geht es: dass wir uns versöhnen und uns gegenseitig vergeben können, um für eine bessere Zukunft als Gesellschaft zu arbeiten, für die nächsten Generationen. Das ist es, wofür wir kämpfen.

Sie haben vor einigen Jahren an der Kampagne #QuienDioLaOrden (dt.: Wer hat den Befehl gegeben?) teilgenommen. Ich frage Sie heute: Wer hat den Befehl gegeben?

Wir sind fest davon überzeugt, dass die Anreize von Präsident Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) geschaffen wurden. Er gab die Anweisung, das Militär führte sie aus. Viele der Beteiligten haben gesagt, dass es Druck gab, Ergebnisse vorzuweisen, und damit meinten sie die Zahl der Getöteten. Je höher die Zahl, desto größer die Belohnungen, die sie bekamen. (Während der damaligen Regierung wurde ein Anreizprogramm für Armeeangehörige entwickelt: Die Soldaten, die die meisten Guerillerxs töteten, erhielten Beförderungen, Urlaubstage oder Geld, Anm. d. Red.). Jeder Kommandeur wollte, dass seine Einheit die erste war. Viele haben gesagt, dass General Mario Montoya Ergebnisse verlangte. Man kann also sagen, dass er den Befehl gegeben hat, weil er die Erfolge einforderte.

Auf der anderen Seite wissen wir dank der Ermittlungen der JEP, dass diese Praxis nicht erst mit der Uribe-Regierung begonnen hatte, sondern früher. Das wurde aber damals anders genannt. Wir können also nicht sagen, dass Álvaro Uribe der Erste war, der die Anweisung gegeben hat, aber in seiner Regierung stieg die Zahl der unrechtmäßigen Todesfälle stark an.

Am 30. Juni dieses Jahres gab es bereits Anhörungen für die Fälle von Dabeiba, Antioquia und am 18. und 19. September wird es welche für die Fälle von Yopal in Casanare geben. Wie erleben Sie diese Anhörungen?

Die Entwicklung dieser neuen Anhörungen zeigen, dass es sich um eine systematische Praxis handelte. Es ist sehr wichtig, diesen Horror aufzudecken, damit die Wahrheit ans Licht kommt, aber auch, damit so etwas nie wieder passiert. Wir waren bei den Anhörungen in den Regionen nicht anwesend, aber ich habe mehrmals darum gebeten, die Angehörigen der Opfer begleiten zu können. Diese Arbeit tut uns gut und es ist eine Genugtuung, wenn das Militär öffentlich zugibt, diese Verbrechen begangen zu haben. Damit erkennen sie an, dass unsere getöteten Angehörigen keine Guerilleros waren. Ich denke, mehr als jede Verurteilung gibt das den Opfern einen Teil ihrer Würde zurück. Das macht unsere Angehörigen nicht wieder lebendig, aber die Wahrheit zu erfahren ist sehr wichtig.

Wie wird die Arbeit von MAFAPO in der Zivilgesellschaft aufgenommen?

Es waren 15 Jahre des Kampfes, in denen diese Arbeit entwickelt wurde. Und es waren vor allem junge Menschen, die uns die Türen geöffnet haben, um auf unterschiedliche Weise in Schulen, an Universitäten und im öffentlichen Raum auf diese Tatsachen aufmerksam zu machen. Viele Menschen haben uns auf unterschiedliche Weise geholfen, diese Verbrechen sichtbar zu machen. Es waren auch vor allem junge Menschen, die den sozialen Aufstand im Jahr 2020 vorantrieben. Die Jugendlichen müssen weiterhin lernen, was über die Generationen hinweg geschehen ist, damit so etwas nie wieder passiert.

Die Arbeit, die Sie leisten, ist für die Förderung des Friedens von entscheidender Bedeutung, aber sie ist auch sehr schwierig. Wie kümmert ihr euch umeinander, damit ihr diesen Kampf nachhaltig fortsetzen könnt?

Jede Woche kommen wir im Centro de Memoria Histórica (dt. etwa: Zentrum der historischen Erinnerung) zusammen. Es gibt dort Treffen für Handarbeiten, Weben oder Malerei. Wir machen Siebdruck, Theater, wir kochen, arbeiten in den Gemüsegärten und pflanzen an. Diese Dinge helfen in gewisser Weise beim Heilen. Es sind Räume, in denen man teilt, lacht, weint. Dort im Centro de Memoria empfangen wir die Menschen, die uns besuchen: Studenten, Künstler, viele Menschen kommen. Es ist wichtig, die Geschichten über das, was in Kolumbien passiert ist, zu erfahren, nicht nur über die falsos positivos. Es ist ein offener Raum für die Opfer des Konflikts.

“WIR HABEN DAS UNDENKBARE ERREICHT”

In den vergangenen Monaten haben Sie als Sprecher der Initiative Voces de Paz die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) politisch repräsentiert. Wie ist diese Initiative entstanden?
Während der Friedensverhandlungen in Havanna haben die Vertreter der FARC und der kolumbianischen Regierung eine politische Übergangslösung vereinbart: Während die Guerilla noch bewaffnet war und formal als terroristische Vereinigung galt, durfte sie schon aus juristischen Gründen nicht politisch aktiv werden. Voces de Paz ist in diesem Zusammenhang als eine Verbindung zwischen den FARC und der Zivilgesellschaft entstanden. Wir sind sechs Repräsentanten, drei im Kongress und drei im Senat. Dabei ist es unsere Aufgabe, die Umsetzung der Bestimmungen zu beobachten und zu überwachen; wir dürfen beraten, sind aber nicht stimmberechtigt. Außerdem unterstützen wir die FARC bei ihrem Übergang ins politische Leben. Mit der Entwaffnung und dem Ende der Übergangsphase erhielten die FARC volle politische Rechte, sodass der Gründung einer eigenen Partei nichts mehr im Wege stand.

Nach dem Referendum, bei dem eine dünne Mehrheit der Kolumbianer*innen gegen das Abkommen stimmte, unterzeichneten der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos und der FARC-Anführer Rodrigo Londoño im November vergangenen Jahres eine überarbeitete Version. Wie haben Sie den Prozess seit Inkrafttreten der Bestimmungen erlebt?
Ich muss sagen, dass die vergangenen Monate sehr schwierig waren. Der ganze Prozess war leider von sehr vielen Verzögerungen und viel Unsicherheit geprägt. Dabei wird die Umsetzung die ganze Zeit von der rechten Opposition und dem Ex-Präsidenten Álvaro Uribe torpediert.

Welche konkreten Schwierigkeiten gab es?
Das Abkommen sah vor, dass sich die FARC-Kämpfer ab Anfang Dezember über sechs Monate hinweg in Übergangszonen auf ihr ziviles Leben vorbereiten. Die Guerilla erfüllte ihren Teil der Abmachungen und sammelte ihre Kämpfer in den geplanten Gebieten. Doch keine der Siedlungen war fertig, als die Kämpfer eintrafen. Selbst heute, fast acht Monate später, ist nicht einmal die Hälfte der Siedlungen fertiggestellt. Während der Bauarbeiten gab es verschiedene Probleme, unter anderem auch mit Korruption. Die ehemaligen Kämpfer lebten dort also unter schwierigen Bedingungen, teilweise waren sogar die gelieferten Nahrungsmittel bereits verwest.
Ein weiteres schwerwiegendes Problem ist die Umsetzung des Amnestiegesetzes, das bereits Ende vergangenen Jahres verabschiedet wurde: Viele ehemalige Rebellen befinden sich bis heute in Haft, sie wurden bislang weder freigelassen noch amnestiert.
Unsere größte Sorge sind jedoch die paramilitärischen Gruppen. In den vergangenen zwei Jahren, in denen nominell „Frieden“ herrschte, wurden über 160 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Seit Anfang des Jahres wurden mindestens acht ehemalige FARC-Kämpfer ermordet, die ihre Waffen bereits abgegeben hatten. Die Guerilla hat keine Waffen mehr und kann nicht auf ihre alten Verteidigungsmechanismen zurückgreifen. Diese Vorgänge erzeugen eine große Unsicherheit. Der Staat erfüllt seine Aufgabe, das Leben der Kolumbianer und eben auch der entwaffneten Guerilla-Kämpfer zu schützen, nicht. Die paramilitärischen Gruppen werden nicht effektiv bekämpft.

Was bedeutet das für die weitere Umsetzung des Abkommens?
Durch diese Probleme wurde der gesamte Friedensprozess verzögert – aber nicht aufgehalten. Im Kongress wurden bereits etwa 60 Prozent der Bestimmungen verabschiedet, es fehlen noch etwa zehn Reformen. Dazu gehört unter anderem auch das Gesetz für die Über­gangsjustiz sowie das Gesetz für die Landverteilung, das zentral im gesamten Friedens­prozess war. Die massive Konzentration des Landbesitzes und die damit verbundene poli­tische Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile waren und sind die Hauptursachen für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Wenn wir diese Reformen nicht angehen, wird die Gewalt auch nicht enden. Das Problem ist, dass die Gesetze im Grunde bis Ende dieses Jahres verabschiedet sein müssen – nächstes Jahr sind Wahlen und es ist offen, wie eine mögliche neue Regierung mit den Rechtsvorschriften umgehen wird. Die rechte Opposition lässt keine Zweifel zu, Álvaro Uribe hat schon vielfach verkündet, dass er den Friedensvertrag „in Fetzen reißen“ möchte.

Wie bewerten Sie aktuell die Stimmung in der Zivilbevölkerung bezüglich des Friedensprozesses?
Das Abkommen hat die Bevölkerung vergangenes Jahr sehr stark polarisiert. Man kann sagen, dass das halbe Land dafür, die andere Hälfte dagegen war. Diese Spannungen haben sich vor allem im Rahmen des Referendums zum Frie­densabkommen gezeigt. Und diese Situation hat es der rechten Opposition ermöglicht, Zweifel zu sähen sowie mit polemischen Äußerungen und Falschnachrichten auf Stimmenfang zu gehen. Dadurch werden die Wahlen nächstes Jahr im Grunde zu einer Art zweitem Friedensreferendum.
Wir haben allerdings beobachtet, dass sich die Lage insgesamt in den vergangenen Monaten eher entspannt hat. Die Menschen nehmen den Friedensprozess nicht mehr als zentrale Agenda in der Politik wahr.

Was für Auswirkungen hat die allgemeine Stimmung auf den Prozess?
Die Polarisierung ist schwächer geworden, das hat Vor- und Nachteile. Die symbolische Gewalt hat nachgelassen, der Hass und die Aufrufe zu Gewalt sind insgesamt weniger geworden. Der Nachteil ist jedoch, dass die politische Rolle des Abkommens insgesamt auch abgeschwächt wurde, die Menschen fordern die Umsetzung der Bestimmungen nicht mehr so vehement ein. Die Bevölkerung ist sich kaum der Tatsache bewusst, dass 90 Prozent der Bestimmungen aus dem Abkommen eigentlich nichts mit den FARC zu tun haben, vielmehr betreffen sie die Landrückgabe, Maßnahmen zur Bekämpfung der Korruption, Strategien zur Aufklärung der Verbrechen und zur Demokratisierung der politischen Prozesse. Nur etwa ein Zehntel der Bestimmungen beschäftigen sich wirklich mit den FARC, mit ihrer Wiedereingliederung, ihrer juristischen Situation.

Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Herausforderungen, mit denen der Friedensprozess aktuell konfrontiert wird?
Wir stehen gerade vor drei Herausforderungen: Erstens müssen das Abkommen und die ehemaligen Rebellen juristisch abgesichert werden, dazu gehört eine rasche Ratifizierung der fehlenden Reformen. Aktuell fehlen noch etwa zehn Reformen, darunter auch so zentrale wie das Gesetz zur Landrückgabe und das Gesetz für die Übergangsjustiz. Das Landgesetz ist wesentlich, da es die Ursachen des Konfliktes betrifft: die Landverteilung und die politische Exklusion weiter Bevölkerungsteile. Letzteres regelt den legalen Status der ehemaligen Kämpfer und ist dadurch eigentlich unverzichtbar.
Zweitens muss die körperliche Sicherheit der ehemaligen Rebellen garantiert werden. Jeden Tag werden Menschen bedroht und er­mor­det. Dadurch entsteht eine große Unsicherheit, die durch die fehlende ökonomische Absicherung, den dritten Punkt, noch verschärft wird. Die Mitglieder der FARC müssen schnellstmöglich in die Zivilgesellschaft integriert werden – gerade erhalten sie nicht einmal den vereinbarten monatlichen Geldbetrag, der noch unter dem Mindestlohn liegt. Diese Unsicherheiten verschärfen das Risiko, dass Teile der FARC sich nach alternativen Wegen umschauen und sich etwa anderen illegalen bewaffneten Gruppierungen anschließen.

Was ziehen Sie nach diesen Berichten für ein Fazit?
Der Friedensprozess war unglaublich kompliziert und wird auch weiterhin kompliziert bleiben. Allerdings habe ich den Eindruck, dass uns Kolumbianern noch gar nicht so richtig bewusst ist, welche Situation wir erleben: Wir haben gerade die Möglichkeit, ein Kapitel unserer Geschichte zu beenden, das schon vor vielen Jahren hätte beendet werden müssen. Wir haben etwas erreicht, was vor wenigen Jahren noch nicht einmal denkbar war. Die ehemaligen FARC-Rebellen haben heute die Möglichkeit, in Schulen und Universitäten zu gehen und ihre Ideen mit dem Wort zu verteidigen und dem Land ihre Version der Geschichte zu erklären. Und ich hoffe, dass diese Erfahrungen unser Land zum Positiven verändern werden, auch wenn es einige Zeit in Anspruch nimmt.

REVOLUTION OHNE WAFFEN

Foto: Presidencia de Colombia

Die Siedlung Mariana Páez im Bundesstaat Meta, 27. Juni 2017 um 10 Uhr. Hier soll heute enden, was vor 53 Jahren in Marquetalia begann: Die Revolutionären Bewaffneten Streitkräfte Kolumbiens (FARC) übergeben ihre letzten Waffen an die Sonderkommission der Vereinten Nationen (UNO). Damit ist der Entwaffnungs- und Übergangsprozess, der im vergangenen Dezember nach Abschluss der Friedensverhandlungen begann, offiziell beendet.

Bereits am 25. Juni zertifizierten die UNO-Vertreter*innen die Entgegennahme von 7.132 Schusswaffen, dazu tausende weiterer Kleinwaffen wie Sprengkörper. Zur feierlichen Zeremonie sind Rodrigo Londoño alias Timoleón Jiménez, Oberster Kommandant der FARC, und Juan Manuel Santos, Präsident Kolumbiens, nach Mariana Páez gereist. Die Siedlung ist mit 520 (ehemaligen) Guerilla-Kämpfer*innen die größte der 23 Übergangszonen, in denen sich die Mitglieder der FARC seit sieben Monaten auf ihren Übergang in das zivile Leben vorbereiten. Gleichzeitig ist Mariana Páez die Siedlung mit der schlechtesten Infrastruktur. Die Guerrillerxs leben weiterhin in von ihnen selbst zusammengezimmerten Hütten, die von der Regierung geplanten Gebäude sind noch nicht fertig. Statt kommunaler Versammlungsorte gibt es bislang nur Fundamente aus Zement.

Parallel zum Hauptakt in Mariana Páez finden weitere Übergaben in den FARC-Siedlungen Llanogrande (Antioquia), Pondores (La Guajira) und La Carmelita (Putumayo) statt. Die von der UNO-Sonderkommission konfiszierten Waffen sollen eingeschmolzen und zu drei Kunstwerken gegossen werden, die dann in Kolumbien, den Vereinigten Staaten und Kuba ein Zeichen gegen den Krieg setzen sollen. Nur einige wenige Guerrillerxs tragen nach dem Akt noch Waffen, um die Übergangszonen verteidigen zu können, solange sie noch bestehen.
Mit dem Moment der Waffenniederlegung beginnen die ehemaligen Kämpfer*innen offiziell ihr ziviles Leben und erhalten damit den legalen Status, der ihnen als „Angehörige einer Terrororganisation“ die vergangenen Jahrzehnte verwehrt war. Jairo Rivera, Sprecher der vorläufigen politischen FARC-Repräsentanz „Stimmen des Volkes“ (Voces del Pueblo), beschreibt: „Die Niederlegung der Waffen ist kein Akt des Todes, sondern des Lebens. Es ist kein Akt der Niederlage oder Resignation, sondern der Produktion von Zukunft“.

 „Dass von heute an Politik in Kolumbien ohne Gewalt ausgeübt werde!“

Rodrigo Londoño betritt das Podium in Mariana Páez und beschwört: „Dass von heute an Politik in Kolumbien ohne Gewalt ausgeübt werde!“ Damit schließt er den Kreis zu 1964, als der FARC-Gründer Manuel Marulanda schrieb: „Wir sind Revolutionäre, die für einen Wandel des Regimes kämpfen. Wir wollten für diesen Wandel auf die Weise kämpfen, die unser Volk am wenigsten schmerzt: auf friedliche, auf demokratische Art. Dieser Weg wurde uns jedoch mit Gewalt verwehrt“. Die Umstände hätten den FARC also keine Wahl gelassen: „Da wir Revolutionäre sind, die auf die eine oder andere Weise die historische Rolle spielen, die uns bestimmt ist, mussten wir also den Weg des bewaffneten Widerstandes wählen“, erklärten die Guerrillerxs in ihrem ersten Agrarprogramm.

So betont Londoño in seiner Rede, dass die FARC nun keinesfalls aufhören würden zu existieren – vielmehr würden sie zu ihrer ursprünglichen Idee des friedlichen und legalen Kampfes zurückkehren. Gleichzeitig bestärkt er die Entschlossenheit der FARC für den weiteren Verlauf des Friedensprozesses, kritisiert jedoch auch scharf die Regierung für die vielen Verzögerungen der letzten Monate: „Wir haben unsere Auflagen erfüllt und die Waffen abgegeben“, erklärt er und ergänzt: „Nun hoffen wir, dass der Staat auch seine erfüllt“.

Santos, der offenbar bei diesem Anlass nicht auf offene Kritik von Seiten der Guerilla vorbereitet war, legt in seiner Rede vor allem Wert auf die historische Rolle der Waffenniederlegung: „Das ist die beste Nachricht für Kolumbien in den letzten 50 Jahren“, sagt er. Gegen Ende betont er, nicht mit dem ökonomischen und politischen Modell der FARC einverstanden zu sein – er sei jedoch bereit, „ihr Recht, ihre Vorstellungen auszudrücken, mit aller Kraft zu verteidigen“.

Am 31. Juli endet der bilaterale Waffenstillstand, ab dem 1. August werden die Siedlungen von Übergangszonen zu „Territorien der Ausbildung und Wiedereingliederung“. Spätestens zu diesem Zeitpunkt gehen die Guerrillerxs in die Gerichtsbarkeit über. Entsprechend ihrer begangenen Akte fallen sie entweder unter das Amnestiegesetz oder unter die Regelungen der Übergangsjustiz (JEP, siehe LN 515). Zudem muss die Guerilla bis zu diesem Tag eine Liste all ihrer Besitztümer übergeben. Mit diesen Gütern sollen die Opfer des Konfliktes entschädigt werden. Parallel sollen so die Programme zur Wiedereingliederung der Guerrillerxs finanziert werden.

Am 10. Juli gewährte die Regierung mit dem Dekret 903 (2017) weiteren 3.252 ehemaligen Kämpfer*innen Amnestie für ihre politischen Akte. „Mit den drei bisher erlassenen Dekreten haben wir nun insgesamt 6.005 Personen amnestiert“, erklärt der Justizminister Enrique Gil Botero. Zudem hätten die Richter bislang 1.400 Personen von jeder Schuld freigesprochen.

Das Amnestiegesetz gilt jedoch nur für jene etwa 7.000 Guerrillerxs, die sich zum Zeitpunkt der Entwaffnung in den Übergangszonen befinden. Für Kämpfer*innen die zu diesem Zeitpunkt in Gefängnissen sind, gilt das Gesetz nicht. Zwar haben die FARC gleich zu Beginn der Übergangsphase 3.400 Inhaftierte als ihre Mitglieder identifiziert, von diesen wurden jedoch bislang nur 837 aus den Gefängnissen entlassen und in die Übergangszonen gebracht. Mehrere hundert Gefangene versuchten mit einem mehrtägigen Hungerstreik, ihren Transport in die Übergangszonen zu erzwingen – bislang ohne Erfolg.

Am kommenden 20. August werden die FARC bei ihrem letzten Kongress den Namen Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens das letzte Mal verwenden. Gleichzeitig wird an diesem Tag die politische Partei gegründet, welche die Bewegung „Stimmen des Volkes“, die die FARC bislang politisch repräsentiert, ersetzen soll. Bis zum 1. September will die UNO-Kommission sämtliche etwa 900 Verstecke der Guerilla identifiziert und geräumt haben. Spätestens dann wird der Binnenkonflikt zwischen Regierung und FARC offiziell beendet sein. Kolumbien steht dann jedoch vor der Herausforderung, auf politischem Wege eine Lösung für die ausufernde Gewalt paramilitärischer und krimineller Banden in den ehemaligen Gebieten der FARC zu finden. Auch der Friedensprozess mit der zweitgrößten Guerilla Nationale Volksbefreiungsarmee (ELN) ist noch lange nicht abgeschlossen.

FRAGWÜRDIGE ÜBERGANGSJUSTIZ

Die Vorfreude auf die Realisierung des Friedensprozesses zwischen der kolumbianischen Regierung und den Bewaffneten Streitkräften Kolumbiens (FARC) schwindet. Einen Monat vor dem Fristablauf zur Entwaffnung der 6.900 Guerillerxs am 1. Juni hagelt es Kritik an der vom Kongress beschlossenen Übergangsjustiz. Zu viele Änderungen wurden während der Diskussionen im Senat und Repräsentant*innenhaus vorgenommen; dazu verstärken die bereits bekannten, strittigen Begnadigungsanträge von ehemaligen Staatsbediensteten den Verdacht, dass die Sonderjustiz wegen der verhältnismäßig milden Strafen von fünf bis acht Jahren bei tiefgreifenden Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden könnte.

Die Sonderjustiz für den Frieden (JEP) ist der juristische Bestandteil des Integralen Systems für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung (SIVJRNR), das im fünften Punkt des Friedensabkommens zwischen der Regierung und den FARC vereinbart wurde. Das System koppelt an das im Dezember 2016 erlassene Amnestiegesetz an und ist die tragende Säule des Friedensprozesses. Es besteht aus juristischen Maßnahmen – ein Sondertribunal für den Frieden wird zur Zeit gegründet – sowie nicht-juristischen Instanzen, die zur Aufklärung der direkten und indirekten Verantwortung bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen und zur Wiedergutmachung für die Betroffenen beitragen sollen. Einen Schritt in Richtung Aufklärung machte die Regierung am 6. April, als Präsident Juan Manuel Santos die Wahrheitskommission und die Sondereinheit für die Suche nach den Verschwundenen, auch Bestandteile der SIVJRNR, per Dekret ins Leben rief. 25.000 Menschen werden nach Angaben des Nationalen Zentrums für Historische Erinnerung seit 1985 immer noch vermisst.

Teil der Maßnahmen für die Wiedergutmachung ist aber auch die Rückkehr der 7 Millionen Inlandsvertriebenen in ihre Heimatregionen. Trotz der im ersten Punkt des Friedensabkommens geplanten integralen Agrarreform, welche die Rückgabe von Land ermöglichen soll, bleibt noch unklar, wie sich das mit der kolumbianischen Verfassung und dem Wirtschaftsmodell der Lizenzvergabe von Megaprojekten mit der Wiedergutmachung für Vertriebene vereinbaren lässt. In dem Gesetzesentwurf des SIVJRNR wird dies nicht erwähnt.
Möglicherweise bleibt jedoch mit den 72 Änderungen des mit der Opposition vereinbarten Abkommens, das die Regierung und die FARC am 23. November unterzeichneten, der Weg zur weiteren Aufklärung versperrt. Die Zivilgesellschaft, die nach der ersten Unterzeichnung des Abkommens die JEP begrüßte (LN 510), kritisiert die nun vorgenommenen Änderungen an der Sonderjustiz.

Die Internationale Liga für Menschenrechte (FIDH), das Anwaltskollektiv CAJAR und das Komitee für die Verteidigung der Menschenrechte (CPDH) äußerten sich in einem gemeinsamen Kommuniqué empört darüber, dass die Möglichkeit gestrichen wurde, Zivilist*innen, die paramilitärische Gruppen direkt oder indirekt finanziert haben, zu verurteilen und zu bestrafen. Die JEP wird gegen diese Personen nur vorgehen können, wenn eine klare Verbindung zu einem Verbrechen gegen die Menschheit bewiesen wird. Ob sich das beispielsweise bei den 1.166 Massakern zurückverfolgen lässt, die von paramilitärischen Gruppierungen verübt wurden, ist mehr als fragwürdig. „Das wiederkehrende und alarmierende Phänomen, dass Unternehmen in umkämpften Gebieten die bewaffneten Gruppen unterstützt haben, obwohl sie über die schrecklichen Verbrechen Bescheid wussten, wird somit geleugnet“, äußerten sich die Organisationen in ihrem Schreiben. Gleichermaßen halten sie die festgelegten Einschränkungen hinsichtlich der Kommandoverantwortung bei den von Soldat*innen begangenen Menschenrechtsverletzungen für besorgniserregend. Laut der Pressemitteilung der Organisationen verstoße das nun ratifizierte Vorhaben gegen die Rechte der Opfer und das Römische Recht, wonach gegen hochrangige Generäl*innen juristisch ermittelt werden kann, wenn ihnen untergeordnete Soldat*innen Verbrechen begangen haben. Dafür ist es nicht nötig zu beweisen, „dass das Verbrechen im Zuständigkeitsbereich des Befehlshabers lag oder ob dieser fähig war, Operationen in den Gebieten vorzubereiten und durchzuführen, wo die Straftaten verübt worden sind“, erklärte die Staatsanwältin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Fatou Bensouda, in einem Artikel zu diesem Thema für die Zeitschrift Semana. Dem stimmen die oben genannten Organisationen zu. Sie sehen in diesem Gesetzesvorhaben „ein deutliches Hindernis für den wirklichen Erfolg von Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung in Kolumbien“.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen.

Von den bereits eingereichten Anträgen auf die Eröffnung der Fälle im Sondertribunal an das Sekretariat der JEP stammen 817 von Soldat*innen, Generäl*innen oder Politiker*innen. Viele davon machen die Schwierigkeiten deutlich, vor denen die Richter*innen der JEP stehen. Der jüngste Fall ist derjenige des Hackers Andres Sepúlveda, der 2014 als Berater des Präsidentschaftskandidaten des Uribismus, Oscar Iván Zuluaga, fungierte. Mitten im Wahlkampf spähte Sepúlveda die Friedensverhandlungen zwischen den FARC und der Regierung aus. Noch 2014 wurde Sepúlveda zu 10 Jahren Haft verurteilt, nun will er seinen Fall im JEP eröffnen lassen. Sein Argument: Ziel der Ausspähung sei es gewesen, eine Politik zur Fortsetzung des bewaffneten Konflikts zu etablieren, den Friedensprozess mit den FARC zu torpedieren und mit illegalen Mitteln zu verhindern, dass Präsident Santos an der Macht bleibe. So lautete die Formulierung in einer Pressemitteilung des Anwalts von Sepúlveda.

Opferorganisationen sind jedoch vor allem von der Aufnahme der Fälle der Generäle Jaime Humberto Uscátegui Ramírez und Jesús Armando Arias in die Sondergerichtsbarkeit alarmiert. Uscátegui wurde 2012 zu einer Freiheitsstrafe von 37 Jahren verurteilt, weil er die von der paramilitärischen AUC verübten Massaker in Mapiripán nicht verhinderte: 120 Paramilitärs stürmten 1997 das kleine Dorf im Verwaltungsbezirk Meta. Sie folterten, zerstückelten und enthaupteten mindestens 49 Menschen. Dagegen gelang es Armando Arias den von der Guerilla M-19 besetzten Justizpalast militärisch zurückzugewinnen, wobei 98 Menschen starben. Dafür wurden 2012 sowohl die M-19 als auch die Armee vom Verfassungsgericht Kolumbiens für schuldig erklärt und Arias zu 35 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt. Doch mit der Aufnahme dieser Fälle in die JEP könnten beide Generäle in den nächsten Wochen freigelassen werden, zumindest bis der Prozess in dem Sondertribunal für den Frieden anfängt.

Das sind nur einige der Fälle, welche Nachrichtenanalyst*innen und Menschenrechtsorganisationen die Stirn runzeln lassen. Die Empörung der Menschenrechtsorganisationen über das, was die ratifizierte Übergangsjustiz bewirkt hat, wuchs umso mehr, als ein Richter in Bogotá die Anhörung von zwölf Armeeangehörigen Ende März aussetzen wollte; gegen die Soldaten wurde wegen der willkürlichen Hinrichtung von jungen Männern, den sogenannten Soacha-Fällen, ermittelt.

Im Jahr 2008 verschwanden Dutzende junger Männer aus den ärmeren Bezirken Bogotás, sie wurden von Soldat*innen der Armee mit dem Versprechen auf Arbeit rekrutiert, 600 Kilometer von der Stadt entfernt ermordet und als militärische Erfolge im Kampf gegen die Guerillas präsentiert. Der Richter in Bogotá behauptete nun, dass er infolge der Ratifizierung der JEP nicht befugt sei, die Anklage fortzusetzen, weil dieser Fall nicht mehr in seinem Zuständigkeitsbereich liege. Doch am 4. April kippte die vorsitzende Richterin des Verwaltungsbezirks Cundinamarca diese Entscheidung wieder und verurteilte 21 weitere Angeklagte, darunter den Oberst Gabriel de Jesús Rincón, zu 46 Jahren Haft für den Mord an zwei Männern und fünf Jungen. „Die Opfer sind nicht im Kampf gefallen“, erklärte die Richterin, „die Militärs haben sich in einer kriminellen Bande organisiert“. Da die Motivation der Militärs von einem höheren Leistungslohn abhinge, müssten sie von der ordentlichen Justiz und nicht von der JEP aufgebarbeitet werden.

Diese Meinung teilen die Mütter von Soacha, die nach zehn Jahren des Wartens endlich wissen, was mit ihren Söhnen geschehen ist. „Zu erlauben, dass dieser Fall in das Sondergericht für den Frieden aufgenommen wird, wäre ein Geschenk an die Mörder meines Sohnes“, sagte Idaly Garcerá, Mutter von Diego Tamayo, einem der Ermordeten.

Der Gerichtsprozess ist jedoch längst nicht abgeschlossen. Offen bleibt, ob der Oberst und seine Männer den Fall vor das Sondergericht bringen werden. Trotz lautstarker Kritik von Menschenrechtsorganisationen, versicherte der Exekutivsekretär der JEP, Néstor Raúl Correa, dass diese Fälle durchaus vom Sondergericht aufgenommen werden könnten. Er berief sich dabei auf das Urteil des Verfassungsgerichts, das die Verbindung zwischen dem bewaffneten Konflikt und den willkürlichen Hinrichtungen feststellt. Das Gesetz für Frieden und Gerechtigkeit „ist kein Jahrmarkt, auf dem es Preise zu gewinnen gibt, und auch kein Basar, auf dem Freiheitsgeschenke verteilt werden, sondern es ist eine Struktur, die Rechte und Pflichten generiert“, unterstrich Correa.

Am 17. April wurden die ersten zwei Fälle von Militärs offiziell von der JEP angenommen; Elvin Andrés Caro und Luis Emiro Sierra Padilla, die 2010 in Medellín zu 30 Jahren Haft wegen des Mordes am Schüler Samir Enrique Díaz Galet verurteilt, kamen dadurch aus dem Gefängnis frei. „Mit der Abgabe der Fälle an eine noch nicht funktionierende Jurisdiktion setzen die Autoritäten die Anklagen auf unbestimmte Zeit aus“, kritisierten 33 nationale und internationale Organisationen, darunter Human Rights Watch, in einer Pressemitteilung. Doch welche Verbrechen haben mit dem Konflikt zu tun und welche nicht?

„Die noch nicht freigelassenen Guerillerxs sind verzweifelt und sehen große Widersprüchlichkeiten im Amnestiegesetz“, sagt Pastor Alape, eine der bekanntesten Figuren der Guerilla im Interview mit der Zeitung El Tiempo. „Es wurde eine Anzahl an Freilassungen vereinbart, die zur Zeit nicht erfüllt wird“, erklärte er. Nur 54 der 2.800 inhaftierten Guerillerxs, die vom Amnestiegesetz vom vergangenen Dezember profitieren sollten, weil sie keine Menschenrechtsverletzungen, sondern Verbrechen wie Rebellion, Volksverhetzung oder Diebstahl begangen haben, wurden bis jetzt aus dem Gefängnis entlassen. Einer der Freigelassenen, Luis Alberto Ortiz Cabezas, wurde allerdings am 17. April in Tumaco, Nariño, vom Narco-Paramilitär „Benol“ ermordet. „Solche Ereignisse untergraben das Vertrauen in die Sicherheitsgarantien für die begnadigten Guerilleros“, betonten die FARC in einer Stellungnahme. Es sei nicht hinzunehmen, dass inmitten des Friedensprozesses dessen Hauptfiguren vor den Augen der Weltgemeinschaft ermordet würden, ohne dass darauf reagiert werde. Und die Ex-Guerillerxs machten deutlich: „Hinsichtlich unserer strikten Einhaltung des Vereinbarten, verlangen wir von der Regierung, es ebenfalls zu tun.“

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